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„Ungarische Regierungsparteien gewinnen Zweidrittelmehrheit“ – Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung

Ungarn Heute 2018.04.10.

Unter dem Titel „Ungarische Regierungsparteien gewinnen Zweidrittelmehrheit“  wurde von Frank Spengler, Leiter des Auslandsbüros Ungarn der Konrad-Adenauer- Stiftung und Bence Bauer LL.M, Projektkoordinator eine ausführliche Analyse zu den ungarischen Wahlergebnissen vorgelegt. Hierbei ein Auszug der Analyse. Den Artikel in vollem Umfang finden Sie hier

Am 8. April 2018 fanden in Ungarn die achten Wahlen zur Ungarischen Nationalversammlung nach der Wende statt. Die Regierungsparteien „Bund Junger Demokraten–Ungarische Bürgerliche Union (Fidesz)“ und die „Christlich-Demokratische Volkspartei (KDNP)“ konnten nach aktuellem Stand zum dritten Mal in Folge eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit erringen. Mit 48,85% der Listenstimmen und 91 von 106 gewonnenen Direktmandaten bleiben die Regierungsparteien eindeutig stärkste politische Kraft. Die Ungarn bestätigten damit die Politik von Ministerpräsident Viktor Orbán.

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Die Entwicklungen im Vorfeld der Wahl

Obwohl alle Meinungsforschungsinstitute im Vorfeld der Wahl für die Regierungsparteien ein eindeutiges Ergebnis im Bereich 40%-50% vorhersagten, wiesen politische Beobachter darauf hin, dass die Wahl letztlich mit der Erststimme in den Wahlkreisen entschieden werde. Im ungarischen Wahlrecht überwiegt das Mehrheitswahlrecht. Da nur ein Wahlgang zur Verfügung stand, mussten die Wahlabsprachen der Parteien in den einzelnen Wahlkreisen vor der Wahl erfolgen. Dazu war die sehr heterogene Opposition aber nur in einigen Fällen in der Lage. Es fehlte letztlich eine gemeinsame Strategie, eine gemeinsame thematische oder personelle Alternative. Damit war bereits vor dem Urnengang zu erwarten, dass sich die oppositionellen Wählerstimmen wieder auf viele Parteien verteilen und letztlich die Regierungsparteien wieder gewinnen würden.

Mit der „Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP)“ und ihrer Abspaltung „Demokratische Koalition (DK)“ standen den Wählern des linken Meinungsspektrums im Wesentlichen wieder nur abgewählte ehemalige linke Regierungsparteien als Auswahl zur Verfügung. Diese erhofften sich eine möglichst große Fraktion, um dem jeweils anderen die Führerschaft auf der politisch linken Seite streitig zu machen. Die Parteien strebten zwar vor allem zur Mobilisierung der eigenen Wählerschaft den Regierungswechsel an, doch kam nicht nur in linken Kreisen immer wieder Skepsis auf, ob sie dieses Ziel wirklich ernsthaft angehen würden.

Daneben standen die seit 2010 neu im Parlament vertretenen Parteien „Bewegung für ein Bürgerliches Ungarn (Jobbik)“ und „Politik kann anders sein (LMP)“ für einen anderen Politikansatz. Beide wollten damit überzeugen, dass nur neue politische Kräfte auch einen Neuanfang umsetzen könnten. Jobbik versuchte sich von ihrer rechtsextremen Vergangenheit rhetorisch zu trennen und propagierte einen moderaten bürgerlichen Kurs. Die LMP definierte sich zwar offiziell als „grün-liberal“, verfolgte aber eine pragmatische Politik der bürgerlichen Mitte. Beide Parteien einte die Ablehnung sowohl der Politik von Fidesz/KDNP, als auch der von MSZP und DK, insbesondere auch wegen ihrer Gegnerschaft zu exponierten Personen dieser Parteien. Sie definierten sich als „Parteien des 21. Jahrhunderts“ und schlossen eine Zusammenarbeit nach der Wahl nicht grundsätzlich aus. Jobbik wurde von den Regierungsparteien schon immer als eine ernsthafte Herausforderung verstanden. Politische Analysten wiesen bereits vor der Wahl darauf hin, dass Jobbik mit einem konsequenten Kurs in Richtung politische Mitte sich als eine mögliche Alternative zu den Regierungsparteien präsentieren könnte, auch wenn sie damit das Risiko einginge, am rechten Parteirand dadurch Stimmen zu verlieren.

„Ungarn zuerst“ (Nekünk Magyarország az elsõ) war die Kernaussage der Wahlkampfstrategie von Fidesz/KDNP. Im Mittelpunkt stand dabei der Kampf gegen die Migration, die Ungarns Zukunft gefährde. Die Opposition würde unter der Führung des ungarischstämmigen US-Multimilliardärs George Soros einer Einwanderung Tür und Tor öffnen. Daher stehe das Land vor einer „Schicksalswahl“, so Fidesz. Die ehemalige „graue Eminenz“ von Fidesz und heute in offener Gegnerschaft zur Partei stehende Unternehmer Lajos Simicska griff ebenfalls in den Wahlkampf ein. In seiner Tageszeitung „Magyar Nemzet“ publizierte er in den letzten Wochen vor der Wahl immer neue „Enthüllungsgeschichten“ über angebliche Machtmissbrauchs- und Korruptionsfälle führender Politiker von Fidesz/KDNP.

„Taktisches“ Wahlverhalten

Der Wettstreit der Opposition um die richtige Wahlstrategie war groß. Zunächst vereinbarten die beiden linksorientierten MSZP und DK, in den Wahlkreisen nicht gegeneinander anzutreten. Jobbik und LMP stellten anfangs Kandidaten in allen 106 Wahlkreisen auf. Die Linken versuchten vor allem LMP davon zu überzeugen, sich gegenseitig die Wahlkreise zu überlassen. Mit Jobbik strebten sie jedoch keine Absprachen an. Jobbik lehnte es kategorisch ab, mit dem linken politischen Spektrum darüber Verhandlungen zu führen. LMP vertrat immer die Auffassung, dass eine Einigung aller relevanten Oppositionsparteien auf einen gemeinsamen Wahlkreiskandidaten gegen die Regierungsparteien notwendig wäre. Jedoch scheiterte der Versuch von LMP, alle Parteien an einen Tisch zu bringen. Stattdessen verhandelte sie jeweils separat mit Jobbik und den Linken. Jobbik zog keinen Kandidaten zurück. Die Partei ging wohl davon aus, dass in einem solchen Falle die eigenen Anhänger sich eher der Stimme enthalten oder Fidesz/KDNP wählen würden. Entscheidend sei eine möglichst hohe Wahlbeteiligung, so Jobbik. Bei einer Wahlbeteiligung von etwa 70% würde die Regierung ihre Mehrheit verfehlen. Dieser Analyse stimmten im Vorfeld auch einige Meinungsinstitute und politische Analysten zu. Nach dem Urnengang steht fest, dass diese Annahme falsch war.

Schließlich einigten sich die Parteien darauf, dass sie sich nicht einigen können. Nur in einigen Wahlkreisen kam es zu vereinzelten Rücktritten von LMP-Kandidaten zugunsten der MSZP sowie von Együtt und Jobbik. Einige chancenlose kleinere Parteien zogen ihre Kandidaten zurück. In ausgewählten Wahlkreisen überließen die Oppositionsparteien den Wahlkampf weitgehend der aussichtsreichsten Partei. So führte Jobbik in Budapest kaum einen nennenswerten Wahlkampf und die Linke überließ weite Landstriche in den ländlichen Regionen der ehemals rechtsradikalen Partei.

Da sich die Parteien nicht auf Wahlkreiskandidaten einigen konnten, gaben einige Organisationen der Bürgergesellschaft Wahlempfehlungen für den aussichtsreichsten Direktbewerber ab. Auch schaltete sich der neu gewählte Bürgermeister von Hódmezõvásárhely in die Debatte ein und präsentierte Wahlempfehlungen. Die Bewegung V18, ein Zusammenschluss ehemaliger Politiker aller politischer Couleur, unterstützte eine Kampagne für einen Regierungswechsel und identifizierte dafür eine Reihe von chancenreichen Kandidaten in rund der Hälfte der Wahlkreise. Die Wahlergebnisse lassen den Schluss zu, dass die Wähler sich keinesfalls so taktisch verhalten haben, wie es sich die Oppositionsparteien gewünschten hätten. Die Zerstrittenheit der Opposition, der viel zu späte Versuch, eine Abstimmung unter allen Oppositionsparteien vorzunehmen und die fehlenden charismatischen personellen Optionen sind nur einige Gründe, warum die Wähler weitgehend lieber entlang traditioneller Muster wählten.

Erste Reaktionen der Parteien

Ministerpräsident Viktor Orbán sprach noch in der Wahlnacht vor jubelnden Anhängern von einem „Schicksalssieg“. „Wir haben die Möglichkeit bekommen, Ungarn beschützen zu dürfen“, so der Parteivorsitzende von Fidesz. Er erklärte, dass das Land noch nicht dort sei, wo man es gerne hätte, aber Ungarn würde den von ihm selbst gewählten Weg gehen. „Wir werden diesen Weg gemeinsam gehen“, versprach Orbán. Zugleich mahnte er aber Bescheidenheit an. „Wir müssen jetzt bescheiden sein, denn wir haben Grund dazu“, so der Ministerpräsident. Am Schluss seiner kurzen Rede dankte er den Auslandsungarn, der polnischen Regierungspartei sowie Anhängern und Unterstützern.

In den Reihen der Opposition sorgte das Wahlergebnis für ein politisches Erdbeben. Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei Jobbik, Gábor Vona, bot seinen Rücktritt an. Trotz hoher Erwartungen vermochte es Vona nicht, seinen Wahlkreis Heves 2 direkt zu gewinnen, Jobbik errang nur den Wahlkreis Fejér 4. Die Partei stagnierte mit knapp einer Million Stimmen auf dem Niveau von 2014. Die Partei blieb weit unter ihrem Wahlziel, die Regierung abzulösen. Sie gewann aber gegenüber 2014 zwei Mandate hinzu. Gábor Vona gratulierte Fidesz/KDNP aber nicht zum Sieg, da dazu ein sportlicher Wettbewerb gehöre, den es allerdings nicht gegeben hätte.

Der unterlegene Ministerpräsidentenkandidat der „Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP)“, Gergely Karácsony, dankte allen Unterstützern und erkannte an, dass das Ergebnis deutlich unter den Erwartungen läge. Er argumentierte, dass es ihm aufgrund der „Lügen, der Medienübermacht und der Wahlregularien“ sehr schwer falle, dem Wahlgewinner zu gratulieren, tat dies aber dennoch. Er erklärte, dass die politische Linke stärker als Jobbik sei und innerhalb der Linken wiederum die MSZP dominiere. Ferner führte er als Ursache des Scheiterns die fehlenden Absprachen der Opposition in den Wahlkreisen an. Der Parteivorsitzende Gyula Molnár, Gewinner eines Budapester Direktwahlkreises, trat von seinem Amt als Parteivorsitzender zurück, nachdem auch er zuvor zum Wahlerfolg der Regierung gratuliert hatte. Auch bei der grün-liberalen LMP führte das schlechte Abschneiden an den Urnen zu dem sofortigen Rücktritt des Ko-Vorsitzenden Ákos Hadházy. Mit nur acht Abgeordneten, darunter ein direkt gewählter Kandidat, Antal Csárdi, im Wahlkreis Budapest 1, blieb die Partei deutlich hinter den Erwartungen zurück. Ferenc Gyurcsány, Vorsitzender der Demokratischen Koalition (DK), verweigerte der Regierung ebenfalls die Anerkennung des Wahlerfolges und erklärte, dass die DK kein Gegenmittel gegen die simplifizierten Wahlkampfaussagen gefunden habe. Er erläuterte auch, dass sein Ideal einer offenen und bürgerlichen Gesellschaft in Ungarn derzeit keine Mehrheit habe, er aber weiterhin daran arbeiten wolle. Die Partei schaffte mit gerade über 5% den Einzug in die Ungarische Nationalversammlung, konnte aber auf Grund der gewonnenen drei Direktmandate die Anzahl der Parlamentarier auf neun steigern. Sichtlich enttäuscht und nach eigenem Bekunden auch wütend, zeigte sich der Vorsitzende der noch sehr jungen liberalen Partei Momentum. András Fekete-Gyõr gestand ein, die Wahlziele, Einzug in die Ungarische Nationalversammlung sowie Ablösung der Regierung, verfehlt zu haben. Er gab sich aber kämpferisch und versicherte, dass die Regierung bis zum Ende der Legislaturperiode nicht durchhalten werde.

Erste Reaktionen der Medien

Der Leitartikel der konservativen regierungskritischen „Magyar Nemzet“ brachte am Tag nach der Wahl einen Leitartikel von Szabolcs Szeretõ mit dem Titel „Krieg der Ängste“. Bemängelt wurde, dass es seitens der Regierung keine allgemeine parteiunabhängige Informationskampagne zur Steigerung der Wahlbereitschaft gegeben hätte. Das Ziel von Fidesz/KDNP, so der Autor, sei es gewesen, die bewährte Stammwählerschaft an die Urnen zu bringen und ansonsten Passivität zu erreichen. Auch wurde unterstrichen, dass der Sieg der Opposition in Hódmezõvásárhely zu einer starken Mobilisierung der Regierungsanhänger geführt hätte. Zudem hätte eine zweifache Angst das Land durchdrungen, einerseits die von der Regierung geschürte Angst vor einer Migrationswelle und andererseits die aggressive Machtausübung von Fidesz, die auch den gesellschaftlichen Frieden gefährde, so Szeretõ. Die linke „Népszava“ befürchtet in ihrem Leitartikel, dass Viktor Orbán die Zivilgesellschaft, die noch existierende kritische Presse, Brüssel, Europa und die Vereinten Nationen erneut „angreifen“ werde. Diese Art von Regierungsführung verspreche nichts Gutes, so der Artikel von Róbert Friss. Ungarn würde sich weiterhin von Europa entfernen und in Richtung einer „autoritären, vergammelten, korrupten“ Politikausübung getrieben. Die regierungsfreundliche „Magyar Idõk“ unterstrich im Leitartikel des Chefredakteurs Ottó Gajdics die enorme Legitimation der wiedergewählten Orbán-Regierung sowie die Zerstrittenheit der Opposition, die nur noch von einer „Orbánphobie“ und einem „Fidesz-Hass“ zusammengehalten werde. Gajdics griff auch den Appell von Viktor Orbán auf, bescheiden zu sein. In diese Bescheidenheit passe aber auch eine gute Portion Freude und Stolz.

Bewertung und Ausblick

Die Wahlen entsprachen den international anerkannten Grundsätzen einer allgemeinen, freien, geheimen, gleichen und unmittelbaren Wahl. Auch wenn es Kritik am Wahlkampfstil von Fidesz gab, wird das Ergebnis der Wahl zumindest aus formalrechtlicher Sicht auch von der Opposition nicht in Frage gestellt. Das zum zweiten Mal angewandte Wahlrecht hat mit seinen Elementen des  Mehrheitswahlrechts für eine stabile Regierungsmehrheit gesorgt. Parteien mit starken Hochburgen und anerkannten Persönlichkeiten profitieren von einem solchen Wahlrecht. In Ungarn waren dies neben Fidesz/KDNP auch zwei Parteien des politischen linken Spektrums. Dieses Wahlrecht führte aber auch dazu, dass die Regierungsparteien bei dieser Wahl fünf Wahlkreise abgeben mussten, obwohl im Vergleich zu 2014 die Differenz zum Zweitplatzierten um 9 Prozentpunkte auf 29 Prozentpunkte angewachsen ist.

Die Opposition steht vor einem nicht erwarteten Scherbenhaufen. Die in den Wahlen versuchte Annäherung wird sehr wahrscheinlich im politischen Alltag bald in Vergessenheit geraten. Das linke politische Zentrum muss eine unverbrauchte Persönlichkeit finden, hinter der sich die gebeutelten Parteien gemeinsam neu aufstellen können. Jobbik wird weiter versuchen, mit dem politischen Spagat zwischen rechtsextremen Positionen und einer angestrebten Politik der bürgerlichen Mitte ihr Wählerpotential zu finden. Für neue politische Bewegungen, wie in anderen Ländern Europas, gibt es nach den Wahlen keinen Hinweis auf einen nachhaltigen Erfolg, die etablierten Parteien werden auch in der nächsten Legislaturperiode die Politik des Landes bestimmen.

Die Tatsache, dass die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen erstmals einen Abgeordneten in die Ungarische Nationalversammlung gewählt hat, wird sicherlich die Stellung der Nationalität auch im Sinne eines Brückenbauers nach Deutschland und in die Europäische Union stärken. Die ungarischen Wähler haben sich in einem erstaunlichen Maße wieder für die Kontinuität entschieden. Die Außenbeziehung und das Verhältnis zur Europäischen Union werden auch weiterhin im Fokus der Politik von Fidesz/KDNP stehen. Nach den Wahlen in Deutschland und Ungarn sollte vor allem der parlamentarische Dialog wieder neu belebt werden. Darüber hinaus muss sich die Partei mit aller Kraft den vorrangigen gesellschaftlichen Herausforderungen stellen: Gesundheit, Bildung und Demographie.

Es bleibt zu hoffen, dass alle Parteien nach einem aufregenden und intensiven Wahlkampf mit daran arbeiten, die bedrückende Polarisierung des Landes abzubauen. Im nächsten Jahr stehen die Europawahlen an. Dies wird ein erster Test auch für die mögliche Neuausrichtung einzelner Parteien sein.

(Via: kas.de, Beitragsfoto: valasztas.hu)