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„Ein Ungar ist derjenige, dem Trianon wehtut“ – Rezension zum Buch von Andreas Oplatka

Ungarn Heute 2020.08.24.

Zur 100. Wiederkehr der Unterzeichnung des Vertrages von Trianon erschien im Sommer eine Publikation, welche die allseits bekannten Fakten komprimiert zusammenfasst, das Geschehen aber in einem größeren historischen Rahmen analysiert. Autor Andreas Oplatka, früher Professor für Osteuropäische Geschichte an der Budapester Andrássy-Universität, beleuchtet in essayhafter Form auf knapp 70 Seiten Vorgeschichte, Entstehung und Folgen des Vertrages bis in die Gegenwart hinein.

Oplatka schlägt einen weiten Bogen von der Christianisierung des Landes unter König Stephan, über den Mongolensturm 1241, die Schlacht von Mohács 1526, über die Habsburgermonarchie hin zum Erwachen des ungarischen Nationalgefühls im 19. Jahrhundert. Erst der Blick zurück auf die Vorgeschichte der politischen Entwicklung des Vielvölkerstaates macht nachvollziehbar, was letztendlich im Vertrag von Trianon festgelegt wurde. Er bestätigte eigentlich nur die Ende des 1. Weltkrieges faktisch bereits bestehende Situation.

Die ungarischen Diplomaten standen in Versailles vor vollendeten Tatsachen.

Den Verhandlungen gingen nämlich mehrere Abspaltungen einzelner Landesteile voraus: Am 28. Oktober 1918 war die Tschechoslowakische Republik ausgerufen worden. Kroatien und Slawonien gründeten in Zagreb den Nationalrat der Serben, Kroaten und Slowenen und erklärten sich am 30. Oktober 1918 zum Teil des neuen SHS-Staats. Die Rumänen Siebenbürgens sprachen sich am 1. Dezember 1918 für die Vereinigung mit dem Königreich Rumänien aus. Die Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben entschieden sich 1919 ebenfalls für die Vereinigung ihrer Gebiete mit Rumänien.

Warum dauerte es mit dem Friedensvertrag, der noch heute in Ungarn als Friedensdiktat bezeichnet wird, bis zum 4. Juni 1920?

Der Vertrag wurde so spät unterzeichnet, da das besiegte Ungarn in der Nachkriegszeit erhebliche politische Wirren durchmachte. Nach dem Ende der Donaumonarchie wurde eine Räterepublik ausgerufen, es kam zu einem weiteren Krieg mit Rumänien, und durch den von Österreich im September 1919 unterschriebenen Vertrag von St. Germain fiel Westungarn an Österreich. Delegationsleiter Graf Albert Apponyi versuchte zwar in einer zweistündigen Rede noch eine Milderung der Strafmaßnahmen zu erreichen, auch mit dem Hinweis darauf, dass das nur teilweise souveräne Ungarn eine geringe Schuld treffe, scheiterte damit aber hoffnungslos. Die Würfel waren gefallen. Das Land verlor durch Gebietsabtretungen schließlich mehr als zwei Drittel (von 325.411 km² auf 93.073 km²) seiner Gebiete. Etwa drei Millionen Magyaren fielen unter fremde Oberhoheit.

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In den beiden abschließenden Kapiteln behandelt Oplatka das Scheitern des Friedenswerks, für welches sowohl die einstigen Siegermächte als auch die zum 2. Weltkrieg führende Machtpolitik Hitlers verantwortlich gemacht werden. Unter der Überschrift „Und hundert Jahre später“ (ob hier ein Fragezeichen angebracht wäre, mag der Leser selbst entscheiden) verweist der Autor darauf, dass in kommunistischer Zeit Trianon tabu war, nach der Wende Vertreter einer „nationalistischen Polit-Folklore“ von der Rückgewinnung verlorener Gebiete träumten, der Jahrzehnte zurückliegende Vertragsschluss jedoch zu einem „nationalen Trauma“ geführt habe. Ein geflügelter Satz, so Oplatka, treffe den Nagel auf den Kopf: „Ein Ungar ist derjenige, dem Trianon wehtut.“

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Andreas Oplatka: Der Trianon-Vertrag – ein ungarisches Trauma, herausgegeben von der Vontobel-Stiftung, Zürich 2020. Bestellung möglich unter schriftenreihe@vontobel-stiftung.ch

Einen Nachruf auf Andreas Oplatka brachte Ungarn Heute am 29.5.2020.

András Oplatka, schweizerisch-ungarischer Journalist, Historiker, Übersetzer, ist am 29. Mai 2020. im Alter von achtundsiebzig Jahren in seinem Haus in Zollikon bei Zürich nach langer, schwerer Krankheit verstorben. Er war einer der Gründer der „Freunde von Ungarn Stiftung“. Die Stiftung ist der Herausgeber der Nachrichtenportale „Hungary Today“ und „Ungarn Heute“.

(Artikel geschrieben von Josef Kern, Beitragsbild: MTI – Tamás Kovács)