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„Schussfeuer“ – Gastartikel von Irén Rab

Ungarn Heute 2020.04.11.

Das österreichische Parlament hat am Freitagnachmittag noch zwischen Tür und Angel einen Beschlussantrag zur Verurteilung Ungarns angenommen. Der Beschluss ermächtigt die österreichische Regierung zu überwachen, ob Ungarn nach der Überwindung der Epidemie alle seine Notfallgesetze und Vorschriften aufheben werde. Die Europäische Kommission sollte damit auch in die Lage versetzt werden, diese Sache in Anbetracht der Wahrung europäischer Grundwerte auf der europäischen Bühne zu überwachen! Darüber hinaus wäre es äußerst vorteilhaft, einen Rechtsstaatsmechanismus einzuführen, bei dem die Zuweisung von EU-Mitteln an die Einhaltung der europäischen Grundsätze geknüpft wäre. Der Beschlussantrag wurde von der ÖVP und den Grünen eingereicht, die Sozialisten und die Neoliberalen haben ihn nicht unterstützt, aber nur deswegen, weil sie den Inhalt der Resolution nicht streng genug fanden. (Dieser Meinungsartikel wurde von Irén Rab geschrieben, Originaltext erschien in der ungarischen Zeitung „Magyar Hírlap“.)

Das alles passierte am achtzehnten Tag der Einführung des österreichischen Ausnahmezustands. Als dieser Ausnahmezustand ausgerufen wurde, gab es an jenem unglücklichen Freitag, den 13. März, achthundert infizierte Patienten in Österreich. Trotz der strengen Vorschriften, Schulschließungen, Home-Office, Ausgangsbegrenzung, Quarantänen in den Bundesstaaten, ist die Zahl der Infizierten inzwischen auf mehr als zwölftausend gestiegen. Ab Montag ist es Pflicht, Mundschutzmaske zu tragen, der Kanzler selbst zog sie beispielgebend an und verkündete mit sorgenvollem Gesicht die Beschränkung der Reisefreiheit ins Ausland. „Österreichisches Interesse, unser Interesse“, sagt er, „wenn es einen Impfstoff gibt, dann wird Reisen wieder möglich, bitte Geduld“. Die Coronakrise löste gleichzeitig eine Wirtschaftskrise aus, bei der die Arbeitslosenquote in einer Woche auf 12,2 % sprang und dabei sind die Kurzarbeiter noch gar nicht berücksichtigt. Ich möchte auf unseren österreichischen Schwager nicht schimpfen, denn das Kabinett tut dort alles, um mit dieser Epidemie fertig zu werden. Ich erwähne dies nur, weil sie sich vielleicht in dieser Situation vor allem mit sich selbst beschäftigen und nicht wieder der Nachbarschaft in den Hintern treten sollten.

Vom Treten gab es in den letzten zwei Wochen mehr als genug, eigentlich seitdem die ungarische Regierung ihren Gesetzentwurf zur Bekämpfung des Coronavirus vorgelegt hatte. Niemand kümmerte sich darum, dass die Regierung voll im Sinne des Grundgesetzes handelte, und zusätzlich gibt es ja noch die Kontrollen vom Parlament und Verfassungsgericht. Niemand hat es gelesen, es wurde nichts angehört. Die ungarische Opposition hat allerdings gute Kontakte zu den ausländischen Schwesterparteien und sie hat fähige Kommunikationsspezialisten, sie finden immer Mittel und Wege, die ungarische und europäische Öffentlichkeit gegen einen Gesetzentwurf aufzubringen. Sie fanden das Zauberwort, „Ermächtigungsgesetz“, das in der demokratischen westlichen Welt tiefgreifende Ängste auslöst. Dieses Gesetz kommt sogar im deutschen, ansonsten spärliches Wissen vermittelnden Geschichtsunterricht vor, mindestens in den Lehrfilmen über die Machtübernahme des Führers. Also hat man das Zauberwort gefunden und wie auf Wink mit dem Zauberstock wurde in jedem Medienkanal und Presseprodukt der übliche Einheitsbrei (d.h. aus einer einzigen Quelle) über die Gefahr des endgültigen Aufbaus der Orbán-Diktatur vermittelt.

Einheitsbrei, denn vom Norwegischen über das Schwedische bis zum gesamten deutschsprachigen Raum, zu dem ich Zugang habe, mit dem gleichen Foto und fast dem gleichen Text: „Der Populist Victor Orban nutzt die Coronakrise, um seine totale Macht aufzubauen. Die Arbeitsweise des Parlaments ist in Ungarn ausgesetzt!“, keifte der diensthabende Moderator ins Mikrofon, gleich ein Bild dazu, die blaue Donau, das wunderschöne Parlament und der ungarische Ministerpräsident in feindlicher Position, seine Diktatur gerade ausbauend. Dabei steht er um fünf Uhr morgens auf, um sechs Uhr hat er bereits eine Besprechung mit dem Operativstab und den Aktionsgruppen, dann Parlamentssitzung, Regierungssitzung, EU-Verhandlungen, Flughafen – um gerade eingetroffene Schutzausrüstungen aus dem Ausland entgegen zu nehmen – etc. und um Mitternacht schlüpft er vielleicht ins Bett. Epidemiologische Verfügungen, wirtschaftliche Rettungspakete, Krisenmanagement und dazu der von der ungarischen Opposition angezettelte Gegenwind aus Europa. Er verspricht Blut, Schweiß und Tränen, wie Churchill, der ja ebenso nicht geliebt wurde, aber er brachte sein Land aus dem zweiten Weltkrieg siegreich und mit relativ wenig Verlust heraus.

Ich bekam also jeden Tag die notwendige Dosis zum Kaffee. Mein Blutdruck stieg in ungekannte Höhen, aber die Deutschen waren wiederum entsetzt, die Demokratie in Ungarn und damit die Welt selbst geht unter! Erneut ist es gelungen, die Bundesbürger gegen die Ungarn aufzustacheln und gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit von ihren eigenen Problemen abzulenken. Dass es auch dort nicht genug Masken gibt (deswegen sollte man sie gar nicht tragen), dass Krankenhaus-Ausrüstungen knapp werden, weil die Chinesen sie nicht liefern oder gerade Trump eine Sendung abgefangen hat. Dass die Zahl der Infizierten inzwischen auf über hunderttausend gestiegen ist, aber wenigstens gibt es inzwischen zumindest offizielle Daten zu den Testzahlen. Es spielt alles keine Rolle, „wir schaffen das“ wie bei der Flüchtlingskrise. Hundertmal am Tag heißt es, das Grundgesetz dürfe nicht verletzt werden, die Menschenwürde sei unantastbar und die Freiheitsrechte seien heilig. Währenddessen schränken sie den Ausgang ein, halten Kontakte auf Distanz, schließen die Binnengrenzen, und die Bundesländer handeln in eigener Regie, weil sie sich nicht auf das föderale System verlassen können. Schleswig-Holstein schickt die Hamburger Radfahrer zurück, ihr bleibt schön zu Hause! Mecklenburg schließt seine Grenzen, niemand soll das Coronavirus hineinschleppen! Es ist, als ob das Komitat Veszprém sich mit einem Zaun umgeben würde.

Ursula von der Leyen wurde vor einigen Tagen von deutschen Journalisten befragt. Auf jeden Fall wurde von ihr erwartet, dass sie eine Anti-Orbán-Erklärung abgibt, sie ist doch die Präsidentin der Kommission, die Hüterin der europäischen Werte, sie solle die heimliche ungarische Diktatur  verurteilen. „Wenn es nötig sein wird,  werden wir handeln“, lächelte Ursula, als sie versuchte, den draufgängerischen Fragen auszuweichen. „Bislang haben seit dem Ausbruch der Viruskrise die Hälfte der EU-Länder Einschränkungen eingeführt“, sagte sie, „jeder versucht, sich auf seine Art und Weise zu verteidigen. Aber wir können das Virus nur gemeinsam mit  europäischer Solidarität besiegen!“

Die europäische Solidarität schleicht vor sich hin, die EU sollte für die Unterstützung der von der Virusepidemie betroffenen Länder ein Hilfsfond einrichten und ein Finanzhilfepaket schnüren. Die Südländer unterstützen das, die Pragmatiker nicht. Genau so pragmatisch ist auch Deutschland, letzte Woche hätte es nämlich Farbe bekennen müssen, hat es aber vorgezogen, die Verantwortung auf  die Österreicher und Niederländer abzuwälzen, weil auch sie dagegen seien, dann sollen sie eben  sie daran Schuld sein. Stattdessen faseln sie noch viel lauter über europäische Werte, Solidarität, Hilfe und schlagen auf den Prügelknaben Ungarn ein, bei dem ja auch schon die Flüchtlingsquote ins Stocken geraten ist, die Ungarn seien ja sooo unempfindlich gegenüber europäischen Grundwerten.

Apropos Quoten: man hat bereits davon angefangen, dass es auch noch eine europaweite Coronaquote geben könnte. Das hieße, die ansteckenden Kranken könnten europaweit entsprechend der freien Kapazitäten (also nach Bereitschaft und Organisationsstand) auf alle Mitgliedsstaaten verteilt werden. Ich bekam dabei leichte Angstzustände, dass wir wieder zum Europäischen Gerichtshof nach Luxemburg zitiert werden könnten.

(Der originelle Artikel von Irén Rab erschien in der regierungsnahen Zeitschrift „Magyar Hírlap“, am 8. April 2020, der Text wurde von Dr. Andrea Martin übersetzt, Beitragsbild: MTI – Tamás Kovács)