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Ukrainische Kinder einer ungarischen Schule: „Hier bekam ich eine Zukunft“

Éva Trauttwein 2022.06.05.

Wie kann Integration gelingen? – Eine Schule beweist, dass die Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen möglich ist, und dafür können Schulen mehr tun als ihnen bewusst ist. Entscheidend sind innere Haltung, soziale Unterstützung und Strukturen, die beides fördern. Wir suchten das Patrona Hungariae Schulzentrum, eine Institution der Schulschwester in Budapest auf.

Das kleine Mädchen heißt Veronika. Aus einem kleinen Dorf kam sie zusammen mit ihrer Familie, Vater, Mutter und zwei kleinen Schwestern nach Ungarn. Ein Bruder arbeitet seit Jahren in Deutschland, ein anderer „schützt das Dorf“ – erzählt die kleine. Von Rita Rubovszky, Hauptdirektorin des Schulzentrums erfahre ich, die Familie hat seit Wochen nichts über ihn gehört. Veronika geht in die fünfte Klasse, ihre kleine Schwester Angelina in die erste. Beide sprechen ganz gut Ungarisch, sie lernten die Sprache von der ungarischen Mutter, die ukrainische Sprache von dem Vater aus Kiew. Veronikas Familie ist schon seit Anfang März in Budapest. Der Vater hat im Bauwesen Arbeit, die Mutter ist Putzfrau in der Schule, die sich auch um eine Wohnung für die Familie kümmerte. Angelina wird ab September wieder in die erste Klasse gehen. Ihre Schule im Heimatdorf wurde wegen mangelnder Heizung für die Wintermonate geschlossen, Angelina hatte kaum zwei Monate Unterricht.

Der elfjährige Junge ist Dmitri. Er spricht nur russisch, kennt nicht einmal die lateinischen Buchstaben. Deswegen besucht er die dritte Klasse, wo er neben der ungarischen Sprache schreiben und lesen lernt.

Jetzt ist eben Pause, die Kinder spielen auf dem Schulhof. Die Lehrerinnen zeigen auf eine Fußball spielende Gruppe. Ein Junge schreit auf: Tor! „Das ist Dmitri“ – sagt stolz Kata Veress, seine Klassenlehrerin, da der Junge auf Ungarisch den Erfolg der Mannschaft verkündete.

„Wir wollten keine Sammelklasse, wir sprechen nicht von einer Gruppe von Flüchtlingen, sondern über neue Schüler, die in die verschiedenen Regelklassen aufgenommen wurden“ – erklärt ihre Strategie Zoltán Gilicze, der Direktor der Grundschule. So ist jedes Gastkind eines von den 30.

Heute sind 10 Kinder im Kindergarten, 30 in der Schule und im Gymnasium. Unter ihnen gibt es einige, die zusammen mit beiden Eltern nach Ungarn kamen, sie haben es am leichtesten. Es gibt einige, die mit der Mutter hier sind, und diejenigen, deren Eltern in der Ukraine blieben, haben es am schwierigsten. Die Familien und die Kinder kommen aus unterschiedlichen Gesellschaftschichten, mit keinen oder geringen ungarischen Sprachkenntnissen, heterogenen Bildungsständen. Gemeinsam ist jedoch, dass sie alles hinter sich lassen mussten, ohne jegliche Ressourcen geflohen sind und in Ungarn keine Kontakte hatten. Dank Hilfsorganisationen fanden sie die aufnehmende Schule, die sich nicht nur um die Kinder kümmert, sondern auch um die Familie. Die Kinder ohne Eltern wohnen im Schülerheim, für die Familien wurden dank den Patrona-Eltern Wohnungen zur Verfügung gestellt. Es ist auch gelungen, Anstellungsmöglichkeiten zu finden, alle Menschen haben jetzt Arbeit. Das wurde dank einer breiten Zusammenwirkung von Schulleitung, Lehrern, Kindern, Eltern, Regierung und zivilen Helfern möglich.

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Schon bevor die Direktion die Aufnahme der Kinder beschloss, haben die Lehrkräfte die Kinder auf die Situation vorbereitet. „Wir initiierten Gespräche über den Krieg, versuchten die Fragen der Kinder zu beantworten. Wir haben festgestellt, dass dadurch, dass der Krieg in einem Nachbarland ausbrach, sich die Kinder bedroht fühlen, und gleichzeitig in ihnen der Wunsch sehr stark ist, helfen zu wollen. Mit großer Offenheit, Hilfsbereitschaft und Freude empfingen sie die neuen Schüler. An einem Tag wurde ihnen alles Notwendige für den Schulbesuch gespendet. Die ungarischen Kinder verstanden, ein fremdes Land, fremde Gesichter und eine fremde Sprache – auf ukrainische Flüchtlinge prasselt unglaublich viel Neues ein, und auf eine unglaublich liebenswürdige Art bauen sie Gemeinschaft auf. An den Wochenenden sind die Gäste bei den Familien eingeladen, gemeinsame Ausflüge, Spielplatzbesuche werden organisiert.

Rita Rubovszky erklärt: „Wir haben am Anfang die Frage gestellt, wie unterrichtet man Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen? Lange Gespräche, Beratung von Psychologen haben die Lehrkräfte auf den Empfang der Kinder vorbereitet.

Heute verfolgt die Schule eine doppelte Strategie. Die Gastschüler werden auf eine schulische Laufbahn in Ungarn vorbereitet, gleichzeitig haben sie die Möglichkeit am Online-Unterricht teilzunehmen, somit bleibt die Chance, bei eventueller Rückkehr in die Ukraine, den Unterricht da fortzusetzen. Das größte Problem ist nach Ansicht des Gymnasialdirektors, András Valaczka, die Zeitweiligkeit. „Die Schule muss sich auf das ungarische Curriculum festlegen, deswegen schließen sich die Ankommenden dort an, wo eben die Klasse steht. Es ist der Schule gelungen, ukrainisch und russisch sprechende Lehrkräfte als Volontäre zu finden, so bekommen die Kinder zusätzliche Förderung, damit ihnen der Stoff für den Anschluss an ihre Klassen nicht fehle. Außerdem bieten die schulischen Angebote ein breites Spektrum: Klassenfahrten, Ausflüge, Einkehrtage, Arbeitsgemeinschaften, Projekte, Theateraufführungen sind Anlässe, Kontakt herzustellen, Begegnungen zu schaffen, und sich einen festen Platz in der Gemeinschaft zu sichern.“

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Die Schule weiß, alles was Kindern und Jugendlichen Struktur gibt, ist gut. Die Kleinen finden sich leichter zurecht, im Spiel vergessen sie, woher sie kommen. Die Gymnasiasten belasten die traumatisierenden Erlebnisse der Vergangenheit, man hat oft das Gefühl, sie trauen sich nicht sich zu freuen – formuliert András Valaczka. „Es scheint, sie machen ganz befreit mit, dann plötzlich zucken sie zusammen, und sagen, ich darf nicht mitmachen, bei uns ist Krieg.“

Obwohl Sprachbarrieren die Kommunikation erschweren, finden die Schüler den Weg zueinander. In den Unterrichtstunden hilft der Google Übersetzer, Englisch ist auch ein wichtiges Mittel. Den Schülern gefällt das babylonische Sprachengewirr. Die ungarischen Mädchen – die Gymnasialklassen besuchen nur Mädchen – helfen gerne bei Erklärung von Aufgaben, und schöpfen auf die Weise zusätzliche Motivation, so profitieren beide Seiten im Unterricht. Dadurch, dass die Gastkinder nicht unter sich bleiben, haben sie fortwährend die Möglichkeit zu kommunizieren. Sie bekommen ungarischen Sprachunterricht, und diejenigen, die seit Anfang März in der Schule sind, sprechen schon ganz gut Ungarisch.

Die Haltung der Schulleitung ist besonders wichtig. Die Mitglieder arbeiten eng zusammen, sie wissen, entscheidend ist gemeinsames, professionelles Handeln, besonders auf schulorganisatorischer Ebene, und zeigen eine grundsätzlich unterstützende Haltung gegenüber den Kollegen, wobei die Offenheit, wertschätzende Beratung und Ermutigung eine große Rolle spielt.

Dieses Zusammenwirken hat eine Ausstrahlung, gibt der Schulgemeinschaft ein Gefühl von Sicherheit. Die Schule ist für geflüchtete Kinder und Jugendliche der einzige Ort in ihrem Leben, an dem sie die Möglichkeit haben, eigenes Gelingen zu erleben und Erfolge zu erzielen.

In der großen Gemeinschaft der Schule fanden diese Menschen Sicherheit und völlige Akzeptanz. Alle freuen sich hier zu sein, trotzdem sind unter ihnen einige, die sich in die Heimat zurückwünschen. Andere Familien wollen oder können nicht zurück. Wohnung, Arbeit für die Eltern und Schule für die Kinder sichern eine Zukunft. Die Bereitschaft, sich zu integrieren, sei unter den Geflüchteten auch vorhanden. Sie haben Arbeit, die Kinder können sie in Sicherheit wissen. Jedoch stehen sie existentiell in Ungarn erst einmal vor dem Nichts.

(Fotos: Attila Lambert/Ungarn Heute)