Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Olt, der Verfasser dieses Beitrags, ist Gastprofessor am Germanistischen Institut der Eötvös-Loránd-Universität (ELTE), deren Philosophisch-Humanwissenschaftliche Fakultät ihn 2012 zum Dr. h.c. promovierte. Der zuvor an deutschen und österreichischen Universitäten Tätige veröffentlichte mehr als 100 wissenschaftliche Publikationen. Olt gehörte von 1985 bis 2012 der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ an, als deren Politik-Korrespondent er 18 Jahre aus Österreich, Ungarn, Slowenien und der Slowakei berichtete. Auf ihrer Jahreskonferenz im Mai 2017 zeichnet ihn „Magyarország Barátai Alapítvány“ (die „Stiftung Freunde Ungarns“) für alles, was er „für Ungarn und für die Ungarn geleistet“ hat, mit ihrem erstmals verliehenen „Freunde-von-Ungarn-Preis“ aus.
Mehr als ein Vierteljahrhundert ist verstrichen, seit mit der Öffnung des Drahtverhaus an der ungarisch-österreichischen Grenze die Friedhofsruhe der Völker, die unter der Pax Sovietica lebten, beseitigt wurde. Was bis 1989/1990 mehr oder weniger mit der Ideologie vom neuen, dem sowjetischen Menschen zusammenzuschweißen versucht worden war, brach danach unter (zum Teil kriegerischem) Lärmen auseinander. Da der Terror des marxistisch-leninistischen Internationalismus wich, meldeten sich Nationen und Völkerteile zu Wort, die es eigentlich gar nicht mehr hätte geben dürfen, wenn das kommunistische Weltbild vom Aufgehen in einer neuen, friedliebenden und angeblich allen zwischennationalen Hader hinter sich lassenden Menschengemeinschaft den Sieg davongetragen hätte. Dass dem nicht so war/ist, führ(t)en zum Teil kriegerische Nationalitätenkonflikte zwischen Mare Balticum und Ochotskischem Meer vor Augen.
Mit der Auflösung des russisch dominierten Sowjetimperiums und seines ihm ideologisch verbunden gehaltenen Vorhofs entstanden ebenso neue Nationalstaaten wie dort, wo unter serbischer Dominanz die balkanische Spielart des Stalinismus, der titoistische Jugoslawismus, Völker und Volksgruppen zu assimilieren trachtete. Dass die „nationale Frage“ in Europa virulent ist, zeigten just die mit Waffengewalt ausgetragenen Sezessionskonflikte des nach Titos Tod rasch erodierenden südslawischen Staatsgebildes. In den Nachfolgestaaten der Sowjetunion legten zunächst die moldauisch-transnistrischen, die georgisch-ossetischen sowie die armenisch-aserbaidschanischen Auseinandersetzungen blutige Nationalitätenkonflikte offen. Wenngleich derartige Konflikte im Baltikum, im Transkaukasus und in den vorwiegend orientalisch-muslimisch geprägten zentralasiatischen Staaten der Betrachtung von außen meist nur unterschwellig ins Auge fallen, sind sie von nicht minderer Brisanz. Dass dabei stets auch russische Interessen im Spiel waren/sind, offenbaren die Vorgänge rund um die Annexion der Krim sowie das Entfachen des bürgerkriegsartigen Sezessionismus in der Ostukraine durch russische Insurgenten und Freischärler sowie von Moskau offen wie verdeckt unterstützter Separatisten.
Am Verhalten einiger westeuropäischer Regierungen gegenüber den Selbständigkeitsbestrebungen der Slowenen und Kroaten, aber auch der Esten, Letten und Litauer (vor der völkerrechtlichen Anerkennung ihrer staatlichen Gemeinwesen, ja mitunter danach auch noch), oder im Blick auf die Bemühungen Ungarns seit 1989/90, den mehr als 3 Millionen außerhalb des Mutterlandes (in Rumänien, der Slowakei, der Karpatoukraine, in der Vojvodina, in Kroatien, Slowenien und Österreich) beheimateten ungarischen Volksgruppen zu ihren eigentlich zustehenden Minderheitenrechten zu verhelfen sowie den nach dem Zweiten Weltkrieg nach Westeuropa, nach Nord- und Südamerika und nach Australien geflüchteten Magyaren bei der Wahrung ihrer nationalen Identität behilflich zu sein, war augenfällig geworden, dass die Furcht vor Separatismus im eigenen Lande das Handeln bestimmte. Dies rührte von der sich seit den 1970er Jahren zunächst verbreitenden Zuversicht her, wonach im Zuge der EUropäisierung die Nationalstaaten allmählich verschwänden und somit die „nationale Frage“ gleichsam als Erscheinung des 19. Jahrhunderts überwunden würde. Vor allem die (westeuropäische) Linke – aber nicht nur sie – leistete mit der theoretisch-ideologischen Fixierung auf die Projektion der „multikulturellen Gesellschaft“ einer geradezu selbstbetrügerischen Blickverengung Vorschub, indem man glaubte (und andere glauben machen wollte), mit deren Etablierung sei die infolge zweier Weltkriege entgegen dem Selbstbestimmungsrecht erfolgte willkürliche Grenzziehung quasi automatisch aufgehoben. Dabei hatte just die machtpolitische Ignoranz historisch-kulturräumlicher Bindung, ethnischer Zusammengehörigkeit sowie von Sprachgrenzen insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg zu spezifischen Minderheitensituationen geführt, wie sie – um nur zwei von vielen Beispielen zu nennen – die Friedensdiktate von St. Germain-en-Laye (1919) für Österreich (Teilung Tirols) und von Trianon (1920) für Ungarn (Amputation von zwei Dritteln seines vormaligen Territoriums, womit sich mehr als 2 Millionen Magyaren plötzlich in fremdnationaler Umgebung befanden), bewirkten, deren Konfliktpotential bis in unsere Tage fortbesteht.
Während sich im Westen die Nationalstaaten überlebt zu haben schienen, sind die Völker Mittelost-, Ost- und Südosteuropas noch immer dabei, Sowjetismus und Titoismus abzustreifen. Der Denkfehler in der westlichen Welt bestand darin, zu glauben, staatliche Gebilde wie die „Jugoslawische Föderation“ oder die kurzlebige, nach der Auflösung der UdSSR entstandene GUS („Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“) hätten sogleich etwas gemein mit der Europäischen Gemeinschaft (EG, jetzt EU) sobald man sich dort der Fesseln des Kommunismus entledigt habe. Anstatt dies zu unterstützen oder wenigstens Sympathie dafür aufzubringen und vor allem den „kleinen Völkern“, wie die in fremdnationaler Umgebung beheimateten Minderheiten bisweilen genannt werden, Gehör zu schenken, zeigt(e) sich vor allem in den Hauptstädten der zentralstaatlich geprägten Länder Westeuropas, dass die Sorge vor dem möglichen Aufbegehren der eigenen Minoritäten das Verhältnis zu den Eigenständigkeit einfordernden und zwischen Selbstverwaltung, Autonomierechten, Unabhängigkeit bis hin zu (klein)staatlicher Souveränität changierenden Nationen und Volksgruppen im Osten und Südosten des Kontinents bestimmt(e).
Frankreich gilt bisher geradezu als Verkörperung des nationalstaatlichen Zentralismus. Weshalb viele der 370.000 Bretonen mit Sympathie die nach dem mehrheitlichen Brexit-Votum im Vereinigten Königreich wieder vernehmlicher werdenden Töne der schottischen Unabhängigkeitsbewegung verfolgen, welche im Referendum 2014 nur knapp gescheitert war. Ähnliches gilt für die 150.000 Korsen, wobei die Nationalpartei PNC (Partitu di a Nazione Corsa) nicht unbedingt für die Unabhängigkeit Korsikas eintritt, was das Ziel bisweilen bombender Extremisten war/ist, aber doch mehr Selbständigkeit anstatt politischer Steuerung durch Paris verlangt. Im Elsass sowie in Lothringen begnügt man sich hingegen offenbar mit einigen Zuständigkeiten in (sprach-)kulturellen Angelegenheiten. Wenngleich nicht wenige der 978.000 deutschsprachigen Elsässer und Lothringer gegen die Verschmelzung ihrer Regionen mit der Champagne und den Ardennen zur Region Alsace-Champagne-Ardenne-Lorraine protestierten, welche seit 1. Oktober 2016 kurz „Région Grand Est“ heißt.
In Spanien bekunden besonders die gut 10 Millionen Katalanen (in Katalonien, auf den Balearen und in Valencia) sowie 676.000 Basken (im Baskenland und in Navarra) immer wieder machtvoll ihren Willen, die Eigenstaatlichkeit zu erlangen. Davon wäre naturgemäß auch Frankreich betroffen, denn jenseits der Pyrenäen, im Pays Basque, bekennen sich gut 55.000 Menschen zum baskischen Volk. Der 2015 in Spanien von der baskischen Regionalregierung verabschiedete Plan „Euskadi Nación Europea“ enthält das Recht auf Selbstbestimmung und sieht ein bindendes Referendum vor.
In Belgien hat sich der (nicht nur sprachliche) Konflikt zwischen niederländischsprachigen Flamen und französischsprachigen Wallonen seit den 1990er Jahren zu einer latenten institutionellen Krise ausgewachsen und kommt einer Staatskrise ziemlich nahe. Von den 5,8 Millionen Flamen (52,7% der Bevölkerung), die sich ökonomisch gegen die Alimentierung der „ärmeren“ Wallonie (3,9 Millionen Wallonen; 35,8% der Bevölkerung) wenden und zusehends für die Eigenstaatlichkeit eintreten, sprechen sich die wenigsten für den Erhalt des belgischen Föderalstaats aus. Die Deutschsprachige Gemeinschaft, ein von 87.000 Menschen (0,8% der Bevölkerung) bewohntes Gebilde mit autonomer politischer Selbstverwaltung, eigenem Parlament und eigener Regierung, entstanden auf dem nach Ende des Ersten Weltkriegs abzutretenden Gebietes Eupen-Malmedy, gehört zwar territorial zur Wallonie, hält sich aber aus dem flämisch-wallonischen Konflikt weitgehend heraus.
Außerhalb Italiens werden die Unabhängigkeitsverlangen im Norden des Landes meist unterschätzt und zumindest in der Wissenschaftspublizistik weitgehend ausgeblendet. Die politische Klasse in Rom muss hingegen angesichts regionaler Erosionserscheinungen befürchten, dass Bestrebungen, sich von Italien zu lösen, an Boden gewinnen. So beteiligten sich im März 2014 im Veneto 2,36 Millionen Wahlberechtigte (63,2% der regionalen Wählerschaft) an einem Online-Referendum zum Thema Unabhängigkeit Venetiens, von denen 89,1% – das waren immerhin 56,6 % aller Wahlberechtigten – auf die Frage „Willst Du, dass die Region Veneto eine unabhängige und souveräne Republik wird?“, mit einem klaren „Ja“ antworteten. In unmittelbarer lombardisch-„padanischer“ Nachbarschaft zündelt die Lega Nord immer wieder mit Unabhängigkeitsverlangen und strebt ein aus der Lombardei, Piemont und Venetien zu bildendes Unabhängigkeitsbündnis an.
Nebenan, in der mit Sonderstatut, wie sie die Lega für die Lombardei anstrebt, versehenen Region Trentino-Alto Adige/Südtirol, ist in der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol [ca. 520.000 Bewohner; davon 62,3% Deutsch(sprachig)e; 23,4% Italiener; 4,1% Ladiner und 10,2% Personen, die sich bei der Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung nicht den genannten Autonomiestatuts-Ethnien zugehörig erklärten] seit zwei Landtagswahlperioden die verstärkte Hinwendung von deutschtiroler Wählern zu den deutschtiroler Oppositionsparteien zu registrieren. Dies rührt, neben unübersehbaren Abnutzungserscheinungen der seit 1945 dominanten Regierungspartei SVP und deren Aufgabe ihrer gut sechs Jahrzehnte gewahrten Äquidistanz zu den römischen Parteien, auch von den vielfältigen Maßnahmen Roms seit einigen Jahren her, sozusagen scheibchenweise die ansonsten international als Vorbild gerühmte Autonomie auszuhöhlen und damit zu entwerten. Dies könnte sich mit der anstehenden, auf noch mehr Zentralismus hinauslaufenden Staats- und Verfassungsreform, welcher die SVP-Kammerabgeordneten – wider die Warnungen der Opposition und von ehedem langjährigen politischen Verantwortungsträgern der eigenen Partei – zustimmten, noch weiter verstärken.
Angesichts dessen ist es nicht allzu verwunderlich, dass die Befürworter des „Los von Rom“ in Südtirol Zulauf erhalten. Und sich, wie die 2014 in Meran sowie im Mai 2016 in Bruneck vom Südtiroler Schützenbund initiierten „Unabhängigkeitstage“ erwiesen, mit den politischen Kräften jener Bewegungen verbünden, welche das „Los von London, Madrid, Paris, Brüssel usw.“ für sich beanspruchen sowie die Gewährung und Ausübung des Selbstbestimmungsrechts verlangen. Man kann daher der EU den Vorwurf nicht ersparen, dass sie es verabsäumt hat, sich auf eine vernünftige Politik zugunsten nationaler Minderheiten einzulassen und einen verlässlichen kollektiven Rechtsrahmen zum Schutz der „kleinen Nationen“ und Volksgruppen zu schaffen. Warum hat die EU keine wirklich substantiellen Volksgruppen-Schutzmaßnahmen ergriffen? Weil zentralistisch organisierte Nationalstaaten wie Frankreich, Italien, Spanien, Rumänien, um nur die ärgsten Bremser zu nennen, deren Begehr prinzipiell ablehnend gegenüberstehen. Hinsichtlich Rumäniens ist beispielsweise darauf zu verweisen, dass das Verlangen der ungefähr 1,2 Millionen ethnischen Ungarn – und insbesondere der ca. 700.000 Szekler und etwa 60.000 Csángos – nach Autonomie von der gesamten politischen Klasse des Staatsvolks sofort als Sezessionsbegehr (Stichwort: Trianon) gebrandmarkt wird. Ein anderes Beispiel: Frankreich (am 7. Mai 1999) und Italien (27. Juni 2000) haben zwar die am 5. November 1992 vom Europarat verabschiedete und – bezogen auf die realen Auswirkungen für die jeweiligen Staatsnationen – relativ „harmlos“ bleibende „Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ unterzeichnet; ratifiziert und in Kraft gesetzt wurde sie bis zur Stunde von beiden Staaten nicht.
Solange das Manko aufrecht ist, dass die „kleinen Völker“ respektive „kleinen Nationen“, als die sich nationale Minoritäten/Volksgruppen gerne bezeichnen, weil sie sich als solche verstehen, in jenen Staaten, in denen sie daheim sind, der kollektiven Schutzrechte entbehren, so lange werden sie für diese ein nicht zu unterschätzender Unruhefaktor sein. Enttäuscht sind sie von der EU, von der sie sich in gewisser Weise „Erlösung“ erhoff(t)en. Denn abgesehen von dem den Volksgruppen vom Europäischen Parlament 1991 deklaratorisch zugestandenen „Recht auf demokratische Selbstverwaltung“, womit „kommunale und regionale Selbstverwaltung bzw. Selbstverwaltung einzelner Gruppen“ zu verstehen ist, und abgesehen vom 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon, mithilfe dessen erstmals die „Rechte der Angehörigen von Minderheiten“ (als Teil der Menschenrechte) als Artikel 2 des EU-Vertrags (EUV) in den EU-Wertekanon aufgenommen worden sind, hat sich just das supranationale Gebilde EU als solches den im Zentrum der Bedürfnisse aller nationalen Minderheiten stehenden überindividuellen, also kollektiv einklagbaren Schutzrechten weithin entzogen. Dabei hätten die nationalen Minderheiten – über die (nach dem Brexit verbleibenden) EU-Mitgliedstaaten hinaus – einen Platz und kollektivrechtlichen Rang verdient, der ihnen allein schon wegen ihrer quantitativen Bedeutung eigentlich zustünde.
Dies führt eine soeben in überarbeiteter und aktualisierter Auflage erschienene Publikation [Pan, Christoph/Pfeil, Beate Sibylle/Videsott, Paul: Die Volksgruppen in Europa. Handbuch der europäischen Volksgruppen; 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage; XLIX, 477 Seiten; Verlag Österreich, Wien/Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2016] geradezu überdeutlich vor Augen. Demnach leben zwischen Atlantik und Ural 768 Millionen Menschen in 38 minderheitenrelevanten Staaten und über 100 größere oder kleinere Völker. Jeder siebte Bewohner Europas fühlt sich einer Minderheit zugehörig, denn ein fast ein Siebtel aller Europäer, nämlich gut 107 Millionen Menschen, sind Angehörige größerer respektive kleinerer Minderheiten. Dabei sind ausweislich der klaren und präzisen Zu- sowie Einordnung der Autoren die meisten der „38 minderheitenrelevanten Staaten Europas als Nationalstaaten konzipiert“, wenngleich sie tatsächlich „[…] ethnisch inhomogen und in Wirklichkeit multinationale Staaten mit traditionellen Volksgruppen bzw nationalen oder ethnischen Minderheiten sind, deren Bevölkerungsanteil von einigen wenigen Prozent bis zu 48% (z.B. Montenegro) reicht.“ (Pan/Pfeil, Seite 4) Daher stellen Christoph Pan und Beate Sibylle Pfeil im Einführungskapitel zu Recht fest: Ethnische Homogenität in einem Staat, wie z.B. in Island oder San Marino, ist also die auf einige Zwergstaaten beschränkte Ausnahme und keinesfalls die Regel. Das hieraus sich ergebende Spannungsverhältnis zwischen nationalstaatlichem Organisationsmodell und dem soziologischen Phänomen Ethnizität markiert einen wichtigen Gesichtspunkt dessen, was unter dem herkömmlichen Begriff Nationalitätenkonflikt die europäische Entwicklung bis zur Gegenwart nachhaltig beeinflusst. (Seite 4)
Was Inguschen sind oder Tschetschenen, Tataren oder Gagausen, Georgier (Grusinier) oder Abchasen, Osseten respektive Tscherkessen/Adygen bzw. andere der mehr als 100 kaukasischen und transkaukasischen Völkerschaften und Minderheiten, das ist aufmerksamen Medien-„Konsumenten“ und politisch interessierten Zeitgenossen in den letzten 25 Jahren immer wieder durch Nationalitätenkonflikte bis hin zu kriegerischen Handlungen bekannt geworden. Doch viele der zahlreichen europäischen Minderheiten – wie beispielsweise Agulier, Awaren, Balkaren, Baschkiren, Bessermenen, Darginer, Ingrier/Ischoren, Kabardiner, Karatschaier, Karaimer, Kalmücken, Karelier, Lakken, Lesgier, Lipowener, Mordwinen, Nogaier, Permjaken, Rutuler, Udmurten, Syrjänen, Tabasaraner, Taten, Tscheremissen, Tsachurier, Tschuwaschen und Wepsen in Russland; beispielsweise auch Aromunen/Wlachen, Arvaniten, Bunjewatzen, Goranen, Lasen auf dem Balkan – sind weder dem Namen nach noch nach Zugehörigkeit zu Staaten oder Sprachen bzw. Sprachfamilien bekannt.
Europa ist überaus reich an Kulturen und Sprachen; sie sind sozusagen konstitutives Element des Kontinents. Zu deren Erhaltung bedarf es, wie die Autoren im politisch-rechtlichen Teil ihres Opus magnum aufzeigen, einer Ergänzung der durch die Menschenrechte verbürgten Gleichberechtigung der Individuen durch das – im alten Österreich wohlbekannte – Prinzip der Gleichberechtigung der Völker und Ethnien (Pan, Seite 268). Die geeigneten Instrumente zur Verwirklichung gleichberechtigter „nationaler Partnerschaften“ aus Mehrheit(sstaatsvolk) und nationaler/nationalen Minderheit/en wären übernational geltende Volksgruppen(schutz)rechte, nationale Minderheitenrecht(sinstrumentari)e(n) und das Zugestehen von (Territorial-, Kultur- bzw. Personal- und/oder Lokal-)Autonomie; alle Arten gebunden an statutarisch geregelte Formen politischer Selbstverwaltung (Pan/Pfeil, S 23-28).
Weil die quantitative Dimension der Ethnizität in Europa kaum (oder allenfalls Spezialisten) bekannt ist und daher wenig Augenmerk auf sich lenkt, fühl(t)en sich die ihrem wissenschaftlichen Ethos verpflichteten Autoren herausgefordert, diesem Umstand abzuhelfen. Dem ist insbesondere jener empirische Teil ihres voluminösen, konsequent durchdachten Werks geschuldet, der mit übersichtlichen Karten, zahlreichen Tabellen und Graphiken die Gesamtübersicht über die Vielfalt der in Europa lebenden Völker und ihrer Sprachen darbietet.
Die drei Autoren dieses Standardwerks – Pan ist Rechtssoziologe (und auch in Ungarn wohlbekannt sowie wegen seiner Mitwirkung an der ungarischen Minderheitengesetzgebung mit einem hohen Orden geehrt), Pfeil Juristin mit ausgeprägtem Schwerpunkt Minderheitenrecht, Paul Videsott Romanist – sind vielfach wissenschaftlich ausgewiesene Fachleute von Rang. Pan stand von 1961 bis 2013 an der Spitze des in Bozen ansässigen Südtiroler Volksgruppen-Instituts (SVI), Pfeil ist seit 1999 stellvertretende Institutsleiterin, Videsott – Angehöriger der ladinischen Minderheit des Landes – hat 2013 die Institutsleitung von Pan übernommen. Die umfassende neuerliche Bestandsaufnahme der Autoren fußt auf der Auswertung aller relevanten Volkszählungsergebnisse, welche sich zwischen 2009 und 2014 ergaben, und ruht analytisch und prospektiv auf jahrzehntelanger Forschungstätigkeit. Was dabei an konzisen und luziden Ergebnissen herausgekommen ist sowie nunmehr höchst umfassend und über alle Maßen tiefschürfend vorgestellt wird, ist als unerlässliche Grundlage für die fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den rund um den Komplex „Die Volksgruppenfrage als das alte Problem im neuen Europa“ angesiedelten und von den Autoren beleuchteten sowie minutiös aufgefächerten Themen zu rühmen.
Nicht allein das: Die höchst beeindruckende Publikation sei vor allem der europäischen Politik als Mahnung zur Selbstvergewisserung angeraten sowie politischen und ökonomisch-sozialen Entscheidungsträgern in (und zwischen) den Nationalstaaten geradezu als „Handwerkszeug“ anempfohlen. Insbesondere die „Denkanstöße“ im abschließenden Kapitel „Kollektiver Volksgruppenschutz und Separatismus“ (Pfeil, S 422-424) seien ihnen nachdrücklich ans Herz gelegt.