„Mit einer Strategie, sich hinter einem gemeinsamen Kandidaten zu stellen, hat die Opposition wohl die richtigen Konsequenzen aus den letzten erfolglosen Wahlen gezogen. Doch bleibt das ländliche Ungarn eine Hochburg der Regierungsparteien, dort blieb auch eine einheitlich auftretende Opposition weitgehend erfolglos“ – steht im Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung Ungarn zu den ungarischen Kommunalwahlen. Die Organisation gibt eine detaillierte Analyse über die Wahlen, unter anderem über die Ausgangslage der ungarischen Politik, über die Entwicklungen im Vorfeld der Wahl, sowie über die Ergebnisse und deren Konsequenzen im Land. Der Bericht wird hier ohne wesentliche Änderungen veröffentlicht.
Am 13. Oktober 2019 fanden die mit Spannung erwarteten Kommunalwahlen in Ungarn statt. Die etwas mehr als 8 Millionen Wahlberechtigten waren aufgerufen, ihre Bürgermeister, die Stadt- und Gemeinderäte sowie die 19 Komitatsversammlungen (regionale Selbstverwaltungseinheiten) zu wählen. Die landesweite Wahlbeteiligung stieg auf 48,57%. Ferner fanden zeitgleich die Wahlen zu den Nationalitätenselbstverwaltungen der 13 offiziell anerkannten autochthonen Minderheiten in Ungarn statt.
Ausgangslage
Der Erdrutschsieg von Fidesz/KDNP bei den Kommunalwahlen im Jahre 2006 bildete die Grundlage für viele weitere Wahlerfolge des Parteienbündnisses, insbesondere für die Wahlen zur Ungarischen Nationalversammlung 2010, bei denen die Listenverbindung beider Parteien eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit errang. Seither war Fidesz/KDNP nicht nur landesweit, sondern auch und gerade in den Kommunen stark. Die Parteiführung betonte bei vielen Gelegenheiten, dass die seit Herbst 2006 abgehaltenen 11 landesweiten Abstimmungen (neun Wahlen und zwei Volksabstimmungen) deutlich zu ihren Gunsten entschieden wurden.
Der Urnengang am 13. Oktober 2019 stoppte nun den Aufwärtstrend
Die heutige Situation erinnert an die politischen Verhältnisse von 2006. Auch damals war Fidesz/KDNP zwar in vielen ländlichen Gebieten stark, doch die ungarische Hauptstadt von 1990 bis 2010 blieb weiterhin in den Händen einer politisch linksorientierten Mehrheit. Vor fünf Jahren errang das Regierungsbündnis in Budapest das Amt des Oberbürgermeisters und 17 der 23 Bezirksbürgermeisterposten von Budapest sowie die Bürgermeisterwahl in 20 der 23 Komitatsstädte. Die Stadt Hódmezővásárhely ging bei einer Nachwahl im Jahre 2018 verloren. (Zum System der kommunalen Selbstverwaltungen siehe KAS-Länderbericht vom Oktober 2014.)
Entwicklungen im Vorfeld der Wahl
Jahrelang stritten die Oppositionsparteien über die optimale Herangehensweise gegen die Vormachtstellung von Fidesz/KDNP. Im Superwahljahr 2014 mit Parlaments-, EP- und Kommunalwahlen wurden drei völlig unterschiedliche Strategien praktiziert. Bei den Parlamentswahlen trat die Opposition zunächst nur mit einer Einheitsliste der Linken an, Angesichts des Verhältniswahlrechts bei den EP-Wahlen versuchten es die Parteien im Alleingang. Bei den Kommunalwahlen einigte sich die Opposition auf eine flexible Anwendung beider Strategien. Alle drei Modelle erfüllten nicht die Erwartungen. So kam 2014 bei der Kommunalwahl in Budapest der Fidesz-Kandidat und Amtsinhaber István Tarlós auf 49,06%, der damals Zweitplatzierte errang 36,04%, drei weitere Kandidaten der Opposition zusammen etwa 15%.
Die Zersplitterung der Opposition war die Grundlage des Sieges von Tarlós
Im Herbst 2019 jedoch vereinigte sich die Opposition hinter dem grün-links orientierten Politiker Gergely Szilveszter Karácsony. Er hatte zuvor zwei Wahlgänge des Nominierungsverfahrens der Opposition für sich entscheiden können und ging deshalb als einziger Gegenkandidat ins Rennen. In diesem Kontext war es ein entscheidender politischer Schachzug, das gesamte Oppositionsspektrum, wie etwa die neue liberale Partei Momentum, die ehemals rechtsradikale Jobbik und die ehemals grün-liberale LMP, hinter dem Kandidaten zu vereinigen. Eine entscheidende Rolle dabei spielte die Tatsache, dass diese Parteien bei den letzten EP-Wahlen eine deutliche Niederlage erlitten hatten, was sie wohl von einem selbständigen Wahlkampf und der Aufstellung eigener Kandidaten abhielt. Die neue liberale Partei Momentum, derzeit insbesondere bei der jungen Stadtbevölkerung populär, tat sich relativ früh mit den linken Parteien zusammen. Ebenso mit dabei war eine neue bürgerliche Gruppierung „Bewegung ein Ungarn aller“, die sich an enttäuschte Fidesz/KDNP Wähler wandte.
Daneben wurde diese Strategie nicht nur bei den OB-Wahlen in Budapest und den Bezirksbürgermeisterwahlen, sondern auch in den Komitatsstädten (große kreisfreie Städte und ebenfalls kreisfreie Komitatshauptstädte) angewandt.
Unmittelbar vor der Kommunalwahl wurde ein Video im Internet verbreitet, das den Fidesz-Bürgermeister von Győr, Zsolt Borkai, und weitere Männer mit leicht bekleideten jungen Frauen bei unmissverständlichen Handlungen zeigte. Die Aufnahmen entstanden vor gut einem Jahr auf einer in der kroatischen Adria ankernden Yacht, die der Politiker angeblich zusammen mit Geschäftsfreunden gechartert haben soll. Investigative Journalisten fanden schnell Details heraus und verwiesen dabei auf dubiose Grundstücksgeschäfte vor einigen Jahren im Rahmen der Erweiterung des Audi-Werkes in Győr. Dabei sollen Freunde des Bürgermeisters einträgliche Geschäfte gemacht haben, von denen diesen Mutmaßungen zufolge auch der Lokalpolitiker profitiert haben könnte. Für die Regierungsparteien bedeutete dieser Skandal kurz vor dem Wahltag ein kommunikatives Fiasko. Ein Rücktritt des Fidesz-Bewerbers hätte der Opposition einen schnellen Sieg in einer als Fidesz-Hochburg geltenden Komitatsstadt verschafft, ein Antreten bei der Wahl würde aber das Selbstverständnis von Fidesz/KDNP als konservative Kraft belastet.
Ministerpräsident Viktor Orbán kündigte erst am Wahlsonntag zu dieser Problematik eine Stellungnahme für nach dem Urnengang an.
Borkai konnte sich in der Wahl denkbar knapp behaupten, wenn auch mit massiven Verlusten. Zwei Tage nach der Wahl trat Borkai aus der Regierungspartei aus, kündigte aber an, als Unabhängiger sein Bürgermeistermandat ausüben zu wollen. Ob der Skandal aber für die Wahlentscheidung an anderen Orten eine Rolle gespielt haben könnte, ist umstritten. Vertreter der Regierungspartei erklärten, dass die Ereignisse in Györ ihnen landesweit und vor allem in Budapest geschadet hätten.
Überraschungssieg der Opposition in Budapest
In Budapest brachten die Kommunalwahlen einige unerwartete Überraschungen. Bei einer auf 51,47% gestiegenen Wahlbeteiligung konnte der von den Oppositionsparteien gemeinsam nominierte Karácsony mit 50,86% (353.593 Stimmen) den langjährigen und anerkannten Oberbürgermeister István Tarlós (Fidesz/KDNP) deutlich schlagen. Dieser errang 44,10% (306.608 Stimmen). Zwei unabhängige Bewerber kamen auf 4,46% bzw. auf 0,58%.
Im Vergleich zu den Ergebnissen vor fünf Jahren votierten in absoluten Zahlen sogar 15.933 Wähler mehr für den Amtsinhaber.
Der Gegenkandidat konnte diesmal aber weitere 51.800 Stimmen zu den 301.793 aus 2014 mobilisieren.
Dieser Erfolg ist möglicherweise auch darauf zurückzuführen, dass mit der Kandidatur eines Vertreters des gesamten politischen Spektrums aller maßgeblichen Oppositionsparteien eine realistische Option für einen Machtwechsel im Amt des Oberbürgermeisters und darüber hinaus ein wirksamer Protest gegen die Politik von Fidesz möglich erschien.
Ein ähnliches Muster ließ sich schon bei der Bürgermeisternachwahl im Februar 2018 im südungarischen Hódmezővásárhely erkennen. Tarlós konnte zwar die 282.583 EP-Stimmen vom Mai 2019 von Fidesz/KDNP noch um 24.025 Stimmen steigern, doch reichte dieser Zuwachs nicht aus. DK, Momentum, MSZP, LMP und Jobbik erhielten im Mai 2019 zusammen 359.198 Stimmen. Es ist davon auszugehen, dass Karácsony mit 353.593 Stimmen in Budapest fast alle diese EP-Wähler wieder an die Urnen bringen konnte. Dies entspricht einem Anteil von 98,4%.
Auch im Budapester Stadtrat stellt die Opposition mit 18 von 33 Mandaten nun die Mehrheit. Dieser besteht aus dem Oberbürgermeister, den gewählten Bezirksbürgermeistern der 23 Stadtbezirke sowie neun Stadträten aus einer Kompensationsliste. Bei der Wahl der Bezirksbürgermeister in Budapest waren die Oppositionsparteien in 14 von 23 Budapester Stadtbezirken erfolgreich, neun gingen an Fidesz/KDNP. Bei den letzten Kommunalwahlen besetzte Fidesz/KDNP noch 17 Bürgermeisterposten.
Neben der Abwahl des Oberbürgermeisters dürfte der Verlust der als traditionell bürgerlich geltenden Budaer Stadtbezirke, wie des 1. Bezirks oder des 2. Bezirks, die Regierungsparteien besonders schmerzen.
Auch in diesen Bezirken verliefen die Wahlen nach dem weiter vorne beschriebenen Muster: Wo immer die Opposition mit einem Kandidaten antrat, gelingt ihr trotz gleicher oder sogar zunehmender Unterstützung für Fidesz/KDNP die bessere Mobilisierung. Mit einer Ausnahme gingen alle innerstädtischen Bezirke an die Opposition, während Fidesz/KDNP ansonsten in einigen Außenbezirken erfolgreich war. Auch in den Städten des Budapester Ballungsraums konnten die Oppositionsparteien überraschend beachtliche Erfolge erzielen.
Zugewinne auch in den Komitatsstädten
Im Jahre 2014 gewann Fidesz/KDNP noch 20 der 23 Komitatstädte, jetzt stellen sie nur noch in 13 Städten den Bürgermeister, in nur 10 dieser Städte haben sie auch eine Mehrheit im Stadtrat.
Die Opposition konnte ihre drei Hochburgen in Szeged, Salgótarján sowie Hódmezővásárhely mit einem Stimmenanteil von deutlich über 50% halten und mit Dunaújváros, Miskolc, Pécs, Érd, Tatabánya, Szombathely und Eger sieben weitere Komitatsstädte erobern, mit Bürgermeister und Stadtratsmehrheit.
Auch hier wurde oftmals das Budapester Modell kopiert, d.h. die Opposition war nicht zersplittert und trat mit einem Kandidaten an. Dabei handelt es sich mit Ausnahme von Eger und Szombathely um Städte mit einer ausgeprägt linken politischen Vergangenheit. Die traditionellen Bindungen scheinen wohl wieder zu tragen. Politische Analysten gehen davon aus, dass die Ausnahmesituation einer durchgängigen Fidesz-Vorherrschaft auf allen Ebenen möglicherweise beendet sei und eine Rückkehr zu normalen Verhältnissen eines gesunden politischen Wettbewerbs stattgefunden hätte. Es kann angesichts der Ergebnisse in der Tat insgesamt von einem politisch ausgewogeneren Bild gesprochen werden, das mit den Ergebnissen von 2006 vergleichbar ist: eine Mehrheit der Komitatsstädte liegt in den Händen von Fidesz, in Budapest und in den Bezirken der Hauptstadt dominieren die links und grün-liberalen Parteien. Der politische Wettbewerb hat an Fahrt aufgenommen und das Entstehen einer nachhaltigen bipolaren politischen Landschaft ist wahrscheinlicher geworden.
Fidesz/KDNP weiterhin dominant in den Komitatsversammlungen
Eine Wahl von Parteilisten ist in der ungarischen Kommunalverfassung nur außerhalb von Budapest und der Komitatsstädte möglich. Hierbei geben die Wähler nicht nur ihre Stimme dem jeweiligen Bürgermeisterkandidaten und den Bewerbern für den Gemeinde- oder Stadtrat, sondern auch einer Partei ihrer Wahl auf der Komitatsliste. Die Ergebnisse dieser Listenwahl sind aber nur bedingt mit denen eines nationalen Urnengangs vergleichbar, da die Einwohner der 23 Komitatsstädte und von Budapest dabei keine Listenstimme haben. 2014 verfügte Fidesz/KDNP in allen 19 Komitatsversammlungen über eine absolute Mehrheit. Auch im Jahre 2019 konnte dieses Ergebnis gehalten werden, wobei in fast allen Komitaten Stimmenzuwächse für Fidesz/KDNP zu verzeichnen waren und die Zahl der Fidesz-Mandatsträger in den Komitatsversammlungen aufwuchs.
Dabei zeigt sich eine schon bei den Wahlen zur Ungarischen Nationalversammlung 2018 beobachtete Tendenz, nach der die Regierungsparteien vor allem in kleineren Städten und Gemeinden gewinnen konnten.
Je größer die Stadt ist, desto erfolgreicher war die Opposition und umso wichtiger wurden die Parteibindung und der Einfluss der nationalen Politik. Fidesz/KDNP versuchte daher im Wahlkampf nicht nur in den Dörfern und kleinen Städten die Befähigung der örtlichen Mandatsträger in den Mittelpunkt zu stellen, sondern auch in größeren Städten und in Budapest wurde ein „Persönlichkeits-Wahlkampf” geführt. Dem gegenüber konzentrierte sich die Opposition auf die Parteizugehörigkeit und den Ausbau eines Machtpols gegen die Zentralregierung.
Erste Reaktionen
Noch in der Wahlnacht rief der abgewählte Oberbürgermeister István Tarlós seine Anhänger zur Besonnenheit auf. Er gratulierte Karácsony und wünschte ihm viel Glück. Er erklärte lakonisch, dass „so etwas [die Wahlniederlage] schon mal passieren könne”. Ministerpräsident Viktor Orbán gratulierte allen neuen Mandatsträgern, auch denen von der Opposition. Er beschrieb die Kommunalwahlen als einen engen Kampf, so wie es in einer Demokratie sein müsse. Er bot Karácsony eine Kooperation an, verwies aber auf das gute Listenergebnis seiner Partei und ihrer Hochburg, dem ländlichen Ungarn. Der Ministerpräsident kündigte an, dass seine Partei nach einer Bewertung und Analyse eine Politik durchführen werde, die die Wahlergebnisse berücksichtige. Der Wahlgewinner Karácsony erklärte, dass Budapest zwar grün und frei werde, er aber auch auf eine Kooperation mit der Regierung setze. Er dankte István Tarlós für seine Verdienste für die Hauptstadt Budapest.
Ausblick
Mit einer Strategie, sich hinter einem gemeinsamen Kandidaten zu stellen, hat die Opposition wohl die richtigen Konsequenzen aus den letzten erfolglosen Wahlen gezogen. Viele politischen Beobachter hatten ihr ein solches Vorgehen anfangs nicht zugetraut. Ihre Kooperationsstrategie ist fast aufgegangen, das städtische Ungarn ist jeweils etwa zur Hälfte in der Hand von Regierung und Opposition.
Das ländliche Ungarn bleibt eine Hochburg der Regierungsparteien, dort blieb auch eine einheitlich auftretende Opposition weitgehend erfolglos.
Die Städte sind nun ein wichtiges Rückzugsgebiet für die Opposition. Mit einer Situation „einer gegen einen” könnte das bipolare politische System zurückkehren. Dem von Viktor Orbán vor zehn Jahren angedachte zentrale Kraftfeld, mit Fidesz in der Mitte und jeweils einer Partei rechts und links davon, könnte durch ein umfassendes oppositionelles Parteienbündnis entgegengewirkt werden. Die Regierungsparteien bestimmen aber weiterhin die nationale Politik und Viktor Orbán bleibt die unbestrittene zentrale politische Führungspersönlichkeit des Landes. Ob es der Opposition gelingen wird, auch bei den kommenden Wahlen wieder gemeinsam auftreten zu können oder ob jetzt ein Machtkampf über die Meinungsführerschaft in der Opposition ausbricht, bleibt abzuwarten. Die nächsten regulären nationalen Wahlen stehen erst wieder für das Frühjahr 2022 an.
(Via: KAS Ungarn – Bence Bauer, LL.M, Frank Spengler, Beitragsbild: MTI – Zsolt Szigetváry)