1956. Nach 4 Jahren kehrt der Familienvater unerwartet zu seinen Kindern und zu seiner Ehefrau zurück, nachdem er 1952 aus Ungarn nach Österreich geflohen war. Er entging der sowjetischen Vergeltung, jahrelang konnte er nicht mal ein Zeichen von sich geben. Ein paar Tage später musste er aber erneut fliehen, diesmal mit der Familie. Eines seiner drei Kinder, András Smuk, ist damals 9 Jahre alt. Vielleicht hat ihn dieses Familienschicksal bestärkt, sich für das Ungarntum einzusetzen, obwohl er seit seiner Kindheit im Ausland lebt. Zuerst war er Mitglied, später Präsident des, in diesem Jahr 57-jährigen, „Europa-Clubs” in Wien. Er hat zahlreiche Auszeichnungen für die Bewahrung der ungarischen Kultur, Geschichte und ungarischen Werte erhalten. Dieses Jahr wurden diese mit dem „Freunde von Ungarn“ Preis erweitert. Interview.
Wir feiern den Geburtstag des „Europa-Clubs”. Die Geschichte des Clubs geht aus verschiedenen Schicksalen hervor, auch aus Ihrer. Ich möchte gerne in der Zeit zurückgehen bis in das Jahr 1956, als Ihr Vater nach 4 Jahren unerwartet zu Hause auftauchte, nachdem er Ungarn 1952 verlassen hatte. Was war das für ein Gefühl?
Ja, mein Vater hat das Land 1952 verlassen, weil man unsere Familie aussiedeln wollte und er das nicht ertragen hätte. Er wusste, wo man die Grenze überqueren konnte, wo es Minen geben konnte: Er kam auch unbeschadet durch, aber da Burgenland damals sowjetisches Besatzungsgebiet war, hat man auf ihn geschossen. In einem Maisfeld gelang ihm die Flucht. Am Abend ging er in das nahe gelegene Andau (Mosontarcsa) zu einer bekannten Familie, sie haben ihm weitergeholfen. In einem Wagen, zwischen Maisstängeln versteckt, wurde er in die englische Besatzungszone transportiert. Er kam nach Graz, wurde von dort aber in ein Dorf in der Obersteiermark geschickt, wo er bis ´56 in einem Gasthaus arbeitete.
Wir haben bis dahin nicht gewusst, wo er ist, was mit ihm passiert ist, ob er überhaupt noch lebt. Inzwischen wurde unser Haus regelmäßig von ÁVÓs umstellt (Államvédelmi Hatóság, war zwischen 1948 und 1957 die nach dem Muster des sowjetischen NKGB gebildete politische Polizei in Ungarn). Sie kamen auch nachts um 2 Uhr, um nach meinem Vater zu suchen
Wir Kinder schauten mit offenen Mündern zu und fragten uns, was die hier wollten. Es waren sehr unangenehme Momente… Dann tauchte ´56 plötzlich mein Vater auf.
Sind wir zeitlich schon nach dem Ausbruch der Revolution?
Ja, er hatte in der Presse von der Revolution gehört, weshalb er mit dem königlichen Gefühl nach Hause kam: „Ich bin jetzt zu Hause und ich bleibe auch zu Hause”. Er hatte nicht mehr damit gerechnet, noch einmal fliehen zu müssen. Diesmal gingen wir nicht zu Fuß, im Auto saßen die drei Kinder und meine Eltern.
Meine Großmutter traute sich nicht mitzukommen, sie blieb zu Hause. Allerdings lief unser Hund neben uns her.
Als ich im Wagen saß, bemerkte ich auf einmal, dass die zu Fuß flüchtenden Menschen neben uns irgendwelche roten Hefte und Papiere auf den Straßenrand warfen. Diese roten Bücher waren ihre Parteibücher. Später habe ich gelesen und fand heraus, dass die ersten Dissidenten nur ÁVÓs waren.
In Österreich sind wir zuerst bei Bekannten untergekommen, danach in einer Kaserne, dann in die Steiermark und nach Wien. Zuerst ging ich auf das Innsbrucker Ungarische Gymnasium, was sie leider geschlossen haben. Von da aus kam ich nach Burg Kastl in Deutschland. In Wien habe ich an der Universität Geologie studiert und war dann bei der Firma Shell/Mobil an Öl- und Gasbohrungen beteiligt. Das habe ich bis zu meiner Rente gemacht. Dazu kam später das Vereinsleben.
Ein Gedanke des Bruders von Kaiser Franz Joseph, Miksa, beeinflusste mich, als er schrieb, dass das menschliche Leben aus drei Phasen besteht: der Jugend, die Zeit der Liebe, Ehe, des Nestbaus; danach kommt die Großfamilie, sprich die Nation, der man dienen, die man pflegen soll, und am Ende der Rückblick.
Die zweite Phase hat mich besonders beeinflusst. Mir wurde klar, dass man für diese Großfamilie, also die Nation, ihre Sprache und deren Kultur sorgen muss, dass ich selbst für sie sorgen muss.
Wir kommen zur Gründung des „Europa”-Clubs. Die Organisation wurde von jungen Ungarn gegründet, die 1956 aus dem Land ausgewandert waren. Er wurde seit 1964 mehrfach umgewandelt und war zunächst ein Treffpunkt für junge Ungarn. Warum veränderte sich das Vereinsleben fortlaufend?
Die jungen Leute im Ausland haben sich verständlicherweise gesucht. Sie wollten zusammen feiern, Spaß haben, tanzen. Erst später wurde ihnen klar, dass man die Gemeinschaft auch pflegen muss.
In erster Linie kamen junge Arbeiter zusammen. Später haben sich ihnen auch Studenten und Intellektuelle angeschlossen, dann wurde der Verein zu einer richtigen Kulturinstitution.
Sie sagten früher in einem Interview, dass „Wurzellosigkeit” und „Unerfahrenheit” für diese jungen Menschen charakteristisch waren, die nach Wien emigriert sind. Was genau verstehen Sie darunter?
Die jungen Leute sind aus Ungarn geflohen, und für sie gab es dort kein „Zuhause” mehr, aber hier in Österreich waren sie auch noch nicht Zuhause. „Wo bin ich?” „Wohin gehöre ich?” „Wo sind meine Wurzeln?” Solche Fragen haben sie sich gestellt. Sie mussten suchen und forschen, bis sie die Antworten gefunden haben. Es war überhaupt nicht einfach die eigene Identität zu erkennen.
Ungefähr 16 000 Menschen sind hier in Österreich geblieben, weitere Zehntausende sind in andere Länder gegangen, weiter westwärts. Unter den Clubmitgliedern sind übrigens einige nach dem Regimewechsel wieder nach Hause gekommen.
Wenn man sich anschaut, wer in der Gegend um den Balaton Häuser gekauft hat, wird sehen können, dass unter ihnen viele Ungarn aus Westeuropa sind.
Wie hat die Politik das Vereinsleben geprägt? Inwieweit hat die sozialistische Macht in Ungarn versucht, an diejenigen heranzukommen, die vor dem Regimewechsel „dissidierten”?
Bis zum Regimewechsel hat uns die Politik sehr beeinflusst:
Wir lehnten den Kommunismus ab, wir konnten ihn in keinster Weise akzeptieren. Wo auch immer wir konnten, protestierten wir gegen jedes kommunistische Element.
Nach dem Regimewechsel haben wir uns dafür entschieden, von der Parteipolitik fernzubleiben. Stattdessen beschritten wir stärker den kulturellen Weg. Das bedeutete nicht, dass wir keine politische Wahrnehmung hatten, aber wir wollten frei von Parteien funktionieren. Daran glauben wir bis heute. Ich bestreite jedoch nicht, dass für mich die konservativen Parteien wichtiger sind als die linken.
Sie haben öfters erwähnt, dass die Kultur in Ihrem Leben eine sehr wichtige Rolle gespielt hat, was normalerweise typisch für die in der Diaspora lebenden ungarischen Gemeinden ist. Wie sieht das bei einem Verein in Österreich aus? Ist die Kraft der Kultur um das Ungarntum zu bewahren, hier einfacher als, sagen wir, in Übersee? Vor allem seit dem Regimewechsel, kaum eine Stunde von der ungarischen Grenze entfernt…
Vor dem Regimewechsel hatten wir hauptsächlich mit ungarischen Gemeinden aus Westeuropa Kontakt, Verbände aus Zürich, Lugano, München, usw.. Diese Beziehungen brachen nach 1989 zusammen, weil sich jeder lieber nach Ungarn orientierte. Diese konnten wir durch unsere Touren durch das Karpatenbecken ersetzen: wir bereisten Oberungarn, Subkarpatien, ganz Siebenbürgen. Wir besuchten den ungarischen Verein an der dalmatischen Küste, in Split und in Polen. Das interessanteste Erlebnis hatten wir auf Sizilien. Ich hätte nicht gedacht, dass die dort lebenden Menschen so starke ungarische Emotionen haben. Dies lässt sich auf Garibaldi und die Rolle der ungarischen Soldaten zurückführen, die mit ihm Sizilien eroberten. Es gibt dort zum Beispiel Lajos Tüköry, der in Palermo eine eigene Statue hat, eine Straße ist nach ihm benannt, es gibt ein Schild an der Kaserne, in der die Soldaten wohnten und in der örtlichen Kathedrale wurde er begraben. Eine der berührendsten Geschichten handelt von einem sizilianischen Soldaten, der bei den Kämpfen verwundet wurde, Ungarisch lernte und Petőfis Gedichte übersetzte.
Gab es noch andere große Entdeckungen im Leben des Vereins, die, in Bezug auf die Ungarn in der Welt, ihre Aufmerksamkeit erregte?
Unsere Israel-Tour hat uns noch sehr geprägt, auf der wir uns mit israelischen Ungarn getroffen haben. Fast eine halbe Million Ungarn leben dort, noch dazu mit dem gleichen kulturellen Leben wie dem unseren: Sie singen ungarische Lieder, organisieren ungarische Abende, amüsieren sich…
Während der Vereinsvorstellung betonen Sie immer wieder, dass Sie den Geist von ´56 bewahren und weitergeben wollen. Was genau bedeutet das im 21. Jahrhundert?
Seit 60 Jahren feiern wir jedes Jahr den 23. Oktober, den Jahrestag des Ausbruchs der Revolution. Wir legen Kränze nieder, wir nehmen an der Gedenkfeier von Mosonmagyaróvár teil, wo sie während der Revolution zwischen die friedlichen Demonstranten geschossen haben. Hunderte sind damals gestorben. Unter ihnen ein entfernter Verwandter von mir, ein 16-jähriger junger Mann. Früher fuhren wir nach Jánossomorja, in mein Geburtsdorf, wo wir neben der Flüchtlingsstraße 56 einen „Kopjafa” (traditionelle geschnitzte Erinnerungssäule aus Holz) errichteten. Wir besuchen auch Bad-Deutsch-Altenburg, nicht weit von hier.
Dort wurden die Ungarn begraben, die 1956 geflüchtet sind und es entstand ein gemeinsames Grab, aus dem wir das „symbolische Grab der österreichischen Ungarn” geschaffen haben. Deshalb hier an diesem Ort, weil der heilige Stephan die örtliche Kirche gegründet hat.
Im Laufe der Zeit, auch im Kommunismus wurden die Bestattungen eingestellt und die Gräber wurden von den lokalen Österreichern gepflegt. Wir dachten, dass uns das gebührt, also haben wir das übernommen. Seitdem haben wir auch eine Statue vom heiligen Stephan errichtet. So haben wir schon einen doppelten Grund diesen Ort zu besuchen.
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Sie haben zahlreiche Auszeichnungen für Ihre Arbeit für die in der Diaspora lebenden Ungarn erhalten. Darunter das Offizierskreuz des Ungarischen Verdienstordens von unserem Staatspräsidenten. In diesem Jahr können Sie die „Freund von Ungarn” Auszeichnung entgegennehmen. Man kann sagen, dass unsere Stiftung das Gegenteil zu Ihrer Arbeit ist. Während Sie die Ungarn jenseits der Grenzen vereinen, versuchen wir von unserem Heimatland aus, die in der Diaspora lebenden Ungarn zusammenzuhalten. Wie lässt sich der Preis zwischen Ihre anderen Auszeichnungen einordnen?
Wir haben früher die Auszeichnung „Ungarisches Erbe” erhalten, was uns sehr viel bedeutet hat. Als Würdigung wurde geschrieben: „Die Loyalität des Europa Clubs zu dem Geist von 1956 ist ungarisches Erbe”. Das hat uns sehr gutgetan. Inzwischen habe ich auch das Offizierskreuz des Ungarischen Verdienstordens erhalten. Dass ich dazu noch den „Freunde von Ungarn“ Preis erhalte, ist sehr bedeutend und wichtig.
In diesem Jahr wird unsere Organisation, in der Sie auch Mitglied sind, 10 Jahre alt. Wie kann, Ihrer Meinung nach, eine solche Vereinigung zum Erhalt des Ungarntums in der Welt beitragen?
Wenn Sie mit Ihrer Arbeit die Identität, ungarische Werte, die ungarische Geschichte und Kultur weitergeben können, dann lohnt sich die Arbeit schon.
Mit der ungarischen Sprache kann man Beziehungen herstellen. Das ist der wesentliche Faktor, auf den wir auch großes Gewicht legen.
Die ungarischen Schulen jenseits der Grenzen funktionieren, auch Volkstanzvereine sind aktiv. Damit kann man natürlich vor allem die jungen Menschen ansprechen.
Gibt es Mitgliedernachschub?
Es gibt Nachschub, aber es ist nicht einfach. Leider habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich die meisten Jugendlichen nicht für das Nationalbewusstsein interessieren, sie kein Interesse für die Gemeinschaft haben. Bei vielen ist die egoistische, selbsterfüllende, eigennützige Linie stark ausgeprägt. Es ist schwierig, sie mit dem Konzept der nationalen Besinnung anzusprechen. Aber das beschränkt sich nicht territorial, von vielen Orten höre ich das gleiche.
Kommen wir noch einmal zurück ins Jahr 1956. Sie haben erwähnt, dass Ihre Großmutter hiergeblieben ist, als Ihre Familie das Land verlassen hat. Wann haben Sie sich zum ersten Mal wieder getroffen?
Erst nach dem Regimewechsel. Unser Haus wurde zu einem Lehrerhaus umgebaut, meine Großmutter hat einen eigenen Teil zum Wohnen bekommen, da lebte sie. Später holten wir sie auch nach Wien, aber sie wollte nicht hierbleiben, sie wollte unbedingt wieder nach Hause. Ihr hat das Zuhause gefehlt. In diesem Alter wäre diese Veränderung schon sehr schwer gewesen… Sie ist zu Hause gestorben, um das Grab kümmern wir uns. Bis heute kommen wir noch zurück in mein Geburtsdorf.
Und der Hund?
Unser Hund, der eine Weile neben unserem Wagen herlief, hat mein Vater zurückgejagt. Er lief nach Hause, obwohl die Strecke mehr als 10km betrug. Er blieb da bei meiner Großmutter.
(geschrieben von Zsófia Nagy-Vargha, übersetzt von Katharina Haffner, Fotos: Tamás Lénárd)