Die Ärztemission der Ungarischen Katholischen Caritas ist in Transkarpatien unterwegs. Eine große Spendenlieferung haben sie in fünf Mikrobussen mit. Das Ziel ist das Landesinnere, die östlichste, noch von Ungarn bewohnte Siedlung, Jassinja (Kőrösmező). Wir legen 200 Kilometer zurück, suchen verschiedene kleine Dörfer auf dem Weg auf. Zielpunkte, wohin die Überlebenshilfe nur mit Mühe ankommen kann. Vor-Ort-Bericht in der kriegsgefangenen Ukraine.
Die Straßen sind friedlich, überall herrscht lebhaftes Treiben. Menschen machen ihre Einkäufe, sie bereiten sich auf das orthodoxe Ostern vor. Zuhause aber zuckt man zusammen, wenn geklingelt wird. Die Rekrutierung läuft, die Vorladung wird den Betroffenen persönlich übergeben. Einige hundert Kilometer von hier ist Krieg. Städte liegen bereits in Schutt und Asche, unzählige Zivilisten sind auf der Flucht. Etwa 7 Millionen Menschen suchen Obhut innerhalb des Landes, davon 500.000 in Transkarpatien, eine enorm hohe Zahl für das Gebiet mit nur einer Million Einwohnern.
Ihr Schicksaal bewegt die Herzen vieler: Die Kommunalverwaltungen in Zusammenarbeit mit den Hilfsorganisationen und Kirchen sind im Dienst, die Hilfsbereitschaft und Solidarität der Menschen ist überall stark zu spüren.
Überwältigend ist die große Spendenbereitschaft. Auch die Mitarbeiter der Caritas sind in ständigem Austausch mit ihren Partnern vor Ort und tun alles dafür, um Menschen in Not zu unterstützen. Dutzende freiwillige Helfer leisten vor Ort Überlebenshilfe, verteilen Hilfsgüter wie Nahrungsmittel und Medikamente, medizinische Hilfsmittel und stehen den traumatisierten Menschen psychologisch zur Seite. Diese Krise wäre ohne Spendenbereitschaft der Einheimischen und ehrenamtliche Unterstützung nicht zu bewältigen.
In Zusammenarbeit werden Notunterkünfte geschaffen, wo die Menschen Ruhe und Sicherheit finden. Schulgebäude – es gibt seit Ausbruch des Krieges Online Unterricht – renovierungsbedürftige Krankenhäuser wurden als Notunterkunft ausgestattet.
In Wischkowo (Visk) ist das entleerte, ehemalige Krankenhaus als Notunterkunft eingerichtet. Das Gebäude wurde mithilfe der Kommunalverwaltung, Dorfeinwohnern und Spenden der ungarischen Partnersiedlungen innerhalb kürzester Zeit zur Unterkunft für Geflüchtete umfunktioniert. Betten wurden aufgestellt, die Einheimischen trugen Bettwäsche für die 60 Geflüchteten zusammen. „In ein paar Stunden hatten wir alles zur Verfügung. Wir tun alles, was wir können, halten fest zusammen“ – erklärt die stellvertretende Bürgermeisterin, Renate Varenka. Die Kommunalverwaltung baute die Stromversorgung aus, die Wasserleitung und die Heizung wurden repariert. Die ungarischen Partnerstädte spendeten Haushaltsgeräte, wie Mikrowellenherd, Kochplatte, Waschmaschine, Fernseher. „Wir sind bemüht, lebenswürdige Verhältnisse zu schaffen“ – sagte Renate Varenka. Hier haben so 60 Menschen ein Zuhause gefunden. Viele sind Mütter, haben kleine Kinder an den Händen. Diese jungen Frauen wirken sehr stark.
Eine Frau ist mit ihrer zweijährigen Tochter aus Tschernihiw geflüchtet. Die Frau, im siebten Monat schwanger, hat mit dem kleinen Mädchen zwei Wochen im Keller verbracht. Sie hat ihr Baby hier zur Welt gebracht. Das kleine Mädchen ist zwei Wochen alt. Sie bewohnen ein Zimmer, das mit frischer Wäsche vollgehängt ist. Ihr Mann ist im Krieg, er weiß nicht einmal, dass seine zweite Tochter zur Welt kam.
Es sind auch größere Kinder mit, einige sind mit ihren Handys beschäftigt, zwei Mädchen sitzen in abgelegenen Ecken, sie nehmen online am Unterricht teil. Das alte Gebäude ist sauber, überall ist Ordnung. Eine Frau, Aljona aus Irpin organsiert die Hausordnung. Die Frauen sind eingeteilt, jeder ist an der Hausarbeit beteiligt.
Von Wischkowo setzten wir unseren Weg nach Osten fort. Wir machen halt in Tjatschiv und Solotwyno, wo von der Caritas Suppenkuchen mit Nahrungsmitteln versorgt werden. Hier treffen wir Andrea, eine einheimische Frau, die sich an der Versorgung der Geflüchteten beteiligt. Die Ungarin spricht über die Uneinigkeiten, die Menschen, Familien, sogar Brüder und Schwester trennen. Sie hat 27 Jahre mit Ukrainern mit voller Zufriedenheit zusammengearbeitet, aber jetzt wird ihr vorgeworfen, dass sie Ungarin ist. „Ich habe Angst, dass das Lebens unserer Kinder enorm schwer sein wird“ – sagt sie.
Vor hier führt unser Weg immer entlang der Theiss. Auf der gegenüber liegenden Seite des Flusses ist Rumänien. Auf dem Flußufer wurde kilometerlang Stacheldrahtzaun aufgestellt, um die Flucht nach Rumänien zu verhindern. Auf dem Weg sind Riesenplakate angeschlagen: alle in der ukrainischen Nationalfarbe, gelb und blau. „Gott, du rettest uns“, „Gott sei Dank, dass unsere Augen den Morgen des neuen Tages erblicken konnten!“ „Mit Gott besiege ich den Feind.“ „Gott gib unseren Soldaten Kraft!“ – sie drücken ein Klammern auf Gott aus. In dieser tiefen Krisensituation spürt der Mensch, sein Leben ist in Gottes Händen. Einheimische sagen, dass nun bedeutend mehr Menschen die Gottesdienste besuchen. Priester berichten, wenn sie Geflüchtete fragen, was sie brauchen, sie bitten um Gebet. Eine Gebetskette wurde gestartet, „Adoptiere einen Soldaten!“, der viele folgen, und Soldaten erzählen, sie erleben die transzendentale Kraft in schwierigen Situationen.
Es ist spät Nachmittag, als wir in Jassinja ankommen. Unser Weg führt in die ungarisch sprachige Schule, deren Gebäude jetzt als Lager für die Hilfsgüter dient. Diese Schule zusammen mit einem ungarischen Kindergarten wurde mit Hilfe Ungarns nach 80 Jahren Stillegung 2002 wieder eröffnet. Heute werden insgesamt 170 Kinder hier erzogen. Es ist eine Herausforderung, die Hilfsgüter hierher zu bringen, diese Ortschaft ist im Osten das letzte Dorf, wo noch eine ungarische Minderheit lebt, 10% der 8000 Einwohner. Die Spenden, die hier ankommen, sind nicht nur Mittel des Überlebens, sondern Zeichen, dass sie in der Ferne nicht vergessen wurden.
In Jassinja sind auch Geflüchtete untergebracht. Die große ukrainische Schule wurde in eine Notunterkunft umfunktioniert. In den Klassenzimmern stehen Feldbetten und Matratzen, es sind beinahe 70 Menschen hier. Im Schulgebäude organisierte Ilona, eine Frau aus der Ortschaft die Versorgung der Geflüchteten in der Schule. Ilona leitet die Küche, mit Hilfe der Geflüchteten werden hier täglich 350 Mittag- und Abendessen gekocht. Ihre Tochter, Alexandra hilft uns als Dolmetscherin bei unserem Besuch. Alexandras ganzes Mitgefühl gilt den Menschen, die auf der Flucht sind. Sie arbeitet in Ungarn, verbringt die Osterferien zu Hause.
Eine Familie aus Irpin erzählt uns: Wir haben nie daran gedacht, wegzugehen. Irpin ist unsere Heimatstadt. Wir haben sie nie verlassen.“ Für die Familie scheint am wichtigsten zu sein, wann sie in ihre Heimat zurückkehren können.
Eine Frau ist aus Mariupol.
Wir haben die Stadt Mariupol verlassen, als die Stadt schon umzingelt war und wiederholt mit Artillerie und aus der Luft bombardiert wurde. Wir mussten im Keller Schutz suchen. Lebensmittel und Wasser waren nicht vorhanden. Noch rechtzeitig haben wir eine Badewanne mit Wasser aufgefüllt, zwei Wochen lang haben wir daraus getrunken
Eine Frau ist mit ihrem dreijährigen Sohn gerade angekommen. Sie verabschiedete sich vor ein paar Stunden von ihrem Mann und weiß nicht, wann und ob sie einander wiedersehen werden.
Das geht vielen so, sie wissen nicht, wo ihre Verwandten sind oder ob das eigene Haus noch steht.
In der Pfarre sind Geflüchtete aus Harkiv. Als wir sie besuchten, bestanden sie darauf, uns Tee und Kekse anzubieten, das, was sie haben, mit uns zu teilen.
Eine Frau hat den Mann im Kampf. Sie sehnt sich nach dem Ende des Krieges, aber sie sagt, eher ein Krieg, als ein schlechter Frieden. Sie hofft auf Sieg. Anders als der alte Mann, Vladimir Ivanovic. Er gehört der Generation, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt hat. Er weiß, dass nichts wichtiger ist, als der Frieden, und es nichts Kostbares gibt, als Menschenleben.
Viel Leid, Unsicherheit, Angst überall. Niemand weiß, wie die Zukunft sein wird, wie der Krieg ausgeht. Eines ist sicher: die Auswirkungen des Krieges werden lange anhalten.
(geschrieben von Éva Trauttwein, Fotos: Zita Merényi)