Jeder verfolgt einen anderen Wunsch auf dem Jakobsweg. Eines haben sie aber gemeinsam: jeder wünscht Erneuerung. Die knapp 1000 Kilometer lange Strecke, das 40 Tage Unterwegssein, Rituale der Pilgerschaft vertiefen und befestigen den Willen, und machen den Menschen fähig, zu Hause ankommend ein verändertes Leben zu führen. Zum Weltpilgertag, dem 25. Juli befragten wir Csaba Ujvári, Lehrer des Franziskanergymnasiums in Szentendre, wie er den Camino erlebte.
Sind Sie als neuer Mensch heimgekommen?
Nein, und ja. Der Jakobsweg ist ein Weg der Heilung, der Klärung, des Friedens, der Völkerverständigung und der Liebe. Diese Erfahrung sowie die körperliche Anstrengung und die Rituale – Verbrennung der getragenen Kleidung und die Festmesse in der Kathedrale – formen den Menschen.
Von Anfang an haben wir mit meinem Weggefährten geplant, bei der Ankunft am letzten Zielpunkt, in Finisterre – eine Verlängerung des Jakobsweges, der westlichste Zipfel des europäischen Kontinents – unsere alte Kleidung zu verbrennen, und neue Kleidung anzuziehen, als Siegel der Erneuerung. Das wurde ein aufregendes Ereignis. Auf unserer 40 tägigen Pilgerschaft war das der einzige düstere Tag. Im Nebel, unter dem bewölkten Himmel legten wir die letzten Kilometer zurück. Überall stand ausgeschrieben: Feuer ist verboten! Was jetzt? Es gab rundherum wenige Menschen, wir beschlossen, unseren Plan fortzusetzen, und legten ein kleines Feuer, T-Shirt, abgenutzte Schuhe landeten in den Flammen.
Plötzlich blieb jemand hinter uns stehen. Mit Aufregung blickten wir auf. Anstatt der befürchteten Polizisten standen zwei Männer da. Österreicher. In der Freude, Nachbarn anzutreffen, umarmten wir uns. Sie wollten sich uns anschließen, legten ihr T-Shirt auf das Feuer. Die rebellischen Ungarn und die regelbefolgenden Österreicher. Bald erschienen Italiener, dann Deutsche. Wir sahen, dass das Feuer die noch akzeptable Größe überschreiten kann und nahmen von der Gruppe Abschied. Das Ritual brannte ein: loslassen, deuten und ändern.
Wie haben Sie das Ziel, das Ankommen in Santiago gefeiert?
Das große Ankommen in Santiago de Compostela war ein Fest der Freude. Menschen, die zum Teil gemeinsam den Weg begangen haben, sich hin und wieder trafen, umarmten einander, viele hatten Tränen in den Augen. Rituale in Santiago de Compostela, die die Bewältigung der Schwierigkeiten feiern, vertiefen das, was im Menschen auf dem Weg aufkommt. Die Pilger füllten die Kathedrale, feierten zusammen im Gottesdienst. Ein wahrer Jubel war das. Zu Beginn der Messe, um die Gläubigen willkommen zu heißen, wird eine Aufstellung der eingetroffenen Pilger verlesen. Bei dieser Lesung wurde auch die Staatsangehörigkeit genannt. Wenn man den Namen hört, kommen Tränen in die Augen. Am Ende ist noch ein einmaliges Ritual, dann kommt der Botafumeiro, vielleicht der größte Weihrauchkessel der Welt, das Wahrzeichen der Kathedrale zum Einsatz. Der 53 kg schwere und 1,50 m hohe Weihrauchkessel wird von der zentralen Kuppel aus, von 6 Männern bewegt. Weihrauchduft und der Gesang des Priesters erfüllt die Kathedrale. Das alles ein Symbol für das Gebet und die spirituelle Reinigung: „Wie ein Rauchopfer steige mein Gebet vor dir auf“.
Mit welchen Fragen machten Sie sich auf den Weg? Was trieb Sie an, zu pilgern?
Abenteuer, körperliche und seelische Herausforderung, die Grenzen der eigenen Belastbarkeit, Austausch von kulturellen Einflüssen, aber am Anfang unbewusst viele Fragen der persönlichen Selbstfindung und beruflicher Wegsuche. Ich fühlte, ich muss mir eine Auszeit genehmigen. Ich unterrichte im Gymnasium der Franziskaner in Szentendre. Als Klassenlehrer hatte ich das erste Jahr mit einer neuen Klasse abgeschlossen. Ich stand beruflich an einem Wendepunkt. Ich wurde älter, die Kinder waren anders. Sie waren nicht zu lenken, wollten über alles selbst bestimmen. Ich fühlte mich einfach unsicher, ich gelangte an einen Punkt, wo ich nicht wusste, wie das weitergehen kann. Auf dem Weg hatte ich Zeit nachzudenken, was zu tun ist. Der Mensch geht nach vorne, ständig kommen Fragen auf, das ganze Leben ist in den Gedanken da. Mich bewegte die Frage, wie kann ich meinen Beruf besser machen, was soll ich ändern, damit mein Leben besser wird. Ich hatte Zeit nachzudenken, und das, was ich als Antwort fand, wirklich anzueignen. Alle Entschlüsse bekamen eine feste Grundlage.
Wie haben Sie die Pilgerschaft organisiert?
Ich habe mit einem Freund zu zweit die Reise angetreten. Wir kannten uns gut, seit Jahren haben wir im gleichen Chor gesungen. 40 Tage haben wir uns zur Verfügung gestellt. Wir haben Camino Frances gewählt, den am meisten gelaufenen Pilgerweg. Er wird der Jakobsweg genannt. Sein Startpunkt ist in St.Jean-Pied-de-Port auf der französischen Seite der Pyrenäen. In 34 Etappen, täglich 20-25 Kilometer bis Santiago, von dort noch 100 bis Finisterre. In St.Jean-Pied-de-Port haben wir uns registriert, und die Pilgerpässe, sowie Informationsbroschüre bekommen. So hatten wir einen Überblick über das Gelände. Von hier ging es los.
40 Tage zu Fuß. Laufen, essen, schlafen und wieder von vorne. Wie wirkt das auf den Menschen?
Jeden Tag starteten wir früh, den Sonnenaufgang erlebten wir schon auf dem Weg. Wir brauchten ungefähr 6 Stunden für den täglichen Abschnitt. Deswegen mussten wir Tempo halten, um am frühen Nachmittag anzukommen, so war es sicher, dass wir eine Unterkunft bekamen. 40 Tage mit dem Weg. Man erlebt Einssein. Ich bin für den Weg, der Weg ist für mich, Ziel ist der Weg selbst. Wald, Wiese, Acker, Feldweg, Bergpfad, Verkehrsweg, mal hinauf, mal hinunter, durch Dörfer, Städte. Der Weg, die Zeit und das große Loslassen. Ich konnte meine Lebensgeschichte deuten, und Entschlüsse zur Veränderung festlegen. Der Weg hat mich geformt. Diese Erlebnisse sind unwiederholbare Momente in meinem Leben. Camino ist die Möglichkeit, einmalige Landschaften zu erkunden, die Luft, die Natur, den Wind zu erleben, und man kann am Wegesrand Gott treffen. Die einfache Lebensweise, der einfache Rhythmus, die Entschleunigung verleiht Kraft und Haltung, um zu einem neuen Selbst zu finden.
Hat sich der Körper an die Belastung gewöhnt?
Der Weg beginnt mit einem großen Auftakt. Man geht von der Kleinstadt St.Jean-Pied-de-Port an der französischen Grenze los, steil hinauf, über die Pyrenäen, von 200 Meter auf 1400, so erreicht man die spanische Kleinstadt, Roncesvalles. Um fünf in der Früh ging’s los. Mit großer Begeisterung, dass wir endlich auf dem Weg sind. Immer hinauf, bald rundherum in Wolken. Wir sahen nur den Weg vor uns. Es war angenehm kühl. Wunderschön. Mit dem ersten Schwung kamen wir rechtzeitig an. Wir bestanden die Feuertaufe. Zurückblickend, habe ich festgestellt, jeder Tag war leichter. Wir gingen los, liefen die Stunden, immer mehr Kilometer waren hinter uns. Aber der Himmel war nicht immer blau. Unsere Beine spürten den Weg, wir erlebten manchmal Schwäche, es gab auch Tiefpunkte. Es gab heiße Tage, ununterbrochen Sonne, aber man musste vorwärts. Für mich ist charakteristisch, dass ich nie aufgebe, ich bin sehr diszipliniert. Manche Dinge ermüden mich bis zur Erschöpfung, trotzdem mache ich weiter. Das Gehen beanspruchte meine Kräfte, aber gelitten habe ich nicht. Ich bin stolz, dass ich den Camino geschafft habe, aber übertreibe meine Leistung nicht.
Wie kamen die Tiefpunkte?
Sowohl emotional, als auch physisch mussten wir uns bewähren. Es gab eine Strecke, Wüste genannt. Eine unendliche Ebene, 16 Kilometer lang nichts, von oben unerbittlich Sonne. Wir liefen und liefen. Alles hat schon wehgetan. Nichts war zu sehen, wir waren am Ende unserer Kräfte, als Hontanas 1 Kilometer ausgeschildert war. Hoffnung, dass wir ankommen, aber auch Zweifel, da in der Ferne nichts zu sehen war. Nach 10 Minuten ein steiler Abhang, in einem kleinen Becken lag das kleine Dorf. Eine große Erleichterung erlebte ich.
Am schwersten war aber, als ich meinen Magen verdorben hatte. Es geschah nach unserer Ankunft in einem Kloster. Eine Gitarre spielte, die Menschen sangen – fröhliche Stimmung hat uns empfangen. Wir schlossen uns an, und nahmen anschließend am Abendessen teil. Mir wurde plötzlich übel, rannte in den Waschraum. Eine Stunde später hatte ich schon Fieber, ich fühlte mich unendlich schwach, so dass wir am nächsten Tag nicht weiter konnten. Ich lag den ganzen Tag im Bett, am drauffolgenden Morgen mussten wir den Weg fortsetzten. Ich hatte kaum Kraft, alle hundert Meter musste ich mich setzen. Ein paar Minuten ausruhen, dann weiter. Langsam kam meine Kondition zurück. Ich verstand, der Kopf entscheidet was man ertragen kann. Ich ging weiter, und gelang am Abend zum Ziel.
Wie war es mit den Bekanntschaften?
Es ist sehr wertvoll, dass unbekannte Menschen für bestimmte Abschnitte Weggefährten werden. Es gab viele Begegnungen mit Menschen, die mich tief beeindruckt haben. Hemmungen fallen auf dem Jakobsweg sehr, sehr schnell. Man spricht einander an, die Menschen sind füreinander da, zeigen Offenheit und Hilfsbereitschaft. Mehrere Ungarn haben wir kennengelernt, aber auch andere Nationen, Norweger, Schweizer, Österreicher, Finnen, sogar Australier kamen ins Gespräch mit uns. Es war immer wieder eine große Freude, jemanden wiederzutreffen. Wir hatten Gelegenheit, heilsame, tiefgreifende Gespräche zu führen. Der Weg hat uns zueinander geführt. Diese Bekanntschaften brachten uns zu einem tieferen Verständnis für das Leben, gaben Erfahrungen, die uns helfen, unseren Horizont zu erweitern.
Wir konnten auch die Gastfreundschaft der Einheimischen erfahren. Einmal war ein Franziskanerpater unser Gastgeber. Als er erfuhr, dass wir aus einer Franziskanerschule kommen, und sogar Klavier spielen können, wurden wir wie Könige bedient. Wir haben die Kraft der Gemeinschaft erleben können. Das werde ich nie vergessen. Der Jakobsweg war für mich vor allem eines: eine Bestätigung und ein Mutmacher.
(geschrieben von Éva Trauttwein, Fotos: Csaba Ujvári)