Rom wird sich außenpolitisch stärker an Brüssel orientieren als UngarnWeiterlesen
Stefano Bottoni (Bologna, 1977 -) ist ein in Budapest lebender italienisch-ungarischer Historiker, der sich hauptsächlich mit der wechselhaften Geschichte der ungarischen Minderheit in Rumänien beschäftigt. Dem Portal PressHub.ro, finanziert von Freedom House Romania, hat er am Dienstag ein Interview über Italien nach den Wahlen gegeben, dessen Aussagen wir für unsere Leser zusammengefasst haben.
Auch wenn Bottoni – gelinde gesagt – kein Freund der ungarischen Regierung ist, kann er aufgrund seiner Vertrautheit mit der ungarische Gegenwart und Geschichte eine Brücke bauen zwischen den beiden Ländern, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Der Historiker erteilt der ideologischen Etikettierung in den Mainstream-Medien eine Absage: Die italienischen Wähler hätten nicht aufgrund ideologischer Kriterien, sondern aus Protest gegen die sehr schwierige Situation, in der sich ihr Land befindet, entschieden. In diesem Zusammenhang ist auch seine Klarstellung bezüglich der politischen Einordnung der FIDESZ zu verstehen. Er halte die ungarische Regierungspartei nicht für rechtsextrem, denn das würde bedeuten, dass die Hälfte der ungarischen Wählerschaft rechtsextrem sei. Bei aller Zurückhaltung, was die Zuweisung links-rechts betrifft, weist der gute Kenner Mittelosteuropas darauf hin, dass die PiS in Polen eine viel rechtere Wählerschaft als diejenige Orbáns habe.
Er beobachtet die Entstehung einer transnationalen Rechten, die über lokale Nationalismen hinausgeht. Ein neuer Konservatismus souveräner Gesinnung formiere sich weltweit um Personen wie Trump, Orbán und Bolsonaro. Themen wie Familie, Homo-Ehe und Einwanderung bringen die Figuren einander näher und ermöglichen es ihnen, bilaterale Probleme zu überwinden, falls sie nicht weit genug voneinander sind, um keine Kontroversen historischen Ursprungs zu haben, wie im östlichen Teil Europas. Am Beispiel Siebenbürgens erklärt der Historiker die paradoxe Situation, dass Nationalisten benachbarter Länder sich doch vertragen können, wenn sie nicht mit der Vergangenheitsbewältigung beschäftigt sind, sondern gemeinsam gegen eine ihnen nicht genehme Brüsseler Agenda auftreten.
„Die pro-ukrainische, Anti-Putin-Linie der Draghi-Regierung wurde von den Wählern abgelehnt“, stellt er fest und bestätigt damit den allgemeinen Eindruck, dass die Europäer keineswegs so begeistert die kompromisslose Unterstützung der Ukraine befürworten, wie uns die Medien glauben lassen wollen. Er hält es für möglich, dass die neue Mitte-Rechts-Regierung in Italien die Brüsseler Politik in Bezug auf die Sanktionen gegen Russland beeinflussen könnte. Bottoni erwartet eine neue politische Konfiguration in Europa, herbeigeführt von Wahlen wie z. B. in Tschechien und Bulgarien und vom zunehmenden Druck, der von etlichen Regierungen auf Brüssel ausgeübt werden wird, sobald das Unwohl der Bürger angesichts der steigenden Energiekosten spürbar zunimmt. Diese Prognose scheint das Urteil ungarischer Beobachter zu bestätigen, wonach der Spielraum der ungarischen Außenpolitik in den nächsten Monaten sich erheblich vergrößern wird.
Hinsichtlich der Familienpolitik lassen die Aussagen Bottonis kein „Wenn und Aber“ zu: Italien sei ein Land, in dem „seit 50 Jahren keine Regierung, gleich welcher Couleur, eine Familienpolitik betrieben hat“. Kein Wunder, wenn kaum Kinder geboren werden. „In Italien braucht man zum Glücklichsein Hunde und Katzen, keine Kinder“, stellt der Familienvater zynisch fest. Der italienische Historiker, der Viktor Orbán ein „Despot in der Mitte Europas“ genannt hat, bestätigt hiermit indirekt die Richtigkeit der ungarischen Familienpolitik, die im Wahlkampf oft zur Sprache kam. Die osteuropäischen Gastarbeiter hätten massiv für Melonis FdI gestimmt, da sie das herkömmliche Familienmodell in Ehren halten.
Keine radikale Wende werde es in Bezug auf die Rechte der sexuellen Minderheiten geben, auch wenn Meloni Orbáns Position teile, da „die gesellschaftlichen Reaktionen sehr stark“ sein würden.
Auch eine Verschärfung der gesetzlichen Bestimmungen zur Abtreibung ist unwahrscheinlich. In Italien sei der Feminismus stark verankert und die lokalen Gemeinschaften stark.
Ein anderes Thema mit ungarischer Relevanz ist die Migration. Bottoni glaubt nicht, dass es Meloni gelingen wird, den Dublin-Vertrag neu zu verhandeln, indem sie eine Flüchtlingsquote für die anderen 27 EU-Mitgliedstaaten und die Seeblockade durchsetzt, wie sie im Wahlkampf versprochen hat. Alle osteuropäischen Regierungen lehnen die Idee einer einheitlichen Einwanderungsquote für alle Mitgliedstaaten strikt ab.
Die von Orbán immer wieder heraufbeschworene Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ist in Italien unbestritten eine alltägliche Erfahrung der Bürger. Die Rechten hätten eine Vorstellung von Ordnung entwickelt, die mit der Forderung „Italiener zuerst!“ verbunden ist. Aber was bedeutet es heute, Italiener zu sein, wenn Italien eine Einwanderungsgesellschaft ist, wo bereits mehrere Generationen ohne italienische Wurzeln leben? „Es ist besser, die Büchse der Pandora nicht zu öffnen“, resümiert der Historiker.
Dass Ungarn im Unterschied zu Italien eines der sichersten Länder Europas ist, hat nicht zuletzt mit der Migrationspolitik seiner Regierung zu tun. Diese Schlussfolgerung ist naheliegend, auch wenn der erklärte Gegner Orbáns in Italien die Büchse der Pandora geschlossen haben will.
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