Einflussreicher rumänischer Publizist wertet Orbán-Rede ausWeiterlesen
Der frühere Dissident Gabriel Andreescu, zweifelsohne eine moralische Autorität des öffentlichen Lebens Rumäniens vor und nach der Wende, hat der rumänischen Tageszeitung Libertatea ein Interview gegeben.
Häufiger Gast der Sommerakademie in Tusnádfürdő (Siebenbürgen), zeichnet sich der Menschenrechtler und Politologe durch ausgewogene Urteile und Einfühlungsvermögen aus. Vier Bücher zur Minderheitenproblematik zeugen davon:
Wandlungen der ethnischen Landkarte Rumäniens (2005), Nationen und Minderheiten (2004), Pages from the Romanian-Hungarian Reconciliation: 1989-1999. The Role of Civic Organizations (2001), Die Roulette. Rumänen und Ungarn, 1990–2000 (2001).
Andreescu will Orbáns umstrittene Äußerungen nicht als rassistisch eingestuft wissen. Er weist darauf hin, dass man – bevor der Stab über den ungarischen Politiker gebrochen wird – die Rede in ihrer Ganzheit und im Zusammenhang mit anderen Stellungnahmen sehen sowie die konkreten Maßnahmen des Ministerpräsidenten inventarisieren muss. Er kann das Gefühl der Überlegenheit anderen gegenüber, ein Merkmal des Rassismus, bei Orbán nicht entdecken. Es ist vielmehr so, dass Orbán die Migration zu seinem Reitpferd gemacht hat. Dabei weißt er sich im Einklang mit seinen Wählern, die das Vordringen der islamischen Zivilisation nach Europa mehr als kritisch beäugen. Es gibt aus progressiver Sicht unbescholtene Denker wie der Italiener Giovanni Sartori, die den wachsenden Anteil der Muslime in der westlichen Welt durchaus als Gefahr für deren Stabilität ansehen.
Zu den Ursachen des nach wie vor bestehenden Misstrauens zwischen Rumänen und Ungarn befragt, verweist der rumänische Politologe auf die unausrottbaren Klischees, wie die angebliche Weigerung der Ungarn ihre rumänischsprachigen Mitbürger zu bedienen sowie auf die noch vorhandene Diskriminierung und die zahlreichen Gesetzesverstöße gegenüber Ungarn. Der Professor ist bemüht, die „geliehenen Erinnerungen” bei seinen Studenten zu dekonstruieren. Er setzt bei der jüngeren Generation an, in der Hoffnung, die traditionelle Feindseligkeit zwischen der rumänischen Mehrheit und der ungarischen Minderheit irgendwann zu überwinden. Beanstandet wird in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Behörden, die unparteiisch sein müssten, oft diejenigen sind, welche die Konflikte schüren.
Andreescu stellt ferner fest, dass die heutige ungarische Welt in Siebenbürgen auf Budapest ausgerichtet ist und die Wertvorstellungen der dortigen Regierungspartei verinnerlicht hat.
Orbán wirft er mangelnde Empathie für die ukrainische Sache vor. Die Ungarn würden ein Kapital der Ehrbarkeit verspielen, wenn sie nicht bereit sind, das, was sich in der Ukraine abspielt als heroischen Kampf für die Freiheit und die Werte Europas anzusehen. Der ansonsten so nüchterne Rumäne wird geradezu pathetisch: „Wenn die Ukraine zusammenbricht, ist nichts mehr sicher“. Die angebliche Gleichgültigkeit der Ungarn würde sich mit der Zeit rächen. Die romantische Zeit, so die Formel von Béla Markó (der wichtigste politische Vertreter der ungarischen Minderheit nach der Wende) für die Jahre, in denen Rumänen und Ungarn solidarisch gegen das Böse waren, sei vorbei, vermutlich deswegen, weil es – zumindest im Inland – nicht mehr so viel Böses gibt, so Andreescu. Zwischen den Zeilen gibt er zu verstehen, dass Putins Russland das Böse sei und die Ungarn es nicht dabei belassen dürfen, den ukrainischen Flüchtlingen gegenüber solidarisch zu sein.
Wenn man kein Verständnis für die ukrainische Tragödie hat, wie kann man dann um Verständnis (in Bezug auf die Verwendung der Muttersprache) bitten, fragt der Politikwissenschaftler die ethnischen Ungarn Rumäniens. Der Zusammenhang wird den meisten Lesern nicht ohne weiteres einleuchten.
Alles in allem aber eine in seiner Differenziertheit einmalige Stellungnahme unter den zahlreichen rumänischen Reaktionen auf Orbáns jüngste Rede in Siebenbürgen.
Beitragsbild: MTI