Wöchentliche Newsletter

Aus der Geschichte für Gegenwart und Zukunft lernen

Ungarn Heute 2023.07.23.

Von Professor Dr. Josef Kern

In der Berichterstattung deutscher Medien über Ungarn fehlt so gut wie nie der warnende Hinweis auf die „autokratische Regierung“ Viktor Orbáns, die „illiberale Demokratie“ und die „Halbdiktatur“ eines „hybriden Regimes“. Die Motivation, warum nahezu die Hälfte aller ungarischen Wahlberechtigten zwischen 1998 und 2002 und erneut ab 2010 sich für Viktor Orbán entschieden haben, wird hingegen nicht hinterfragt. Um hier Hilfestellung zu leisten, begab sich Professor Werner J. Patzelt als Visiting Fellow am Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit im Land selbst auf Spurensuche. Seine Eindrücke und Forschungsergebnisse verarbeitete er im Rahmen eines umfassenden Buches. Als Ergebnis liegt nun ein ausgewogener Band über die für Politik Verantwortlichen in Ungarn vor, der auch die Wähler, ihr Leben, ihr Denken, ihre Mentalität und schließlich ihre im Westen unverstandene politischen Entscheidungsfindung nicht ausklammert.

Bevor der Autor die Entwicklung des Landes ab 1990 analysiert, widmet er 139 Seiten der Geschichte Ungarns von den Anfängen über die Osmanenzeit, der Revolution von 1848/49, der Ära des Kommunismus und dessen Ende. Und das ganz zu Recht, denn bei der Analyse aktueller politischer Problemlösungsversuche in Deutschland vermag man sich zunehmend des Eindrucks nicht zu erwehren, den Akteuren fehle jedes Bewusstsein für Geschichte, aus der man bekanntlich aus Fehlern der Vergangenheit lernen und solche in Gegenwart und Zukunft vermeiden könne.

Um unvoreingenommen Verständnis für einen Staat entwickeln zu können, ist es eben unverzichtbar, den Blick auf seine wechselvolle Historie zu fokussieren. Genau dies unternimmt der Politikwissenschaftler Patzelt in seiner jüngsten Publikation, die einerseits auf der Nutzung einschlägiger Quellen und Fachliteratur beruht, aber auch auf zahlreichen Gesprächen mit Vertretern regierungsnaher wie oppositioneller Organisationen. Er hat darüber hinaus neben den in Bayern als „Großkopferte“ bezeichneten Mainstreamvertretern auch „dem Volk“ in der Provinz (in Ungarn alles außerhalb der Budapester Stadtgrenzen) „aufs Maul geschaut“. Historische Ereignisse wie etwa das „Hambacher Fest“ von 1832 mit der Forderungen nach nationaler Einheit, Freiheit und Volkssouveränität spielen im Gedächtnis der Deutschen (wenn überhaupt) eine nur untergeordnete Rolle. Anders das von Patzelt präzise zusammengefasste Geschichtsverständnis der Ungarn: Jedes Schulkind und erst recht die politischen Eliten wissen um den verheerenden „Mongolensturm“ 1341, um die Schlacht bei Mohács 1526 mit der vernichtenden Niederlage gegen die Osmanen, von der darauf folgenden Okkupation durch die Türken bis 1699, um jene zwei Ereignisse, bei denen die ungarischen Könige vergeblich auf Hilfe seitens der westeuropäischen Mächte und des Papstes gehofft hatten. Hier liegt laut Patzelt der Ursprung der ungarischen Selbsteinschätzung als „Schutzschild“ Europas vor Mongolen und Osmanen – und in der Gegenwart als solcher gegen „selbstermächtigte Einwanderung“ (S.63). Ein nationales Trauma ist der Vertrag von Trianon aus dem Jahr 1920, der Ungarn einen bis heute nicht verschmerzten riesigen Gebietsverlust beschert hat, die Ära des Kommunismus und die Niederschlagung des Aufstands von 1956 durch russische Truppen.

Die Stärke von Patzelts Werk liegt in der Fülle vorgelegter und unbestreitbarer Fakten. Auf ein Kapitel über das ungarische Staatssystem (Staatsgliederung, Wahlrecht, Parteien, Parlament, Regierung und Staatspräsident, Verfassung und Gerichtsbarkeit) untersucht er die weiten Felder der Wirtschafts-, Steuer-, Sozial-, Bildungs-, Außen- und Sicherheitspolitik und klammert dabei die im Ausland umstrittene LGBTQ-Politik nicht aus, der er fast zehn Seiten widmet (S.344-353).

Auf diesem massiven Fundament aufbauend, vermag Patzelt eine eingehende, keineswegs immer schmeichelhafte Analyse der Politik Viktor Orbáns vorzunehmen. Kapitel 5 (S.405-470) ist mit „Orbán-Land“ überschrieben und teilt sich in drei Abschnitte, die dieses Schlagwort einmal mit Ausrufezeichen und dann mit Fragezeichen versieht. Besonders hervorzuheben sind die Ausführungen zum Aufbau einer autoritären Herrschaft sowie zur ideologischen Rechtfertigung des neuen Systems, und ganz besonders die „politiktheoretischen Eckpunkte der Fidesz-Politik“ (S.444-453). In „Der Mehrheitsblick auf das Erreichte“ fasst Patzelt zusammen: „Heimat und Familie, Vorankommen durch Arbeit und Leistung, Freude am Eigentum und Stolz auf das Erreichte“ gelten in Ungarn nicht als ideologische Leerformeln. „Begriffe wie Patriotismus oder Konservatismus wirken nicht abstoßend, sondern einladend.“, was die Opposition schmerze und im Ausland Anlass sei Ungarn als „schwarzes Schaf“ der EU zu brandmarken (S.454f.).

Gegen Ende seiner Ausführungen kann sich der Autor eine rhetorische Frage nicht verkneifen: Wer käme auf die Idee, die jahrzehntelang in Bayern mit absoluter Mehrheit regierende CSU als „elektorale Autokratie“, „nur simulierte Demokratie“ bzw. „CSU-Halbdiktatur“ zu brandmarken? – Die Antwort, mit Blick auf Orbán, liefert er selbst: Bayerns Regierung habe Ergebnisse erzielt, „auf welche die Bevölkerung mit Zufriedenheit“ reagiert habe.

Im „Was nun?“ überschriebenem Nachwort überlässt Patzelt den Lesern, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Das sei aber allein durch eine „verbesserte Diskussionskultur“ zwischen allen Beteiligten über alle ideologischen Barrieren hinaus erreichbar.

Eine bewusst überspitzt formulierte Erkenntnis sollte sich jedem Leser von Patzelts Buch einprägen: Es gehöre zur ungarischen Tradition, dass „von zwei Ungarn in der Regel nicht weniger als drei Meinungen vertreten werden. Dabei wird die eigene Position oft mehr auf Gefühle als auf Tatsachen und Argumente gestützt.“ (S.442)!

Fact

Werner J. Patzelt: Ungarn verstehen – Geschichte, Staat, Politik. Langen-Müller/Herbig, München 2023, 477 S., 35.00 €

Prof. Dr. Werner J. Patzelt, geboren 1953, ist Politikwissenschaftler und emeritierter Professor der TU Dresden, wo er von 1991 bis 2019 den Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich innehatte. Als Mitglied der CDU, der er 1994 beitrat, pflegt er den Austausch mit Vertretern des gesamten politischen Spektrums, von der Linkspartei bis zur AfD. Bekannt ist Patzelt durch seine politischen Kommentare und Analysen in Presse, Hörfunk und Fernsehen.

Titelbild: Pixabay