Nach dem niedergeschlagenen Aufstand gegen das kommunistische Regime 1956 verließen rund 200.000 Personen Ungarn. Die Monografie „Aus Ungarn nach Bayern – Ungarnflüchtlinge im Freistaat Bayern 1956-1973“ erschließt Hintergründe der Flucht mit einer Skizze der Verhältnisse in Ungarn und der Vorgänge beim Volksaufstand. Bayern erlangte vor allem als Transit-, aber auch als Aufnahmeland einen besonderen Stellenwert.
Die im Freistaat ankommenden Ungarinnen und Ungarn wurden überwiegend positiv aufgenommen. Dazu trugen die allgemeine antikommunistische Stimmung im Kalten Krieg sowie die spürbar verbesserte wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage in der Bundesrepublik Deutschland bei.
Viel erfährt man über die Integration ungarischer Flüchtlinge in Bayern – vieles aber auch nicht
Der Blick auf diese 282 Seiten starke landesgeschichtliche Doktorarbeit legt zwei Fragen nahe: Muss das so umfangreich sein? Und ebenso: 1st da alles Wichtige drin? Nach dem Lesen folgt einem zögerlichen Ja ein entschiedenes Nein. Denn der Ansatz ist unzulänglich, um herauszufinden, ,,unter welchen Umständen die Integration der Ungarn in Bayern gelingen konnte beziehungsweise erschwert war“. Wenn aus Treue zur wissenschaftlichen Terminologie dargelegt wird, welche Faktoren der Heimatländer „wanderungsfördernd waren“, dann wird spürbar, dass landesgeschichtliche Kriterien nicht die ganze Wirklichkeit erfassen.
Auf das staatliche Handeln bezogen, ist die Arbeit reich an Nachweisen und Erkenntnissen. Nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes durch sowjetische Truppen in den ersten Novembertagen 1956 gab der bayerische Staatsminister Walter Stain schon am 8. November eine Erklärung zur Unterbringung ungarischer Flüchtlinge an die Presse ab. Was folgte und von Rita Kiss mit Leidenschaft für jede Aktennotiz und jeglichen Schriftverkehr dargestellt wird, war eine bürokratische Meisterleistung im besten Sinne: vernünftig, zielgerichtet, dem Gemeinwohl verpflichtet für die eigene Bevölkerung wie für die Neuankömmlinge sorgend. Von den rund 200 000 Flüchtlingen, die Ungarn zwischen dem 24. Oktober 1956 und dem Frühjahr 1957 mit großer Mehrheit Richtung Osterreich, jedoch auch Richtung Jugoslawien hinter sich gelassen haben, hat die Bundesrepublik Deutschland 14 500 Personen dauerhaft aufgenommen, von diesen hat wiederum Bayern 1451 Menschen untergebracht.
Für den Untersuchungszeitraum bis 1973 bleibt das Buch eine wesentliche Antwort schuldig, nämlich auf die Frage: Wie und in welchem Maße wurden und haben sich die Flüchtlinge binnen sechzehn Jahren integriert? Dazu bedürfte es allerdings einiger Statistiken, die es nicht geben kann. Wie erfolgreich (im mehrfachen Sinne des Wortes) waren die Einzelpersonen, von denen eine Vielzahl mutmaßlich schon die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatte? Ab und zu fiel ein Straftäter auf, doch was besagt das über die anderen? Integration heißt in hohem Maße, nicht aufzufallen, weniger jedoch, besonders angenehm wahrnehmbar zu sein oder gar hervorzustechen.
Eigentlich müsste das Ungarische Gymnasium Kastl ganz ausdrücklich im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, denn es erwies sich als das Kernstück bayerischer Integrationspolitik. Es belegt, wie Erwartungen der Aufnahmegesellschaft sowie der Flüchtlinge in Einklang gebracht werden können. Deren Heimatland unterstand einer blutrünstigen Gewaltherrschaft – Hunderte von Aufständischen wurden in den Jahren bis 1961 hingerichtet – und darüber hinaus einer Besatzungsmacht, der Sowjetunion; Aussicht auf Änderung bestand auf kurze und mittlere Sicht nicht. Offenkundig wurde alsbald, dass die zusammenhanglose Schar der 1956er-Flüchtlinge zu keinem eigenen Willensausdruck gegenüber der deutschen Verwaltung imstande war.
Neben den in den Medien gefeierten Aufständischen gab es einerseits Regimenahe, die den Unberechenbarkeiten der innerparteilichen Machtkämpfe entgehen wollten, andererseits viele politische Häftlinge, die in den Jahren des Stalinismus verurteilt und im Zuge des Aufstandes befreit worden waren. Sie alle bedurften der Für- und Vorsorge der Altflüchtlinge, die Ungarn zwischen 1944 und 1949 verlassen hatten. Diese hatten inzwischen Interessenvertretungen gebildet, angeführt von ihren Kirchenmännern, die einander kannten und sich persönlich, zumindest institutionell vertrauten. Sie setzten 1957 die Gründung des Gymnasiums in Kastl durch, in dem Ungarisch unterrichtet wurde und Deutsch zunächst die erste Fremdsprache, später fast fächerübergreifend die Zweitsprache war. Der bayerische Sozialminister Stain und vor allem Ministerialreferent Johannes Maurer unterstützten mit aller Kraft die für die Bundesrepublik – und alsbald für die weltweite ungarische Emigration – zentrale Einrichtung. Widerlegt oder bestätigt es nun den Erfolg der bayerischen Integrationspolitik, dass Gabor Tordai-Lejko, Kastler Abiturient des Jahrgangs 2000, heute nicht deutscher Generalkonsul in Ungarn ist, sondern ungarischer Generalkonsul in München?
Rezension von Georg Paul Hefty (Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.08.2022) [gekürzt]
Das Buch kann über den Verlag Friedrich Pustet bezogen werden.