Ein liberaler Historiker weist die Auffassung zurück, Ungarn habe sich zu einer illiberalen Demokratie entwickelt – wie dies sowohl von Ministerpräsident Viktor Orbán als auch von seinen liberalen Kritikern häufig behauptet wird. Presseschau von budapost.de.
In einem langen auf Látószög veröffentlichen Essay notiert András Gerő, dass das heutige Ungarn den Hauptprinzipien der klassischen liberalen Ideologie folgen würde. Der westliche Liberalismus habe im 19. Jahrhundert in Ungarn Fuß gefasst, so der liberale Geschichtswissenschaftler.
Nach der Revolution von 1848/49 habe das ungarische Rechtssystem auf den beiden wichtigsten liberalen Idealen gegründet: beschränkte Herrschaft sowie Achtung der individuellen Freiheit. Der Liberalismus habe im Lande eine einzigartige kulturelle und zivilisatorische Ausprägung angenommen, fährt Gerő fort. Im 20. Jahrhundert sei der Liberalismus in Ungarn von einem ethnozentrischen Nationalismus und einem Bolschewismus verschlungen worden – zwei Extremismen, die sich Gerő zufolge beide aus dem Liberalismus heraus entwickelt hätten. Die liberale Freiheit habe zu nationaler Selbstbestimmung geführt, die dann zu einer Brutstätte des Nationalismus geworden sei. Der Bolschewismus wiederum stelle eine Reaktion auf sozial unsensible, marktorientierte liberale Ideen dar. Der Übergang zur Demokratie in den Jahren 1989 und 1990 sei klassischen liberalen Ideen gefolgt. Und sogar noch heute sei das ungarische Verfassungssystem – ähnlich wie alle Verfassungssysteme in der Europäischen Union – von Grundprinzipien des Liberalismus geprägt.
Daher weist Gerő die Behauptung zurück, dass sich Ungarn in eine illiberale Demokratie umgestaltet habe – so wie es Ministerpräsident Orbán 2014 erstmals postuliert habe und es seither auch von seinen liberalen Kritikern behauptet werde.
(Beitragsbild: MTI – Szilárd Koszticsák)