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BZ-Interview mit der Enkelin des Revolutionsmärtyrers Imre Nagy

Ungarn Heute 2019.06.17.

Zum 30. Jahrestag der Wiederbeerdigung des Revolutionsmärtyrers Imre Nagy, erzählt Katalin Jánosi,  die Enkelin vom ex-Premier, den Lesern der Buda­pester Zeitung, wie sie die Ereignisse in den ’50-er bzw. in den ’80-er Jahren durchlebt hat. Sie erzählte auch darüber, wie die Beziehung zu ihrem Großvater war und darüber, was für ein Mensch der ehemalige Premier zu Hause war. 

Katalin Jánosi verbrachte viel Zeit mit den Großeltern – wie sie daran erinnert, war der Großvater, Imre Nagy “ ein guter Spielgefährte, ein großer Schelm, der mit Kindern wunderbar zurechtkam.“

Die Enkelin erzählte über ihre Beziehung zu dem Premier und über die Ereignisse um die Revolution und über dieWiederbeerdigung in 1989 der Budapester Zeitung.

Die Familie (Frau, Tochter und Enkelin von Imre Nagy) wurde nach der Nierschalgung der Revolution 1956, am 4. November, in der jugoslawischen Botschaft geborgen, dann nach Rumänien deportiert. Katalin erinnert sich an diese Zeit so:

Unsere Familie erfuhr vieles erst im Nachhinein, als alles schon lange vorbei war. Wir wussten nicht einmal, dass es einen Prozess gegeben hatte, dass sie verurteilt und hingerichtet worden waren. Es gab keinen Leichnam, es gab kein Grab. Nur diese unbegreifliche Tatsache, dass er nicht mehr da war, und dass mein Vater mit einer Haftstrafe von acht Jahren im Gefängnis saß. Das Ganze war unerträglich und grausam. Wir suchten dann das Grab meines Großvaters, vor allem in der Parzelle 301 auf dem Zentralfriedhof, aber man vertrieb uns immer wieder. 30 Jahre vergingen so, ohne dass wir Genaueres wussten. Es gab sogar Gerüchte, dass er gar nicht tot sei, sondern nach Sibirien gebracht worden war und dort noch lebe.

Die Familie erfuhr erst 1988 von dem Grab des Großvaters. Noch in diesem Jahr bildete sich das „Komitee für Historische Rechtssprechung“, das später die Beerdigung organisierte und zum größten Teil aus Familienmitgliedern der Opfer und aus Verurteilten von 1956 bestand.

Über die Exhumierung erzählt die Enkelin: in einer Geheimakte fand man eine Skizze darüber, wo Imre Nagy beerdigt sein könnte. Auf ihr war vermerkt, wieviele Schritte von welchem Baum entfernt ein Leichnam lag. Imre Nagy war mit dem Gesicht nach unten gedreht worden, wahrscheinlich damit der charakteristische Teil seines Körpers, der Schädelknochen, schneller zersetzt und unkenntlich wurde.

Über die Wiederbeerdigung sagte Katalin Jánosi:

Ehrlich gesagt, stand ich sehr unter dem Einfluss dieser schlimmen Erfahrungen. Gleichzeitig versuchte ich an der Vorbereitung der Veranstaltung mitzuwirken. Sie sollte schön, würdevoll und wunderbar werden. (…) Die Exhumierung war so dramatisch, aber gleichzeitig blickten wir einem positiven Ende entgegen. Mein Großvater und seine Gefährten sollten eine würdige Beerdigung bekommen, ihre Unschuld sollte anerkannt werden und nach so viel Verleumdung sollte endlich Klarheit über ihr Leben und Wirken geschaffen werden.

Über die Trauerfeier auf dem Heldenplatz sagte sie: die Menschen haben so unzählige Blumen mitgebracht, und auf die Särge gelegt, dass es ihr ein sehr buntes Bild in Erinnerung blieb, trotz des schwarz-weißen Grundlayouts.

Auch der nicht abreißende Strom von Teilnehmern und das angemessene, würdevolle Verhalten der Menge prägte sich mir ein…das Schweigen der Massen, das gemeinsame Singen der Hymne… Es war ein wirklich kathartisches Erlebnis.

Auf die Frage, wie es dazu kam, dass der damals noch unbekannte, derzeitige ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán zu den Rednern auf dem Heldenplatz gehören konnte, sagte Katalin Jánosi, dass es unter den Organisatoren den Vorschlag gab, dass auch die Jugend zu Wort kommen solle. „Wir suchten jemanden aus einer jungen Organisation. Dazu zählte damals der Fidesz.“ (In seiner Rede forderte Orbán den Abzug der Russen.)

Viktor Orbán bei seiner Rede am 16. Juni 1989, Via: wikipedia.org

Jánosi betonte, dass für sie das Gefühl, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, „einfach über die Dinge reden zu können, großartig war. Ich durfte endlich sagen, mit wem ich verwandt war.“

Auf die Frage, was sie dazu sagt, dass die Imre-Nagy-Statue von ihrem Platz in der Nähe des Kossuth tér, auf den Jászai Mari tér an der Margaretenbrücke umgesetzt worden ist, sagte sie:

„Schon 2010, als die Regierung verkündete, dass der Kossuth tér im Geist von vor 1945 wiederhergestellt werden solle, und damit alle späteren Statuen weichen müssen, befürchtete ich, dass dies eines Tages passieren würde. Vor 1945 stand an jener Stelle eine Gedenksäule für die Opfer der ungarischen Räterepublik von 1918/1919, die Miklós Horthy selbst eingeweiht hatte, deswegen war davon auszugehen, dass sie wieder aufgestellt werden wird.“

Sie fügte hinzu: sie sei froh, dass Statue nicht ganz verschwunden sei.

(Via: Budapester Zeitung – Geschrieben von – Sarah Günther, Beitragsbild: Imre-Nagy-Gedenkhaus)