Die Goldene Bulle wurde vor 800 Jahren von Andreas II. von Ungarn verkündet und ist vermutlich das bekannteste mittelalterliche ungarische Dokument der Welt.
Die Veröffentlichung der Charta, welche Historiker als Meilenstein der ungarischen Geschichte betrachten, stellt wohl einen der wichtigsten Bezugspunkte in der Entwicklung des ungarischen Rechts und der ungarischen Gesellschaft dar. Das Edikt legte die Rechte des Adels fest und war eines der ersten Beispiele für die verfassungsmäßige Begrenzung der Befugnisse eines europäischen Monarchen. Die Bedeutung der Goldenen Bulle zeigt sich dadurch, dass sie oft mit der Magna Charta (1215) verglichen wird, welche als Basis des Englischen Konstitutionalismus gilt.
Die Goldene Bulle wurde von Andreas II. am 24. April 1222 auf dem Reichstag von Fehérvár (heute Székesfehérvár genannt) erlassen. Historisch bedeutend ist das Dokument, weil es die Prinzipien der Gleichheit des Adels der Nation festlegt.
Sie gilt als das erste ungarische Verfassungsdokument der ungarischen Nation und wird oft mit der ersten Verfassungscharta der englischen Nation, der Magna Carta, verglichen, die nur sieben Jahre vor der Goldenen Bulle veröffentlicht wurde.
Das ungarische Dokument verpflichtete den König, den Reichstag regelmäßig einzuberufen, verbot ihm, einen Adligen ohne rechtmäßigen Gerichtsbeschluss zu inhaftieren und verweigerte dem König das Recht, die Güter von Adligen und der Kirche zu besteuern. Es befreite die Adligen von der Pflicht, unentgeltlich in der Armee des Königs im Ausland zu dienen, und verbot Ausländern den Besitz von Landgütern (ohne Zustimmung des königlichen Rates) und öffentlichen Ämtern. Es verbot auch die gleichzeitige Ausübung mehrerer Ämter.
Elf Artikel der Goldenen Bulle befassten sich mit den Beschwerden der königlichen Diener, also der freien Männer, die dem König Militärdienst leisteten. Die Goldene Bulle unterschied sie deutlich von den anderen Untertanen des Königs und legte damit die Rechte des ungarischen Adels fest.
Die Charta stärkte auch die Autorität des Adels in den Komitaten; die Komitatsbeamten des Königs (ungarisch: ispán, lateinisch: comes) konnten bei Fehlverhalten entlassen werden und ihre Ämter konnten nicht vererbt werden.
Die vielleicht wichtigste Bestimmung des Dokuments findet man am Ende: die so genannte „Widerstandsklausel“, besagt, dass die Adligen und Bischöfe das Recht hatten, Widerstand zu leisten (jus resistendi) und dem König zu widersprechen, ohne wegen Hochverrats bestraft zu werden, wenn der König oder seine Nachfolger die Bestimmungen der Charta verletzten.
Bis heute hält sich die historische Vorstellung, dass die verschwenderische und kostspielige Politik des Königs, wie z. B. die umfangreichen Schenkungen von Staatsgütern und Ämtern, beim ungarischen Adel großen Widerstand hervorrief.
Die Spannungen wurden durch Andreas‘ kostspielige Feldzüge weiter verschärft, die zu Widerstandsbewegungen und Rebellionen führten. Auf dem Höhepunkt brach 1222 eine Palastrevolution aus, bei der die Adligen ihn zwangen, die Goldene Bulle zu verkünden und den königlichen Rat neu zu organisieren.
Neuere Studien widerlegen jedoch diese Theorie und kommen zu dem Schluss, dass der Monarch in der Tat entschlossen war, eine neue Machtstruktur zu schaffen, die darauf abzielte, die Rechte der zunehmend unzuverlässigen Grafschaftsbeamten (ispán) zu beschneiden und diejenigen, die der König für seine Regierung als vertrauenswürdiger erachtete, in Schlüsselpositionen zu setzen, um so die zentrale königliche Macht zu stärken.
Aus dieser Sicht war das Motiv für den Erlass der Goldenen Bulle also nicht in erster Linie die Befriedigung der Forderungen der rebellierenden Adligen, sondern die Verfolgung der ureigenen Interessen des Königs, die mit der Durchsetzung bestimmter Adelsrechte einhergingen. Viele Historiker sehen dies durch die Tatsache bestätigt, dass fast alle Artikel der Charta zum Nutzen des Monarchen verfasst wurden. Es ist daher wahrscheinlich, dass das Dokument von Andreas II. aus freiem Willen und nicht unter politischem Druck erlassen wurde.
Zwar konnten die Bestimmungen der Goldenen Bulle von den ungarischen Herrschern nicht in vollem Umfang durchgesetzt werden, ihre Verkündung kann dennoch als einer der wichtigsten Meilensteine in der Entwicklung des ungarischen Verfassungsrechts angesehen werden. Die wiederholte Erneuerung des Dokuments im Laufe der Jahrhunderte hatte einen nachhaltigen Einfluss auf die Grundlagen der späteren Gesetzgebung und des ungarischen Parlamentarismus selbst.
Andreas II. legte das Dokument 1231 mit einigen Änderungen neu auf, und später, im Jahr 1267, tat dies auch König Béla IV.
Das Schicksal der Goldenen Bulle erlebte 1351 einen entscheidenden Wendepunkt, als König Ludwig der Große (I. Nagy Lajos) sie in sein eigenes Gesetz aus diesem Jahr aufnahm. Das Dokument, das zu diesem Zeitpunkt bereits in Vergessenheit geraten war, wurde damit wiederbelebt.
Von da an begann die Tradition, dass die ungarischen Könige die Goldene Bulle anlässlich wichtiger Ereignisse revidierten und bestätigten. Einigen historischen Quellen zufolge haben alle ungarischen Könige des späten Mittelalters bei ihrer Krönungszeremonie einen Eid auf die Goldene Bulle geschworen. In späteren Jahrhunderten bildete das Dekret eine integrale und wichtige Grundlage des ungarischen Gewohnheitsrechts.
Die symbolische Bedeutung der Charta reicht bis in die Gegenwart, da eine genaue Nachbildung des königlichen Siegels der Goldenen Bulle um den Hals der Mitglieder des ungarischen Verfassungsgerichts hängt.
Titelbild: Andreas II. verkündet die Goldene Bulle, Gemälde von Mátyás Jantyik