Erneut haben sich zwei RMDSZ-Abgeordnete mit dem Europäischen Parlament und ihrer eigenen Parteifamilie wegen der Annahme des Delbos-Corfield-Berichts angelegt. Loránt Vincze erklärte gegenüber Transtelex, dass selbst viele Mitglieder der EVP-Fraktion nicht mit dem Dokument einverstanden seien, das die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn in Frage stelle, und dass sie nur deshalb dafür gestimmt hätten, weil „der europäische Mainstream“ dies von ihnen erwarte. Und Gyula Winkler gab seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Zukunft der Regierung Orbán in einer Reihe von Fragen, wie der Steuerung der Migration oder der Pflege christlicher Werte, Recht geben wird.
Das ganze Europaparlament ist vom linken Zeitgeist besetzt. Das ganze? Nein! Die beiden ungarischen Abgeordneten aus Rumänien hören nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten. Die Anfangsworte eines jeden Asterix-Bandes bieten sich an, wenn man sich die Aussagen der EVP-Mitglieder zu Gemüte führt. Selten sprechen Politiker so offen über die informellen Begegnungen mit Kollegen auf den Gängen des Straßburger Parlaments.
433 Abgeordnete stimmten für die Schlussfolgerung, dass Ungarn keine vollwertige Demokratie ist, und zogen die Bezeichnung „Wahlautokratie“ vor. Nur 123 Abgeordnete stimmten nicht zu, darunter zwei Abgeordnete der Demokratischen Allianz der Ungarn in Rumänien (RMDSZ), Loránt Vincze und Gyula Winkler. Abgesehen von diesen beiden stimmten fast alle Mitglieder der EVP-Fraktion für den Bericht.
Loránt Vincze hob den Abschnitt über nationale Minderheiten im Delbos-Corfield-Bericht hervor, da er als Präsident der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEN) in Kontakt mit Minderheitenorganisationen in Ungarn stehe und mit deren Situation vertraut sei.
Zur Lage der Roma in Ungarn, die im Bericht beanstandet wird, nimmt sich Vincze kein Blatt vor den Mund: „Zeigen Sie mir einen einzigen EU-Mitgliedstaat, in dem die Probleme der Roma (…) vollständig gelöst sind. Sie werden keins finden. Aber es gibt keinen belastenden Bericht über die anderen Mitgliedstaaten“.
In Bezug auf den angeblichen Antisemitismus in Ungarn erinnerte er daran, dass David Lau, aschkenasischenr Oberrabbiner Israels, der ungarischen Regierung für ihre Unterstützung bei der Stärkung der jüdischen Gemeinden in aller Welt dankte.
Bei allen konstruierten Vorwürfen handele sich um „einen großen linken ideologischen Haufen, eine Offenbarung ewiger Wahrheiten“, keineswegs um nachprüfbare Fakten, polemisiert der Parlamentarier.
Auch hinsichtlich der angeblichen Diskriminierung sexueller Minderheiten lässt Vincze kein gutes Haar an dem Bericht: Für ihn fügen sich diese Vorwürfe „in den Mainstream dessen ein, was wir heute in Europa, aber auch in der westlichen Welt im Allgemeinen beobachten können: die Durchsetzung der Rechte und der Stellung sexueller Minderheiten in der Gesellschaft, die Auslöschung aller anderen Meinungen. Das ist eine ideologische Frage, die nichts mit der Realität in Ungarn zu tun hat.“
Der Standpunkt des Parlaments ist für den Politiker der RMDSZ ein Spiegelbild der öffentlichen Stimmung. In Gesprächen mit Kollegen habe er die Erfahrung gemacht, dass viele nicht aus Überzeugung, sondern aus Konformitätsdruck heraus für den Rechtsstaatlichkeitsbericht gestimmt hätten.
„Denn die deutschen Wähler hören jeden Tag auf allen deutschen Medienkanälen, dass Ungarn kein Rechtsstaat ist, dass es sich um eine Diktatur handelt, dass Minderheitenrechte verletzt werden und so weiter, und sie erwarten die gleiche Haltung von ihren Vertretern, die sich nicht gegen den Willen der Wähler stellen.“
Auch im EP gebe es immer weniger Menschen, die zwischen Ideologie und Fakten unterscheiden können. Viele Abgeordnete empfinden es als unangenehm, zu Themen Stellung nehmen zu müssen, die sie nicht kennen, trotzdem wollen sie an der „großen Erfahrung“ des von den Linken „aufgeblasenen Luftballons“ teilhaben und stimmen deshalb für diese Berichte, „obwohl sie wissen, dass keine Substanz dahinter steckt“.
Nach seinen Angaben geben Führungspolitiker der EVP in Korridordiskussionen oft zu, dass es in anderen Ländern viel größere Probleme bei der Verwendung öffentlicher Gelder und dem Funktionieren rechtsstaatlicher Institutionen gibt, als die EP-Berichterstatter über Ungarn behaupten, aber die Führer dieser Länder schweigen, fügen sich in die Brüsseler Landschaft ein und äußern ihre Opposition nicht, während Viktor Orbán und die ungarische Regierung dies tun.
Gyula Winkler, der andere EP-Abgeordnete von Seiten der RMDSZ beklagt einen doppelten Maßstab im Umgang mit osteuropäischen Staaten und fordert einen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, „der mit klaren Definitionen, messbaren und vergleichbaren Kriterien arbeitet und – vor allem – für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen gilt.“ Kampagne gegen einen Mitgliedstaat seien kontraproduktiv.
Er stellt fest, dass es immer wieder Situationen gab, wo nicht mehrheitsfähige Positionen im Nachhinein sich als richtig herausgestellt haben: Ursula Von der Leyen beispielsweise meinte neulich, dass man aus der Ölkrise vor 50 Jahren hätte lernen müssen, um rechtzeitig eine grüne Wende einleiten zu können. Dieselbe Kommissionspräsidentin gab ferner zu, dass Europa damals auf die baltischen Staaten hätte hören müssen, als sie vor der russischen Gefahr warnten.
Winkler berichtet im Interview über eine rhetorische Frage an den aktuellen Vorsitzenden des LIBE-Ausschusses, ob er glaube, dass der nächstjährige Amtsinhaber sagen wird, „dass wir von unseren ungarischen Freunden bei der Steuerung der Migration hätten lernen sollen?“ und ob der übernächste Ausschussvorsitzende im Jahr 2024 sagen wird, „dass wir von unseren ungarischen Freunden hätten lernen sollen, christliche Werte zu pflegen und zu respektieren?“
In den Gremien des Europarlaments würden immer wieder dieselben Phrasen gedroschen und Ausdrücke wiedergekäut, ja man könne die Entstehung eines Brüsseler und Straßburger „Neusprechs“ Orwellschen Andenkens beobachten, beklagt Winkler und legt wie sein Kollege Vincze den Finger in die selbe Wunde: In dem Bemühen, der aktuellen politischen Korrektheit zu entsprechen, sagen die Abgeordneten unter vier Augen das eine und in der Öffentlichkeit das andere.
Beitragsbild: Europäisches Parlament Facebook