Die Neue Zürcher Zeitung veröffentlicht die Besprechung eines längst fälligen Buches: Werner J. Patzelt, Ungarn verstehen. Geschichte, Staat, Politik. Wie der Titel der Neuerscheinung anzeigt, will sich der emeritierte Professor für Politikwissenschaft an der TU Dresden dem mitteleuropäischen Land mit größtmöglicher Objektivität annähern.
„Der Versuch, Länder zu verstehen, mündet häufig in eine unterkomplexe Betrachtung“, stellt der Rezensent fest. Ungarn sei das beste Beispiel dafür, wobei nicht das Unverständnis das größte Problem sei, sondern der Umstand, dass dem Land spätestens seit dem zweiten Regierungsantritt Orbáns ein tieferes Verständnis verweigert werde. „Man will sich gar nicht mit Ungarn befassen, man will es verurteilen“ und das gilt insbesondere in Bezug auf Deutschland.
Es geht also nicht darum, Viktor Orbán zu verstehen, sondern die ungarische Gesellschaft, die ihn fünf Mal gewählt hat“,
mahnt der Rezensent und verweist auf die mangelnde Alternative für die ungarischen Wähler, die keinesfalls „en bloc“ als fanatische Anhänger der Regierungspartei apostrophiert werden können.
Es ist eigentlich eine Binsenweisheit, dass nur geschichtliches Vorwissen einzelne politische Entscheidungen und Entwicklungen begreifen lässt; die Tatsache, dass der Rezensent das betonen muss, ist ein Armutszeugnis für Deutschlands politische Klasse und noch mehr für die Journalisten, die kritiklos Klischees und Vorurteile verbreiten.
Gelobt wird Patzelts „beeindruckende Sammlung an Materialien und Fakten zu Ungarn“, gerügt hingegen werden „polemische Nebensätze“, die auf die linksliberalen Medien abzielen. Letztere werden vermutlich potentielle Leser nicht davor abschrecken, sich dieses „Kompendium“, trotz seiner Datenfülle, zu Gemüte zu führen. Die beiden Schlusskapitel führen in die aktuellen Debatten rund um die beiden, diametral entgegengesetzten Lesarten der Regierung Orbán ein und sollen die „Glanzstücke“ des Buches sein.
Die politischen Konsequenzen, die große Teile der ungarischen Gesellschaft auch aus den Ereignissen des 20. Jahrhunderts gezogen haben, widersprechen in weiten Bereichen diametral demjenigen, was in Deutschland zur Staatsräson erhoben wurde“,
fasst der Rezensent die Quintessenz der Argumentation zusammen.
Ungarns Pochen auf nationale Souveränität und Selbstbestimmung ist nur auf dem Hintergrund seiner tragischen Geschichte nachvollziehbar. Eine wiederkehrende Erfahrung, vom Westen im Stich gelassen zu werden, lässt die oft abwartende oder zögerliche Politik der ungarischen Regierung in einem anderen Licht erscheinen.
Hervorgehoben wird auch Patzelts Kritik am Alleingeltungsanspruch des westlichen Liberalismus, der allen landesspezifischen Ausprägungen mit Argwohn begegnet.
In den letzten Jahren haben die gesellschaftspolitischen Debatten in quasi allen westlichen Ländern eine unangenehme Schärfe gewonnen, die mitunter ans Inquisitorische grenzt“,
stellt der Rezensent fest und würdigt die besprochene Neuerscheinung, die zeigt, wie man es anders macht: Kritik soll auf Kenntnissen beruhen und nicht auf Klischees.
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Beitragsbild: Magos Szilárd, Külhoni Magyarok Facebook