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„Es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens, Ungarisch zu lernen“

Ungarn Heute 2019.02.27.

Sein Vater lebte in Ungarn, seine Mutter stammt aus Österreich, er wurde in Toronto geboren. Er sprach bis zu seinem 17. Lebensjahr kein Ungarisch, als er begann, fernab des Landes mit Hilfe von ungarischen Sportzeitungen, die Sprache zu erlernen. Seit 3 Jahren pendelt er zwischen Budapest und Berlin, weil er sowohl für die „Deutsche Welle“ als auch für das ungarische Fernsehnetz MTVA arbeitet. Obwohl er sich als kanadisch, deutsch oder österreichisch identifizieren könnte, hält er sich am meisten für einen Ungarn. Auf die Frage, warum, antwortet er: „Mein Vater war eine unglaubliche Person. Ich habe immer gedacht, dass so ein Mensch nicht von irgendwoher kommen könnte.“ Interview mit Árpád Szőczi.

Sie spielen gern Fußball. Es ist nicht lange her, dass Sie mit der senioren-Mannschaft gegen Hertha gespielt und das Turnier gewonnen haben. Verfolgen Sie auch den ungarischen Fußball?

Ich verfolge den ungarischen Fußball seit Jahrzehnten. Es kommt selten vor, dass ich die Zeitschrift „Nemzeti-Sport“ nicht durchlese, wenn ich zu Hause bin. Ich schaue mir die Spiele an und gehe auch hin und bin live dabei. Zuletzt war ich in der Groupama Arena und habe das Match Ferencváros-Honvéd gesehen. Ich war mit meinem Freund, Csaba Renzo Emődy da, der zuvor in einer hohen Position bei der argentinischen Fußballmannschaft River Plate gearbeitet hatte. Wir haben es wirklich genossen.

Haben Sie auch einen Favoriten?

Wenn eine ungarische Mannschaft – egal welche – in eine internationale Meisterschaft kommt, dann drücke ich deren meine Daumen. Ich respektiere den, der gut spielen kann. Gerade deswegen habe ich früher die Mannschaft von Diósgyőr sehr geliebt. Sie hatte ein großes Potenzial, obwohl sie nur ein kleines Team war. Auch der spanische Luque spielte dort und schoss viele unglaubliche Tore. Das Team spielte meistens auch sehr gut. Ich kenne ein paar Spieler und Trainer persönlich: Vor kurzem habe ich mich mit Pál Orosz, dem Chefdirektor von Ferencváros getroffen. Csaba Emődy und ich denken, dass eine sogenannte „osteuropäische Liga“ mit den vier Visegrád-Staaten gut funktionieren könnte. Wenn diese Teams gegeneinander spielen, halten sie das Tempo aufrecht und das Spiel wird sowohl für die Fans als auch für die Spieler attraktiver. So könnte man sogar die Zukunft des ungarischen Fußballs aufbauen. Die Schlüsselfrage ist natürlich die Finanzierung.

In Ungarn wird heutzutage viel Geld in den Fußball gesteckt. Puskás, der größte ungarische Fußballer anders zitiert: „Großes Geld, kleiner Fußball“ – so sieht es heute aus. Warum gibt es keine Ergebnisse? Gehen die Förderungen nicht an die richtigen Stellen?

Ich denke, sie gehen an die richtigen Stellen. Zum Beispiel die Mannschaft „Vidi“ hat in diesem Jahr in der europäischen Liga sehr gut gespielt, leider schafften sie es nicht weiter, hatten aber das Potenzial. Gleichzeitig überraschte es mich jedoch, dass „Fradi“ das gleiche auch nicht erreichen konnte. Wenn mehr Jugendliche mehr Möglichkeiten hätten – und es gibt Trainer in Ungarn, die dies beachten -, wäre das ein guter Anfang. Außerdem gibt es in Ungarn ein paar sehr gute ausländische Spieler. Viele kritisieren die Regierung dafür, zu viel Geld in den Fußball investiert zu haben und sagen, dass sie die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und der Bildung in Betracht ziehen sollte. Ich sage, warum nicht alle drei? Ungarn befindet sich in einer viel besseren wirtschaftlichen Lage als vor 2010. Ausländer, die hierherkommen, auch Touristen die das Land besuchen, verlieben sich in Ungarn und in Budapest. Es gibt also Geld, es muss nur sinnvoll eingesetzt werden.

Der Sport hat Ihnen geholfen, die ungarische Sprache zu erlernen. Aus Sportnachrichten haben sie das geschafft. Warum fanden Sie es wichtig?

Ich war 18, als ich zum ersten Mal nach Ungarn kam. Ich verbrachte 3 Monate an der Sommeruniversität in Debrecen. Ich war schon damals ein verrückter Fußballfan. Aber in Kanada, woher ich stamme, gab es nur geringe Chancen dafür, dass ich eine gute Jugendmannschaft für mich finde oder sogar ein Match live anschauen kann. Als ich nach Ungarn kam, sah ich, dass man nicht nur über Fußball, sondern über alle Sportarten berichtet. Ich war mehrmals im „Népstadion“ (Volksstadion), wo ich die 60 Tausend Fans sah, die die Derbys beobachteten. Es war wundervoll. Als ich entdeckte, dass es eine Zeitung gibt, die jeden Tag gedruckt wird und nur über Sport schreibt, war ich überglücklich. Natürlich habe ich am Anfang viele Ausdrücke nicht verstanden. Ich habe dann die Zeitung fleißig mit nach Hause gebracht, und mit der Hilfe meines Vaters durchgelesen.

Ihr Vater ist Ungar, Ihre Mutter ist Österreicherin und Sie sind in Kanada aufgewachsen. Haben Sie die ungarische Sprache in der Familie überhaupt nicht verwendet?

Mein Vater sprach auf Englisch mit mir, bis ich 18 Jahre alt war. Danach verstand ich so viel Ungarisch, dass er mit mir auch Ungarisch sprechen wollte. In den folgenden 20 Jahren sprach er mit mir nur auf Ungarisch.

Ihr Vater hat Anfang der 50er Jahre ein neues Leben in Kanada begonnen. Wollte er nach dem Ende des Kommunismus nicht mehr nach Ungarn zurückkehren?

Auch ich habe ihm diese Frage oft gestellt. Er sagte immer, nein. Er hat dann vorgeschlagen: zu uns, nach Berlin zu ziehen. Damals lebten wir in der deutschen Hauptstadt und ich hatte noch keine Arbeit in Budapest.

Haben Sie ihn gefragt, warum er nicht nach Ungarn zurückkehren möchte?

Das konnte er nicht beantworten. Er sagte: „Weil dies meine Entscheidung ist.“ Er hatte Heimweh, es war fast eine Krankheit für ihn. Dieses Gefühl war jedoch nicht nur für ihn immer dabei, auch seine Freunde in Toronto erlebten dasselbe. Wenn seine Freunde zu uns kamen, sprachen wir nie über die kanadische Politik, immer über das, was in Ungarn und mit Ceausescu los war.

Ihr Vater hat der ungarischen Minderheit in Siebenbürgen sehr viel geholfen, und Sie haben sich später dieser Tätigkeit angeschlossen. Ein historisch bedeutsames Interview mit dem reformierten Pastor László Tőkés ist auch an Ihren Namen gebunden.

Ich hatte nur eine sehr kleine Rolle in dieser „geheimen Mission“, ich musste nur jemanden überzeugen, Geld zu geben. Wir hätten uns die Konsequenzen nie vorstellen können, und auf jeden Fall haben wir das nachfolgende Blutbad in Temesvár nicht erwartet. Wir dachten, es wird ein Interview mit jemandem gemacht, der unter einer Diktatur lebt, mit jemandem, von dem die Meisten in der Welt kaum etwas wussten. Wegen dieses Interviews musste Tőkés später die Kirche verlassen, was die Emotionen hochgekocht hat.

Fact

Im Dezember 1989 begann der Fall des Kommunismus mit einer blutigen Revolution in Rumänien. Wegen der unterdrückenden Diktatur lebte die Mehrheit der Menschen in Armut und die Rechte von Minderheiten waren überhaupt nicht geschützt. Obwohl die anderen osteuropäischen Länder den Kommunismus auf friedliche Weise beendeten, war Rumänien das einzige Land hinter dem eisernen Vorhang, in dem der Übergang gewaltsam war. Einer der symbolischen Punkte des Aufstands und ein „Katalysatorfunken“ war das Interview mit Pastor László Tőkés aus Temesvár, das von zwei kanadischen Reporter geführt wurde. Árpád Szőczi half beim Erwerb vom Geld für dieses Interview. Darin hat Tőkés den rumänischen Diktator scharf kritisiert. Während des Aufstands starben mehr als 1100 Zivilisten in Rumänien.

Zur gleichen Zeit wurde aber der Westen auf die Situation in Rumänien aufmerksam gemacht…

Natürlich hat die Welt erfahren, wer László Tőkés ist. Die Volksmeinung stellte fest, dass eine riesige ungarische Minderheit in Rumänien lebt, unter der Herrschaft eines bösen Diktators, namens Ceausescu.

Über den Aufstand von Temesvár wurde sowohl ein Buch als auch ein Dokumentarfilm gedreht, und jetzt wollen Sie einen Spielfilm mit der Unterstützung des Ungarischen Nationalen Filmfonds drehen. Warum sollte das erstellt werden?

Dieses Jahr ist das 30. Jubiläumsjahr der Geschehnisse. Ich dachte, es wäre ein guter Zeitpunkt, der Welt zu zeigen, was vor 30 Jahren passiert ist. Der Dokumentarfilm war sehr erfolgreich, es wurde in 20 Städten auf der ganzen Welt gezeigt. Diese Geschichte des Kalten Krieges ist wirklich erstaunlich. So sehr, dass es eine Schande wäre, wenn nicht alle es erkennen könnten.

Der Kampf um die ungarischen Minderheitenrechte ist in Rumänien noch nicht abgeschlossen. Sind Sie immer noch aktiv dabei?

Ich bin ein Reporter, also ich kann keine Stellung nehmen. Ich bin in diesem Sinne nicht mehr aktiv. Als ich die Proteste organisierte, arbeitete ich nicht für die Nachrichten, sondern für Magazine. Natürlich verfolge ich immer noch die Nachrichten über Siebenbürgen. Die Situation ist schwierig, und die Europäische Union greift – abgesehen von Polen und Ungarn – nicht in die Angelegenheiten anderer Länder ein. Die EU ist nicht blind, sie sieht offensichtlich, was los ist, aber sie tut trotzdem nichts. Es ist äußerst traurig, dass ehemalige „Securitate-Offiziere und Agenten“ immer noch im rumänischen Geheimdienst arbeiten. Oder dass eine reine ungarische medizinische Universität in Marosvásárhely nicht unabhängig sein kann. Wo sind wir? In Kuba oder in Europa?

Es ist selten, dass jemand gleichzeitig bei der deutschen und der ungarischen Presse arbeitet, Sie sind seit drei Jahren von beiden beschäftigt. Wo können Sie freier arbeiten?

Ich kann überall frei arbeiten. Im Nachrichtensektor erkläre ich lediglich, was los ist, und „verbreite“ diese Informationen. Ich verstehe voll und ganz, dass dies ein Kanal der Regierung ist, und es ist klar, dass sie die Informationen hier  verbreiten möchte. Man wollte mich nie in irgendetwas einschränken. Wenn der ursprüngliche ungarische Bericht Fehler enthielt und ich ihn korrigiert habe, das schätzte man auch. Stattdessen habe ich Probleme eher damit, wie die deutschen Medien über Ungarn berichten. Einmal musste ich einem anderen ungarischstämmigen deutschen Reporter erklären, dass „die Verbreitung von Antisemitismus in Ungarn“ eine Lüge ist. Ich sagte ihm, ich wohne hier und sehe das nicht.

Arbeit bei der „Deutschen Welle“

Ist Ungarn nur aus unserer Sicht ein sehr beliebtes Thema in Deutschland oder ist es wirklich so?

Es stimmt, man kritisiert die ungarische Regierung heftig und viele behaupten in den Medien, dass Ungarn antisemitisch sei, dass die Pressefreiheit nicht vollständig sei, dass die Menschenrechte eingeschränkt seien und dass Menschenmassen gegen die Regierung protestieren. Ich glaube, dass die negative Propaganda gegen Ungarn und Polen zu viel betont ist. Was ich immer an meinem Arbeitsplatz bei der Deutschen Welle wiederhole, ist, dass es keinen anderen Politiker in Europa gibt, der dreimal hintereinander mit einer solchen Mehrheit gewählt wurde. Wir können also sagen, was wir wollen, die Leute lieben ihn.

Was ist die allgemeine Meinung über Ungarn? Ungarische, regierungsnahe Meinungsforscher sagen oft, dass diese zunehmend positiv ist. Ich meine nicht die Medien- oder politischen Berichte, sondern eher die Meinung der deutschen Bürger. Was die Wahrheit ist, ist von hier aus Ungarn schwer zu bestimmen. Was sind Ihre Erfahrungen?

Ja, es gibt auch viele positive Beispiele. In ganz Bayern unterstützen viele das, was Viktor Orbán tut. Im Osten des Landes neigen sie auch dazu, seine Politik zu preisen. Der deutschen Regierung gefällt jedoch im Allgemeinen nicht, was die ungarische Regierung tut. Dies gilt jedoch nicht nur für Deutschland, sondern auch für Westeuropa. Ich denke, es gibt viele Missverständnisse, die geklärt werden sollten. Es ist sehr interessant, dass ein Reporter von Al Jazeera mich über die ungarische Situation fragen wollte, ich sagte „Ja“ zu diesem Interview. Aber seitdem hat er mich nicht kontaktiert und meine Nachrichten auch nicht beantwortet.

Ungarische Politiker kritisieren oft die deutsche Medienstruktur, laut ihnen werden die deutschen Nachrichten stark von der deutschen Regierung beeinflusst. Wie sehen Sie das?

Das habe ich noch nie erlebt. Wenn Angela Merkels Partei bei einer Wahl schlecht abschneidet, reden wir natürlich darüber. Es gibt sogar Studiogäste, die behaupten, dass Merkel wegen ihrer Migrationspolitik Stimmen verliert. Was für mich interessanter ist, ist das, was in Frankreich passiert – und die deutsche Regierung sagt dazu nichts. Das ist das seltsamste für mich.

In einem früheren Interview haben Sie gesagt, dass die stärkste Identität in Ihrem Leben die ungarische ist – schon seit Ihrer Kindheit. Diese könnte aber kanadisch, österreichisch oder sogar deutsch sein. Warum gerade ungarisch?

Ich denke wegen meines Vaters. Er erzählte immer viele Geschichten aus seinem Leben, was in Ungarn geschah. Wir hatten schöne Bilderbücher über Ungarn. Ich habe ihn so sehr geliebt und war sehr stolz, dass er ein echter Gentleman in der ungarischen Armee bleiben konnte. Er erzählte mir die Geschichte, als ein deutscher Soldat einen 14-jährigen ukrainischen Jungen hinrichten wollte, der beschuldigt wurde, ein Spion zu sein. Mein Vater ließ es nicht zu – mit anderen Worten – er rettete das Leben des Jungen. Am nächsten Tag hat man ihn in dem SS-Gefängnis eingesperrt. Mit so einer Person aufzuwachsen, hat mich sehr beeindruckt. Ich habe immer gedacht, dass so eine Person nicht von irgendwoher kommen könnte. Ich habe lange gedacht: ich brauche keine andere Sprache außer Deutsch und Englisch, weil ich dadurch mehr von den anderen Kindern isoliert würde. Mit 16 wurde es mir klar, dass das lächerlich ist, und ich entschied mich, Ungarisch zu lernen. Es war eine der besten Entscheidungen meines Lebens.