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„Der ungarische Aufstand hat mein Leben verändert“

Ungarn Heute 2020.10.22.

DDR, 1956. Fünf Minuten Schweigen für die Freiheitskämpfer von Ungarn. Fünf Minuten Schweigen, für einen Fußballer, der Opfer der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands wurde. Das hat im Jahr 1956 das Leben einer ganzen Abiturklasse der brandenburgischen Kleinstadt Storkow für immer verändert. Wegen der Solidaritätsaktion wurden die Schüler kollektiv bestraft und vom Abitur ausgeschlossen. Einer davon war Karsten Köhler, ein anderer Dietrich Garstka, der über die prägenden Folgen dieser Aktion ein Buch geschrieben hat, ein Buch, das auch verfilmt wurde. Der ehemalige Klassensprecher, Karsten Köhler kam nach mehr als 60 Jahren nach Budapest, um das Land zum ersten Mal zu besuchen, das sein Leben für immer veränderte. Interview mit dem Zeitzeugen, der, im Rahmen einer durch die Konrad-Adenauer-Stiftung Ungarn und in Kooperation mit dem Nationalen Gedenkkomitee organisierten Veranstaltung, über den Film und über sein Leben  erzählt hat.  (Das Interview erschien am 23. Oktober 2018. auf „Ungarn Heute“.)

Sie sind zum ersten Mal in Ungarn, im Land, das Ihr Leben verändert hat. Wie gefällt es Ihnen?

Von dem Land kann ich nur sehr wenig sagen, denn ich bin mit meiner Frau erst gestern Nachmittag in Budapest angekommen. Was wir uns von Budapest angesehen haben oder versucht haben uns anzusehen, ist sehr wenig.

Verfolgen Sie die Geschehnisse Ungarns seit 1956?

Im Rahmen dessen, was man in Deutschland lesen kann. Wir haben uns nicht auf Ungarn spezialisiert. Aber natürlich spielt Ungarn in meiner Geschichte und in der Geschichte unserer Klasse eine große Rolle. Dadurch haben wir die Geschehnisse in Ungarn über Jahrzehnte auch verfolgt, nicht im Detail, aber zumindest so, dass wir wissen, was hier passiert.

Die Schweigeminuten, die Sie für die ungarische Revolution gehalten haben, hat Ihr Leben und das Leben Ihrer Mitschüler komplett verändert. Sie wurden von den Eltern und Geschwistern getrennt. Wie haben Sie das erlebt?

Das haben wir zu dem Zeitpunkt, als wir die Schweigeminuten gehalten haben, noch gar nicht sehen können. Die Schweigeminuten waren eine Protestaktion, die im Oktober stattfand. Und die Geschehnisse, die dann für uns dramatisch wurden, fingen erst im Dezember 1956 an, das heißt, dazwischen sind zwei Monate vergangen. Diese waren für uns relativ problemlos.

Wir haben festgestellt, dass die Revolution in Ungarn vom Osten niedergeprügelt wurde, also war das Ganze erledigt. So sieht man es auch in dem Film.

Ich glaube der Film hält sich inhaltlich sehr nah an der Geschichte. Als dann plötzlich dieses große Auto vor der Schule vorfuhr – wir haben das Auto noch nicht gesehen und den Menschen, der da ausstieg auch nicht – da wussten wir, jetzt passiert etwas Besonderes. Was? Das haben wir später erfahren, als der Minister bei uns in der Klasse auftauchte. Er sagte uns, wenn in 8 Tagen sich der oder die Rädelsführer nicht melden – Originaltext wie im Film – dann werde er die Klasse schließen. Und der Nachsatz lautete, und das war für uns das Entscheidende:

Ihr werdet in der ganzen DDR nie mehr Abitur machen können…

Wir waren perplex natürlich. Man muss auch wissen, dass Storkow eine Kleinstadt ist, immer noch mit 5500 Einwohnern und die Schule hatte auch nur 120 Schüler. Es war die modernste Schule in der DDR. Und dass man dort sagte: „wir schließen eine ganze Oberstufe“ – das haben wir uns nicht vorstellen können. Wir haben uns gesagt: die blamieren sich bis auf die Knochen. Aber man hat uns getäuscht. Dass wir aus der Schule geflogen sind, ist nicht bekannt geworden.

Foto: Nóra Halász

Und in der BRD? Sie flüchteten in die BRD, was sagte man da? Wurden Sie da bejubelt?

3-4 Tage nachdem wir aus der Schule geflogen sind, sind wir nach West-Berlin geflüchtet. Da stand es auch in den Zeitungen und war schon öffentlich. Das war für uns langfristig gesehen positiv, es hat uns geholfen, keine Frage. Wir wurden als besondere Menschen angesehen. In einer der größten Zeitschriften Deutschlands stand in den Schlagzeilen: „Schicksal einer Klasse: 15 flüchteten.“ Da dachten die Leute: das sind ganz besondere Leute. Wir waren aber nicht besonders. Wir waren schlicht aus der Schule geflogen.

Und wir hatten eigentlich zu dem Zeitpunkt, als wir nach Berlin kamen, noch keine Ahnung, was mit uns passieren wird

Es gab aber zwei riesige Glücksfälle in Berlin. Der eine war, dass wir in West-Berlin verhört wurden – Storkow war ja eine Garnisonsstadt – und der amerikanische Offizier, der uns verhört hat, war ein ausgewanderter deutscher Jude, er konnte also deutsch. Er hat uns versprochen: „Ich helfe euch!“ Wir haben ihm gesagt, wenn wir Abitur machen wollen, dann müssen wir als Klasse zusammenbleiben. Der zweite Glückfall war, dass wir zu dem Schulsenator nach Berlin eingeladen wurden, und da haben wir genau das Gleiche gesagt: wir wollen als Klasse zusammenbleiben, und wir wollen raus aus Berlin. Die Grenzen waren noch offen, aber es wurden laufend Leute entführt. Man wollte natürlich vermeiden, dass man einen oder zwei von uns entführt und dann den Rest erpresst. Dieser Senator hat uns innerhalb von 8 Tagen 3 Orte offeriert. An diesen Orten musste eine komplett neue Klasse eingerichtet werden mit komplett neuen Lehrern. Einer dieser 3 Orte war in Süd-Hessen, zwischen Darmstadt und Heidelberg, und wir sind dann dahin gegangen. 15 Monate später haben wir dort das Abitur abgelegt. Schwierig war noch, dass wir 3 Tage vor Weihnachten aus der Schule fliehen mussten. Ich glaube ich muss nicht erzählen, was das für uns bedeutet hat.

Wir wussten, wir werden mit unseren Eltern möglicherweise nie mehr zusammenkommen

Das spielt im Film auch eine große Rolle. Deswegen hält sich der Film sehr an die Geschichte. Wir kamen nach Bensheim und wurden dort toll untergebracht, das war für uns was Neues. Alle Klassenkameraden waren Protestanten und trotzdem wurden wir die ersten 14 Tage in einem bischöflichen Konvikt untergebracht. Dass die katholische Kirche 15 Protestanten auf ihre Kosten beherbergt hat, war schon toll in dieser Zeit! Das nächste Problem war, dass wir kein Geld, keine Sachen mit uns hatten, wir sind alle nur mit einer Aktentasche geflüchtet. Viele von uns waren nicht genug selbständig. Mehr als die Hälfte unserer Klassenkameraden haben zu Hause gewohnt, das heißt, sie waren an die häusliche Sphäre gewöhnt. Es war erschreckend, dass sie niemanden fragen konnten, wenn sie Probleme hatten. Heute scheint es so, als ob es ganz einfache Dinge gewesen wären, aber damals waren es wirklich große Probleme, weil wir zu der Zeit natürlich noch kein Internet hatten.

Wann konnten Sie dann zum ersten Mal mit den Eltern sprechen?

Wir konnten mit ihnen überhaupt nicht sprechen, denn ein Telefon hatte – außer Einem, der war ein Arzt in Storkow – niemand in der Stadt. Unsere Eltern sind nach West-Berlin gefahren, und haben uns von da aus angerufen. So ging es noch bis 1961, danach konnten sie nicht mehr nach West-Berlin fahren. So haben wir uns nur per Brief informieren können. Bis ein Brief ankam, dauerte es zwischen 8 Wochen und 3 Monaten. Jeder Brief wurde aber geöffnet, da sie streng kontrolliert wurden. Einen Brief an die Eltern schreiben, indem man eigentlich nichts schreiben durfte, was den Eltern schaden könnte… Das war schwierig.

Und hatten Sie nicht Angst davor, dass die STASI Sie und Ihre Mitschüler nach Hause zurückbringen könnte und eine Rache nehmen will?

Ja, natürlich hatten wir Angst. Das kann ich aber bis heute nicht genau begreifen, warum sie sich zurückgehalten haben. Das kann zwei Gründe haben. Der eine Grund ist, dass man diese Sache möglichst ganz klein halten wollte.

Die Eltern, die dageblieben sind, haben sich auch klein gehalten. Keine politischen Äußerungen, möglichst nicht auffallen

Der zweite Grund kann nur sein, dass man versucht hat, nicht noch mehr Aufsehen zu erregen. Aufsehen war das Schlimmste, was der SED passieren konnte. Die Öffentlichkeit hätte dann Fragen stellen können. Wo ist diese Klasse? Warum sind sie nicht mehr da? Die Partei hätte diese Fragen nicht beantworten können. Es gab nur eine einzige Aussage über unsere Story, von dem damaligen Bürgermeister. Er hat das erste Mal in einer Aussage öffentlich gemacht, dass es die 12. Klasse nicht mehr gibt. Er hat gesagt: „Bis Ostern sind alle wieder da.“ Wir waren aber nicht da. Weder nach 10 noch nach 20 oder 30 Jahren…

Wann konnten Sie dann in die Heimatstadt zurückkehren? Sind Sie überhaupt irgendwann zurückgekehrt? 

Ja, erst Anfang der 70-er. 1973-74 gab es eine Entscheidung der DDR, dass man Republik-Flüchtlinge nicht mehr bestrafen wird, also alle bekamen eine Amnestie. Man wollte möglichst viele zurückhaben. Ost-Deutschland hatte, als der Sozialismus begann, 18,5 Millionen Einwohner. Als die Grenze 1961 zu gemacht wurde, hatte die DDR nur 16 Millionen. 2,5 Millionen Menschen waren weg. Und das waren nicht nur die ganz einfachen Leute, die sogenannten Intellektuellen waren auch weg. Das war schon ein Verlust, keine Frage. Deswegen kam die Amnestie.

Ich bin dann 1978 zum ersten Mal in den Osten gefahren, ich habe meine Großmutter besucht, sie war schon ziemlich alt. Aber meinen Onkel beispielsweise, der beruflich noch tätig war und als Forstmeister an der Universität gearbeitet hat, habe ich nie mehr besuchen dürfen

Wir haben uns im Wald getroffen. Er durfte nicht mit mir gesehen werden, es hätte ihm nur geschadet.

Die Schweigeminute hat Ihr Leben komplett verändert. Haben Sie in den letzten 60 Jahren bereut, daran teilgenommen zu haben? Würden Sie es noch einmal tun?

Ich habe es nicht bereut, und würde es wieder tun. Natürlich mit dem heutigen Wissen

Ich glaube, dass die Mehrzahl meiner Klassenkameraden dies genauso sieht. Wir hatten eine Diskussion mit dem Regisseur des Films, Lars Kraume, wobei wir zwei Ex-Kameradinnen, die im Osten geblieben sind, den Film gezeigt haben. Die beiden haben Dinge erzählt die ich bisher gar nicht wusste. Wir waren uns einig, dass für diejenigen, die in den Westen gegangen sind, nichts Besseres hätte passieren können. Trotzdem haben wir wahrscheinlich viel Gutes, was mit den Zurückgebliebenen passiert ist, nicht mitbekommen.

Trailer:

(Fotos: Nóra Halász)