Ungarn ist in Bezug auf die Politik so gespalten, dass selbst die Einstellung zu Impfstoffen für viele von der Parteizugehörigkeit bestimmt wird, sagt Ungarns bekanntester politischer Analyst, Gábor Török, gegenüber Hungary Today. Aufgrund dieser Polarisierung können Nuancen möglicherweise das Ergebnis der bevorstehenden Wahlen bestimmen, obwohl Fidesz derzeit als klarer Favorit angesehen werden kann, sagt er und enthüllt zusätzlich seine Ansichten zur Einzigartigkeit von Viktor Orbán. (Der Originaltext erschien auf unserer Schwesternseite „Hungary Today“)
Was sind Ihrer Meinung nach die Merkmale der ungarischen Politik, die ein Ausländer nur schwer verstehen kann?
Es gibt zahlreiche von ihnen, aber keiner ist ein Hungarikum. Man kann auf der Welt für alles ein Beispiel und auch ein Gegenbeispiel dessen finden.
Meiner Erfahrung nach ist es meistens das nationale Minimum, das fast vollständige Fehlen einer nationalen Übereinstimmung, was einen Ausländer am meisten überrascht
Für uns ist dies nicht neu, weil wir seit Jahrhunderten in Parteistreitigkeiten leben. Aber einem Fremden wird bald klar, wie tief das Land in politischen Fragen gespalten ist und insbesondere, wie die Wahl einer politischen Seite alle anderen Aspekte überschreibt. In Ungarn wurde sogar das Verhältnis zu den Impfstoffen durch die Parteiidentität bestimmt, so wie das Konzept des ungarischen Interesses nicht ohne politische Seiten definiert werden kann. Dies ist wirklich schwer zu verstehen für diejenigen, die sich eher als Mitglied einer Nation, denn als Anhänger einer Partei oder eines Politikers betrachten.
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Gilt das auch für ausländische Politiker und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens? Es gibt Meinungen, dass „wir im Westen nicht verstanden werden”.
Ich glaube nicht, dass jemand, der die ungarische Politik verstehen will, sie nicht verstehen könnte. Man könnte höchsten ein paar Dinge seltsam finden, so wie wir uns auch wundern, wenn wir von der japanischen oder belgischen Innenpolitik lesen.
Diejenigen, die sich professionell mit Politik beschäftigen, verstehen uns genau, auch wenn sie nicht immer mit uns einverstanden sind
Fact
Dr. Gábor Törökist der bekannteste und vielleicht auch renommierteste politische Analyst in Ungarn. Obwohl er Berichten zufolge gute Beziehungen zu mehreren Persönlichkeiten in der Innenpolitik unterhält, ist er dafür bekannt, keine Partei zu ergreifen oder Gesten in Richtung eines Teils des politischen Spektrums zu machen, sondern Politik nur auf wissenschaftlicher Ebene zu analysieren. Seine Unparteilichkeit bedeutet jedoch nicht, dass er sich an der Politikgestaltung enthält. 2010 wurde er als lokaler Vertreter im Dorf Aszófö am Plattensee gewählt, in dem er lebt. Während er 2019 von der Leitung der politischen Fakultät der Corvinus-Universität zurücktrat, taucht er regelmäßig in den Medien auf und veröffentlicht seine Beobachtungen, neben zahlreichen anderen Veröffentlichungen, in seinem Blog.
Fidesz hat 3 Wahlen hintereinander eine zweidrittel Mehrheit gewinnen können. Das ist nicht nur in Ungarn, sondern auch in der Europäischen Union außergewöhnlich. Was ist das Erfolgsgeheimnis von Viktor Orbán und Fidesz?
Ich würde nicht versuchen, in ein paar Sätzen herauszufinden, was in den letzten Jahren eine Vielzahl von Artikeln und Büchern erörtert haben. Ich sage lieber, was für mich das Markenzeichen der gegenwärtigen Regierung ist.
Ungarn hatte noch keine Regierung, die eine vergleichbare politische Regierungsführung verfolgt wie heute. Niemand konnte zuvor ein so diszipliniertes, bewusstes und starkes Kraftwerk bauen, und es ist auch wahr, dass das Land noch nie so einen politisch erfolgreichen Unternehmer hatte, wie den derzeitigen Regierungschef
Ich meine die Bezeichnung als politischen Unternehmer nicht negativ, sondern um etwas klarzumachen:
Viktor Orbán ist in Bezug auf Talent, Willen, Arbeitsmoral und unerbittlicher Zielstrebigkeit auch eine neue Qualität in der ungarischen Politik nach dem Regimewechsel
Jeder seiner Schritte ist von politischem Erfolg bestimmt, in seiner politischen Arbeit ordnet er alles dem unter.
Viktor Orbán sagte 2010, dass er als Ministerpräsident bis 2030 plant. Wenn er sein Ziel erreicht, inwieweit wird sich das Ungarn von 2030 von dem Ungarn von 2010 unterscheiden?
Das Land wäre ohne ihn nach 20 Jahren auch anders, aber man kann nicht leugnen, dass das vergangene Jahrzehnt bereits einen langen Schatten mit sich zieht.
Ich stimme denen zu, die über die Orbán-Ära sprechen: Alles, was nach 2010 passiert ist, wird für eine lange Zeit bei uns bleiben
Beide Seiten ernähren sich davon: Die ungarische Politik ist bereits jetzt schon Orbánisch oder Anti-Orbánisch und ich denke, dass das nach seinem zukünftigen Fortgang sicher noch einige Zeit so sein wird.
Wie würden Sie das politische System des Premierministers beschreiben? Von der konsequenten Durchsetzung des nationalen Interesses über die altmodische Christdemokratie und das hybride Regime bis hin zur Autokratie werden eine Vielzahl von Formulierungen dafür verwendet.
Wie ich bereits sagte, betrachte ich dies als eine klassische politische Regierungsführung, bei der alles vom politischen Erfolg bestimmt wird und bei der die wichtigste Aufgabe des Kraftwerks – ich hoffe nicht die einzige – darin besteht, die Macht der Regierung aufrechtzuerhalten, und eine gesicherte Mehrheit der Wähler zu erhalten.
Meiner Meinung nach baut Viktor Orbán keine Diktatur auf, sondern sein Ziel ist es, innerhalb des demokratischen Rahmens eine möglichst starke Machtstruktur aufzubauen, möglichst viele Positionen zu erlangen und langfristig die Dominanz seines politischen Lagers sicherzustellen
Alles geht darum, alles dient diesem Zweck.
Was halten Sie von der europäischen Politik des Premierministers und seiner Partei? Kann man das auch als Erfolg bezeichnen?
Der Erfolg auf der internationalen Bühne ist heute noch zweifelhaft, kann aber nicht ausgeschlossen werden. Offensichtlich könnte man die Trennung von der Volkspartei nur mit einem besseren Einblick als Erfolg bezeichnen.
Fidesz hatte viele Vorteile als Mitglied der größten Fraktion, und dieser Verlust ist trotzdem schmerzhaft, auch wenn es ein logischer Schritt war
Wir werden sehen, ob Fidesz eine nützliche Zusammenarbeit mit der radikalen europäischen Rechten aufbauen kann. Heute gibt es in diesem Bereich aber noch viele Zweifel.
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Die „Öffnung nach Osten” der Regierung in Hinsicht auf Politik und Wirtschaft wurde vielfach kritisiert. Ist das ein pragmatischer Schritt oder geht die Freundschaft – wie einige Kritiker behaupten – über die von der EU akzeptierten Grenzen hinaus? Einige befürchten, dass Orbán Ungarn einmal aus der EU hinausführen wird. Denken Sie, es gibt dafür eine Realität?
Beides zusammen trifft zu: Die Regierung verfolgt auch in diesem Bereich die pragmatischste Politik der Welt, und das geht offensichtlich über die gewohnten Grenzen Europas hinaus. Gleichzeitig ist es ganz sicher nicht Viktor Orbáns Ziel aus der Union auszutreten, sein Wert für die östlichen Partner bedeutet, als EU-Mitglied dabei zu helfen, die Interessen geltend zu machen.
Das ist der Kern des Geschäfts: Orbán möchte durch seine einflussreichen, starken östlichen Freunde sein Spielfeld erweitern, und für die Russen und Chinesen ist es wiederum kein schlechtes Geschäft mit einem Führer eines EU-Landes eine herzlich-verbündete Beziehung zu formen
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Die Corona-Krise ist langwierig und die Popularität von Fidesz scheint sich in Ungarn nicht wesentlich zu ändern. Was ist der Grund dafür?
Seitdem die Pandemie andauert, gab es schon eine Bewegung in Hinblick auf die Unterstützung der Regierung: zuerst eine Zunahme, später eine eindeutige Abnahme. Gleichzeitig muss man sehen, dass die Polarisierung in der ungarischen Politik so stark ist, dass schnelle und radikale Veränderung in der Unterstützung beider Seiten kaum vorstellbar ist. Seit Jahren sehen wir dasselbe: Fast genauso viele Menschen wollen den Verbleib der Regierung, wie ihren Abgang.
Was könnten Hauptthemen der Kampagne neben der Bekämpfung der Epidemie sein?
Ich denke, es bleibt nicht genug Zeit, um brandneue Themen einzuführen. Das Ziel beider Seiten könnte eher sein, frühere Aussagen zusammenzuknüpfen.
Fidesz ist eine Regierung die das Land vor Epidemien, Migranten, Brüsselern und Liberalen schützt. Sie zeichnen tagtäglich ein Bild einer impfgegnerischen, antiheimatlichen, antichristlichen Opposition
Die Opposition dagegen spricht von einer Regierung, die das Land ausraubt, eine Diktatur aufbaut und am Epidemie Management scheitert.
Wer, glauben Sie, könnte von den jetzigen Oppositionskandidaten der wahrscheinlichste Herausforderer für Viktor Orbán werden? Und wie sehen Sie das: Gewinnt der wahrscheinlichste Herausforderer die Vorwahl der Opposition, oder derjenige, der hinter der stärksten Parteiinfrastruktur steht?
Dies wird offensichtlich nicht von Analysten entschieden, sondern von den Wählern. Aus den Umfragen geht heute hervor, dass neben dem lange hoch gehaltenen Gergely Karácsony nun Péter Jakab aufgetaucht ist, der Präsident der Jobbik-Partei. Die Vorwahl kann zwischen ihnen entscheiden, es ist natürlich nicht ausgeschlossen, jedoch sehr unwahrscheinlich, dass Klára Dobrev von der DK eine Chance hat, die Mehrheit für sich zu gewinnen. Die Vorwahl ist in der Tat ein besonderes Genre. Der Gewinner kann jemand sein, der auch ein attraktiver Kandidat für Oppositionswähler außerhalb seiner eigenen Partei ist und der in der Lage ist, eine erhebliche Anzahl seiner potenziellen Wähler zur Teilnahme an der Vorwahl zu überreden.
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Wäre eine aus so vielen Parteien bestehende, vielfältige Opposition regierungsfähig?
Das ist wieder eine „Pudding-Test” Frage: Solange wir es nicht versuchen, kennen wir darauf keine Antwort. Natürlich nehmen wir an, dass eine Regierung umso stabiler ist, je weniger Parteien sie bilden.
Aber es steht nicht in den Sternen geschrieben, dass eine breite Koalition unentschlossen sein muss. Wenn es der Opposition gelingen sollte, eine Mehrheit zu erreichen, würde ich davon ausgehen, dass die Angst vor einer Rückkehr Orbáns eine ziemlich gute Kohäsionskraft darstellt, auch wenn ihre politische Agenda derzeit offenbar sehr gespalten ist
Sie haben vor Kurzem in einem Interview gesagt, dass diese Wahl nicht die Opposition gewinnen, sondern nur die Seite der Regierung verlieren kann. Ist dann ein weiterer Sieg von Fidesz sozusagen sicher?
Nein, ich bin mir nicht sicher. Fidesz wird der Favorit der Wahl sein, aber ich erwarte ein knappes Ergebnis, auch kleine Dinge können von großer Bedeutung sein.
Einige sagen, dass die Wahl aufgrund des Aufbaus eines politischen und wirtschaftlichen Hinterlandes von Fidesz keine Bedeutung hat, da die Hände der nächsten Regierung gebunden sein werden. Darauf Bezug nehmend spricht die Opposition von Rechenschaftspflicht. Wieviel Handlungsspielraum hätte eine Nicht-Fidesz-Regierung?
Derartige Gesetze gibt es nicht in der Politik. Natürlich wäre es für die Opposition keine leichte Aufgabe, neben der Machtmaschinerie der letzten 12 Jahre zu regieren, aber eine Regierungsposition kann eine Menge Dinge ermöglichen, wenn Absicht und Wille vorhanden sind.
Ich glaube nicht, dass es Fidesz egal ist, ob sie gewinnen oder verlieren – wer das behauptet, hat nicht hier gelebt oder die letzten Jahre nicht genau aufgepasst
Das ungarische politische System war in den frühen 2000er Jahren dem amerikanischen bipolaren System etwas ähnlich. Jetzt stehen sich wieder zwei große Blöcke gegenüber. Halten Sie es für möglich, dass dieser „zweiparteiische” Charakter sich in Zukunft verstärken wird?
Ja, es scheint, dass die Dichotomie wieder auflebt, aber noch lange nicht neben der Symmetrie der 2000er Jahre. Heute herrscht in fast jeder Hinsicht eine starke Asymmetrie in der ungarischen Politik: Die Seite der Regierung verfolgt eine zentrumorientierte, zielgerichtete Politik und ist reich an Ressourcen, während davon nichts auf die Opposition zutrifft.
Vor jeder Wahl wird gesagt, dass der Wahlkampf und sein Ton rauer sein wird als bei der vorherigen. Dies wird in der Regel auch erreicht: Die Akteure legen in der Regel die aktuelle Wahl als den letzten, entscheidenden Kampf fest. Kann das Land sich also auf den „härtesten Wahlkampf alles Zeiten” vorbereiten? Ist der Einsatz jetzt höher als gewöhnlich?
Der Einsatz ist immer groß. Der Unterschied besteht jetzt höchsten darin, dass beide Seiten an ihren eigenen Erfolg glauben können. Die Reizschwelle ist in den letzten Jahren immer höher geworden. Davon ausgehend, kann man mit radikalen Neuigkeiten nicht mehr rechnen: Die Kampagne läuft seit Jahren, vielleicht hört sie auch nie auf.
(via: Hungary Today, übersetzt von Katharina Haffner)