Anlässlich des 25. Gründungsjubiläums des Ungarischen Atlantikrates am 09. März war Tacan Ildem, stellvertretender NATO-Generalsekretär an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften zu Gast. Der ehemalige Vertreter der Türkei in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSCE) in Wien hat im März 2016 sein Amt als stellvertretender NATO-Generalsekretär angetreten. Mit Ungarn Heute sprach er, nachdem er seiner Rede zum feierlichen Anlass gehalten hatte, über die Herausforderungen, denen das Atlantische Bündnis heute gegenübersteht.
Die vollständige englische Übersetzung des Textes ist auf Hungary Today zu lesen.
Was bedeutete die NATO Osterweiterung im Jahre 1999, als Ungarn, Polen und Tschechien der Organisation beitraten, für den Nordatlantikpakt? Welche Rolle hat Ungarn in den NATO-Verteidigungsprogrammen gespielt?
Erstens muss ich betonen, dass “NATO’s open door policy” (Politik der offenen Tür) ein wichtiges Mittel ist, Ehrgeiz und Bereitschaft neuer Staaten zu fördern, sich zur NATO anzuschließen; die gleichen Werte zu teilen; und zur Sicherheit und zum Schutz im nordatlantischen Gebiet beizutragen. Meiner Ansicht nach haben wir mit jeder Welle der NATO Erweiterung die offensichtlichen Ergebnisse dieses Prozesses gesehen. Deshalb ist diese Politik ein einzigartiges und sehr wichtiges Mittel in den Händen der NATO. Der Beitritt dieser drei Staaten – Ungarn, Polen und Tschechien – machte die NATO stärker. Heute, an der Konferenz haben wir über die wichtigen Beiträge Ungarns gehört: Afghanistan, Beiträge zur KFOR (Kosovo Truppe) in mehreren Operationen und Missionen, sogar in Luftraumüberwachung. Diese sind wertvoll und fundamental. Aber die wichtigste Sache ist – wie es in den Reden zu hören war – dass NATO einen gemeinsamen Wertmaßstab hat; wir haben gemeinsamen Ideale – demokratische Werte, individuelle Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Durch den Beitritt neuer Staaten verstärken wir uns, weil die Kraft der demokratischen Gemeinschaft der Staaten entscheidend ist.
Was ist Ihre Meinung über die Schritte der EU zur Erweiterung der Verteidigungszusammenarbeit, die von Manchen als Schritte zur „EU-Armee“ interpretiert werden? Denken Sie, dass dadurch NATO geschwächt wird?
Es ist wichtig zu bemerken, dass wir nicht über eine EU Armee sprechen, sondern eher über bestimmte Planungsaktivitäten, die von einer Gruppe von Stabsoffizieren durchgeführt werden, insbesondere um EU Missionen auf unterschiedlichen Gebieten der Erde durchzuführen. Was ich darüber sicherlich sagen kann: Starke EU kommt nicht zu Ungunsten der NATO. Es gibt einen Konsens über die Komplementarität der Bemühungen zwischen den zwei Organisationen. Die heutige Sicherheitsumgebung ist sehr komplex, es gibt unterschiedliche Herausforderungen, die gleichzeitig auftreten; beide Organisationen sind mit diesen Herausforderungen konfrontiert, sie sollen also einander unterstützen. Jede Organisation hat verschiedene Stärken, und wenn diese komplementär kombiniert werden, während das Prinzip, Doppelarbeit zu vermeiden, gewährt wird, wird es sowohl für die NATO als auch für die EU von Nutzen sein. Diese Frage ist nicht als Wettbewerb zu verstehen. Ich glaube, wir sollen viel mehr auf das Wort “Komplementarität” fokussieren.
Was denken Sie über die Annäherungspolitik zwischen dem ungarischen Ministerpräsidenten und Vladimir Putins Russland? Denken Sie, dass die Stärkung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Ungarn und Russland Gefahr (für NATO) darstellen?
Ich muss betonen, dass es nicht meine Aufgabe ist, individuelle Entscheidungen, politische Präferenzen und Prioritäten souveräner Nationen zu kommentieren. Es soll nicht vergessen werden, dass NATO 28 – bald 29 – souveräne, demokratische und unabhängige Nationen als Mitglied hat, die unterschiedliche Ziele haben können. Vorauf wir fokussieren sollen, sind die Entscheidungen, die in der NATO gemeinsam getroffen wurden, und in der NATO werden Konsensentscheidungen getroffen. Wir haben die Gipfelerklärung von Wales, die Gipfelerklärung von Warschau und die Vorgehensweise der NATO gegenüber Russland ist klar. Die Maßnahmen, die von der NATO seit dem Gipfel von Wales getroffen worden sind, sind die Konsequenzen der gewaltigen Aktionen der Russischen Föderation in der Ukraine. Die illegale und illegitime Annexion der Halbinsel Krim kann von den NATO Verbündeten nicht akzeptiert werden. Das ist eine unbestrittene Tatsache. Es ist sehr wichtig, dass diese Annexion von Niemandem anerkannt ist. Daneben sind alle Maßnahmen, die seit dem Gipfel von Wels von der NATO getroffen worden sind, defensiv ausgerichtet. Russland hat sich aggressiv verhalten und damit wich er von den Regeln, die Europas Sicherheit bestimmen, ab. Es gibt klare Verstöße, so ist es unsere Aufgabe, unsere Bürger und unsere Nationen zu schützen. Aus diesem Grund werden unsere Verteidigungskapazitäten erhöht, aber dadurch wird niemand provoziert. Gleichzeitig laufen auch Verhandlungen mit der Russischen Föderation. Deshalb wurde der NATO-Russland-Rat (NRC) im letzten Jahr dreimal einberufen, damit der politische Dialog fortgesetzt werden kann. Seit der Annexion der Halbinsel Krim wurde die pragmatische Kooperation zwischen der NATO und Russland suspendiert; es soll nicht vergessen werden, dass dies war die Antwort darauf, dass Russland gegen die Regeln verstoßen hat, auf denen die Sicherheit Europas basiert.
Während seiner Kampagne kritisierte der Präsident der USA, Donald Trump, die NATO. Er beschwerte sich über die aus seiner Perspektive “unzureichenden” Beiträge der NATO Verbündeten zur Verteidigung. Was denken Sie, inwieweit gefährdet diese Rhetorik die NATO?
Ich sehe nichts, worum wir uns Sorgen machen sollten, da US-Präsident Trump sowohl in seinen öffentlichen Erklärungen, als auch dem NATO-Generalsekretär telefonisch die „starke Unterstützung“ seines Landes für das Militärbündnis zugesichert hat. Er hat auch seine persönliche Unterstützung zum Ausdruck gebracht. Worüber er spricht – die gerechte Lastenverteilung – gehörte zur Agenda der NATO, bevor Präsident Trump seine Ansicht im Thema entfaltete. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat seit Langem die Notwendigkeit der gerechten Lastenverteilung befürwortet. Aus diesem Grund waren im Jahre 2014 auf den Gipfel von Wales die verbündeten Staatsoberhäupter und Regierungschefs mit der Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent der GDP einverstanden. Bei denjenigen, die dieses Ziel noch nicht erreicht haben, soll es bis 2024 realisiert werden. Es gibt also eine Verpflichtung. Es ist auch eine gute Nachricht, dass nachdem der Konsens gefunden worden war, war die Reduzierung der Verteidigungsausgaben im nächsten Jahr gestoppt, und im Jahre 2016 war insgesamt 3,8 Prozent Erhöhung der Verteidigungsausgaben in den europäischen Staaten und in Kanada zu beobachten. Wir können sagen, dass wir bei einem Wendepunkt sind, es ist ein guter Trend. In diesem Jahr hat Rumänien erklärt, dass dort das 2 Prozent GDP Ziel schon in diesem Jahr erreicht wird, während in Lettland und Litauen es im nächsten Jahr verwirklicht wird. Der Trend ist also gut, es gibt immer noch Vieles zu erreichen, aber diese Entwicklung ist das, was auch US-Präsident Trump positiv interpretiert. In seiner Erklärung vor Kurzem hat er über seine Freude über die positiven Signale aus Europa gesprochen.
Welche Rolle spielt NATO in der Linderung oder Behandlung der Flüchtlingskrise in Europa und im Nahen Osten?
Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es unumstritten die größte Krise. NATO war bereit, angesichts der Flüchtlingskrise unverzüglich zu handeln, und den zwei verbündeten Staaten, Griechenland und den Türkei Beitrag zu leisten. NATO arbeitet auch mit der EU zusammen; in der Ägäisregion stationieren ständige maritime NATO Einsatzverbände, die sowohl mit der türkischen und griechischen Küstenwache, als auch mit der FRONTEX (Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache) kooperieren. Es gibt überall kollektive Bemühungen, die Verbündeten tragen dazu mit unterschiedlichen Einheiten der Marine bei. Die Tatsache, dass die NATO Aktivität zur Verringerung des Menschenhandels beiträgt, ist mit Daten unterstützt. Es ist ein starker Rückgang zu beobachten. Aber der Beitrag der zwei Staaten, die Türkei und Griechenland, muss hervorgehoben werden, mit ihrem nationalen Aufwand und ihrer nationalen Bemühungen könnte diese Aktivität effektiv gezügelt werden.
Als ehemaliger türkischer Botschafter, können Sie uns mehr über den türkischen Beitrag zur Behandlung der Flüchtlingskrise sagen?
Ich habe jetzt eine internationale Funktion inne. Aber legen wir meine nationale Zugehörigkeit zur Seite – die Türkei ist ein wichtiger Verbündete – ich kann sagen, dass die Türkei eine riesige Last auf seine Schultern nahm, als sie mehr als 3 Millionen Flüchtlinge aufnahm, und ihnen Schutz, Unterkunft und die nötige Versorgung sichert. Man muss verstehen, dass es nicht einfach ist. Diese Menschen müssen gefüttert werden, sie müssen ausgebildet werden, es gibt auch Sterbende und neugeborene Babys. Um ihre gesundheitliche Versorgung zu sichern, ist ein Organisationstalent gebraucht, und was die Türkei mit seiner nationalen Fähigkeit gemacht hat, muss anerkannt werden. Ich glaube, es gibt sämtliche internationale Organisationen, in erster Linie die UNHCR (Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) hat die Bemühungen der Türkei erkannt und gewürdigt.
Interview von Enikő Enzsöl und Tamás Székely