Mit Zsolt Hamar Generalmusikdirektor der Ungarischen Nationalphilharmonie wurde am 17. Mai 2017 Interview geführt. Mit Ungarn Heute sprach der Dirigent darüber, wie er die Entscheidung getroffen hat, aus Wiesbaden nach Budapest zurückzukehren, wie er das musikalische Leben in Deutschland und in Ungarn sieht und über vieles mehr.
Fünf Jahre lang waren Sie Generalmusikdirektor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, woher Sie nach Ungarn zurückkehrten und sich ab März als Generalmusikdirektor der Ungarischen Nationalphilharmonie betätigen. Wie wurde die Entscheidung getroffen, nach Ungarn zurückzukommen?
Es war eine schwierige berufliche Entscheidung, da dieses Orchester mein erstes ständiges Orchester war. Hier habe ich meine musikalische Laufbahn begonnen, hier habe ich „meine Flügel erst ausgebreitet”. Diese Situation brachte aber Gefahren mit sich. Einerseits, wie kann ich mir das denken, dass ich hierhin komme, und die Chefstelle antrete? Andererseits war Zoltán Kocsis mein Lehrer, Mentor, Vorbild und viel mehr. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, seine Nachfolge anzutreten. Ihre Frage ist auch meine Antwort. Ich habe 5 Jahre in Italien, 6 Jahre in der Schweiz und schließlich 5 Jahre in Deutschland gelebt und gearbeitet. Diese Projekte habe ich mit riesiger Begeisterung angeschnitten, ich wollte quasi die Welt erobern. Aber ich muss zugeben, dass sich vor einigen Jahren etwas verändert hat. Das Gefühl, dass ich eine Heimat und ein Heimatland habe, dass ich nach Hause gehen will um da etwas zu schaffen, wurde immer stärker. Dieses Gefühl gab auf meinen beruflichen Zweifel eine Antwort: jetzt gibt es die Möglichkeit, nach Hause zu gehen. Und nach einer Weile habe ich nicht mehr gezögert, ich habe mich entschieden, nach Hause zu kommen.
Was haben Sie in Deutschland aus Ungarn vermisst, und was vermissen Sie jetzt in Ungarn aus Deutschland?
Es ist sehr schwierig in ein-zwei Sätzen zusammenzufassen. Im Ausland wird alles vermisst. Die Muttersprache wird vermisst, auch mal so, dass wir – mit meiner Tochter und meiner Frau – zu Hause Ungarisch gesprochen haben und haben versucht, am Ball zu bleiben: wir haben ferngesehen, Radio gehört, im Internet gesurft. Die Geschmäcke werden vermisst. Der Humor wird vermisst. Das wird sogar schrecklich vermisst. Die Flexibilität im guten Sinne wird vermisst, sowohl bei der Kommunikation als auch bei den menschlichen Kontakten. In Ungarn kommt es vor, wenn das Schild eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h vorgibt, dass man ein bisschen schneller oder langsamer fährt, da der Verkehr ein bestimmtes Tempo hat, und man passt sich daran an. In Deutschland ist 30 km/h immer 30 km/h, egal, ob es scheint, schneit oder den Anderen stört. Interessanterweise hat mich diese Einstellung in der Schweiz nicht gestört, im Gegenteil: es hat mir sehr gefallen. In Italien ist es ganz anders, ich denke, dass ich es nicht erklären soll. Also kurz gefasst: Im Ausland wird Alles aus Ungarn vermisst.
Und was jetzt hier vermisst wird: selbstverständlich das fantastische Organisationstalent. Das vermisse ich. Aber ich muss zugeben, dass meine älteren deutschen Freunde schwören, dass die deutsche Preziosität und Pedanterie sich mit der Zeit verändert hat. Ich denke, dass die Preziosität, was ich kennengelernt habe, daran am deutlichsten sichtbar wird, wie die Arbeiten vorbereitet werden. Alles wird früh durchdacht, auf alle Fälle wird vorbereitet. Motivation zur Organisierung bietet die Angst vor den unberechenbaren Situationen, auf die sie nicht so schnell reagieren können. Es ist aber fantastisch, wie durchdacht alles in Deutschland vorbereitet wird, nicht nur eine Woche, sondern auch ein Jahr vor dem Ereignis. Dies soll so gemacht werden, das braucht so viel Zeit – alles ist sehr präzis ausgearbeitet, das sollte in Ungarn auch gelernt werden. Ich versuche es jetzt, auch bei der Philharmonie einzuführen.
Ist die ungarische Musik auf den internationalen Bühnen bekannt? Wie würden Sie die ungarische Musik im Ausland einordnen?
Ich versuche die Frage aus einer anderen Richtung zu beantworten, ich hoffe, dass ich auch an die Antwort gelange. Die europäische Einheit, die Europäische Union als Gedanke, als Ideal, was von den europäischen Ländern – ich formuliere es absichtlich so – auf die Fahne geschrieben wurde, ist nach meiner Meinung gescheitert. In der Zeit des Wohlstands ist es leicht, Freunde zu sein. Wenn es aber ein Problem gibt, dann stellt es sich heraus, ob man fest zusammenhalten kann. Die vergangenen ein-zwei Jahren haben mir gezeigt, dass bei dem ersten nicht so kleinen Problem 22 Länder in 23 Richtungen gehen wollten. Andererseits kann die Europäische Union in der Form, in dem es entstand, entwicklungsgeschichtlich nicht verstanden werden. Die EU kann nur so verstanden werden, wie ein Weg, wie eine Position auf dem Weg. Das Europa der vielen Nationalstaaten hat sich auf dem Weg gesetzt, um die Vereinigten Staaten von Europa zu verwirklichen. Die Europäische Union ist ein Zwischenstand, eine Einheit, in der es noch „Bestandteile” gibt. So ist es unvorstellbar über europäische Einheit zu sprechen und mit Amerika, Russland, China usw. zu konkurrieren, wenn es in jedem Land ein anderes Steuergesetz, andere Sozialversicherung und Krankenversicherung usw. gibt. Eine Währung, ein Euro zu schaffen, das nicht von einer einheitlichen Finanzpolitik geschützt wird, ist nur ein Versprechen, da das Geld allein nicht für die Einheit stehen kann. Im Hintergrund ist einheitlicher Wille gebraucht, was ab der ersten Minute fehlte. Ich glaube, dass diejenige, die das ausgedacht und zustande gebracht haben, nach der Taktik vorgegangen sind, dass es nur angefangen werden soll, dann formt es sich und schließlich entstehen die Vereinigten Staaten von Europa. Nie war dieser Gedanke als Möglichkeit von der Verwirklichung so fern, wie jetzt. Ich meine, diese Sachen haben sich umgedreht.
Warum ich versuche, Ihre Frage so lange und kompliziert zu beantworten: ich habe in den vergangenen fünf Jahren die Veränderung in Deutschland miterlebt, als die selbstverständliche, immer sehr betonte und artikulierte Willkommenskultur sich umgedreht hat, und die Position „wir und die Anderen” entstand, wobei nicht mehr das betont wurde, was uns verbindet, sondern das, was uns auseinanderhält. Wenn die deutsche Musikszene nicht daran denkt, dass es super ist, Teil der europäischen Kultur zu sein, zusammen mit der ungarischen Musikszene mit ihren Werten, mit Bartók, mit Kodály usw., sondern ein bisschen hochmütige, herablassende Haltung zeigt: „Ah ja, das gibt es auch, aber wir wissen nicht, wie und warum.” Ich persönlich kann mit Argumenten belegen, dass Béla Bartók – mit Igor Strawinsky, Arnold Schönberg, Anton Webern, Anton Berg – zu den größten Komponisten des 20. Jahrhunderts zählt, trotzdem musste ich mich doppelt bemühen, um Bartók spielen zu dürfen. Als ich dem Orchester in Wiesbaden Bartók beigebracht habe, hatte ich das Gefühl, dass sie Bartók nicht verstehen wollten, dass sie dachten: „er geht einmal sowieso weg, dann können wir endlich ruhig Schönberg spielen.” Das fühlte ich, aber ich sehe ein, dass meine „Antenne” empfindlich ist. Aber ich glaube, dass meine Aussage gerechtfertigt ist. Aber das alleine ist kein Problem. Ich persönlich – und ich nehme an, dass es Ihre nächste Frage wäre – kann mir kein schöneres Ars Poetica vorstellen, als die Welt kennenzulernen, viel zu erfahren, viel zu erlernen und schließlich nach Hause zu kommen, um daraus etwas zu schaffen und aufzubauen. Mir kann ich nichts Schöneres vorstellen. Tief in meiner Seele habe ich es auch so geplant, und mir ist es ein Geschenk, dass ich jetzt in meiner Heimat die Möglichkeit bekommen habe.
Sie haben Klavier gespielt und Kompositionskurse belegt. Beschäftigen Sie sich heute noch damit?
Ja, ich komponiere. Ich weiß nicht, ob ich mit der Absicht komponiere, meine Werke unbedingt zu veröffentlichen. Ich brauche zu meinem seelischen Gleichgewicht und zu meinem stabilen Arbeitsweg, mich manchmal vor ein leeres Blatt zu setzen, worauf ich versuche, Noten aufzuschreiben. Solche Noten, die von anderen noch nie aufgeschrieben wurden und die ästhetisches Erlebnis bedeuten. Das brauche ich. Ob ich dem Publikum meine Noten anbieten möchte, habe ich noch nicht entschieden.
Was würden Sie den Dirigenten der Zukunft raten? Was soll gemacht werden, um solche Karriere zu haben, wie Sie? Wie wird jemand ein wirklich erfolgreicher Dirigent?
Dazu sind unglaublich viele Dinge gebraucht, unter anderem sehr viel Glück. Das Glück ist in der Berufslaufbahn ein entscheidender Faktor, was nicht leicht zu ertragen ist. Ich konnte jetzt nur aus Ungarn acht-zehn Dirigenten nennen, die ausgezeichnet qualifiziert und vorbereitet sind, sie wissen alles, was ein Dirigent zu wissen braucht, aber es ist gar nicht sicher, dass sie im Ausland die Möglichkeiten haben werden, die ich hatte. Um nicht verrückt und verbittert zu werden, ist nach meiner Meinung die erste Regel, die Karriere so zu bilden, dass man nicht die Karriere bildet. Nicht die Karriere soll gebildet werden, nicht die Karriere soll entscheidend werden, sondern dass man schön musiziert, auf die Musik konzentriert, und wenn das Schicksal, der Gott oder wie es heißen mag eine Möglichkeit bietet, das in Berlin, Zürich oder in New York zu machen, dann soll man dankbar sein. Wenn man es „nur” in Pécs machen kann (ich darf das Beispiel benutzen, da ich 10 Jahre meines Lebens glücklich in Pécs verbracht habe), dann soll man sich darüber freuen. Ansonsten Demut, Demut, Demut.
Wann sollte man anfangen, ab welchem Alter kann man Dirigent werden?
Es muss vorweggenommen werden, dass ich altmodisch und konservativ bin. In Deutschland wurde ich öfter darum kritisiert, dass ich altmodisch bin. Damals hat es mich nicht gestört, jetzt bin ich sogar stolz darauf. Ich glaube, man braucht etwas, bevor man Dirigent wird. Offensichtlich ein Instrument. Mir war es besonders nützlich, dass ich das Dirigieren im fünften Jahr meines Kompositionsstudiums angefangen habe. Ich konnte eine Partitur mit „Komponistengehirn” durchschauen, was sich als nützlich erwies. Dass ein 18-jähriger Abiturient sich entscheidet, Komponist zu werden, und dann fängt er an, ein Instrument, Solfeggio und Musiktheorie zu studieren – daran glaube ich nicht. Es muss aber zugegeben werden, dass dieser Beruf der Beruf der Ausnahmen ist. Wenn ich als Dirigent unterrichte, erkläre ich was und wie gemacht werden soll, und dann passieren die größten Dinge bei solchen Studenten, die etwas Anderes machen, die etwas irgendwie anders machen, das muss hinzugefügt werden. Das ist einerlei die Antwort auf Ihre Frage. Eine andere Antwort ist, dass jemand mit 45-50 Jahren beginnt, Dirigent zu sein. Bislang ist man ein Versprechen und nicht mehr. Dann wird eine Art menschliche Weisheit, psychologische Weisheit erreicht, wenn es von ihm erreicht werden kann. Wir sollen kein Instrument spielen, wir sollen mit denjenigen spielen, von denen das Instrument gespielt wird. Sie sind unsere Instrumente. Und die Saiten der menschlichen Seele sind am kompliziertesten und komplexesten.
Was gibt es über die nächste Saison der Ungarischen Philharmonie zu wissen?
Wir sind mit dem Programm wegen der Umstellung sehr verspätet. Ich glaube, dass eine kühne Saison angerichtet wird. Es wird viel mehr gespielt, als früher, eine andere Struktur wird verwirklicht, es werden wieder Abonnements geben, nicht nur ein oder zwei, sondern mehr. Es wird auf neuen Orten gespielt, neue Formen werden ausprobiert. In dieser Hinsicht bin ich sehr optimistisch.
Foto: Ungarn Heute