Die im Juli beginnende deutsche Ratspräsidentschaft wird vielleicht die wichtigste in der Geschichte der EU sein. Sie sollte nicht jetzt schon durch Zurechtweisungen und Feindbilder belastet werden, schreibt Ungarns Justizministerin in einem Gastbeitrag der deutschen „Welt“. Unter den gegenwärtigen Umständen, die die Bekämpfung der Coronavirus-Epidemie und die Bewältigung des Brexit beinhalten, „sind Konsensbildung und Zusammenarbeit heute wichtiger als je zuvor“, schrieb Judit Varga.
„Die Covid-19-Epidemie wurde noch nicht besiegt. Die Mitgliedstaaten befinden sich in verschiedenen Phasen dieses Prozesses, und wir wissen nicht mit Bestimmtheit, ob die Zahl der Erkrankten auf europäischer Ebene bereits ihren Höhepunkt erreicht hat. Weitere Maßnahmen müssen ergriffen werden, um das Leben und die Gesundheit unserer Bürger zu schützen“ – so beginnt die ungarische Justizministerin ihren Gastbeitrag in der online Asugabe der „Welt“. Judit Varga betont, dass „der Schock, der die europäische Wirtschaft erschüttert hat, muss unverzüglich angegangen werden, und man muss die nötigen Instrumente und Ressourcen bereitstellen, um sie wieder aufbauen zu können.“
Laut der Ministerin muss man den neuen mehrjährigen Finanzrahmen vereinbaren, was „schon unter normalen Umständen eine gigantische Aufgabe darstellen würde und derzeit an das Unmögliche grenzt.“ Sie warnt, dass die Migrationskrise noch nicht vorbei sei:
Die allgemeine Lähmung aufgrund der Epidemie-Situation und die kurzfristigen Sperrmaßnahmen haben die Massenbewegungen gebremst, aber nach dem Ende der Pandemie werden sie voraussichtlich noch stärker erneut beginnen.
so Varga.
In Bezug auf den Brexit stellt die Minsterin fest, dass es eine für beide Seiten vorteilhafte Vereinbarung erzielt werden sollte, indem „unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten und gestärkt werden sollte“.
Deshalb sind Konsensbildung und Zusammenarbeit heute wichtiger als jemals zuvor.
Judit Varga weist auf einen WELT-Gastbeitrag des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Michael Roth hin. Laut Varga skizzierte der deutsche Politiker darin ein Feinbild, das Ungarn ist.
Dieser Feind ist Ungarn. Der Grund dafür ist, dass Ungarn angeblich die Grundsätze der europäischen Integration, insbesondere die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit nicht respektiert.
Justizministerin schreibt weiter: „Die Versuchung wäre groß, jetzt ausführlich zu erklären, wie falsch diese Aussage ist, aber ich habe das bereits mehrmals und an vielen Orten getan. Staatsminister Roth hingegen will dies nicht hören und sehen. Es stellt sich die Frage, was die Ursache dafür ist und was die Folge davon sein wird.“
Ungarische Justizministerin an Staatsminister Roth: „Es reicht schon!“
Die Folgen sind einfach zu beschreiben. Die Werte, die wir gemeinsam haben und die selbstverständlich sind, werden zu einem politischen Instrument. Anstelle von Einheit schaffen sie Spaltung.
Über den zukünftigen mehrjährigen Finanzrahmen schreibt Varga, dass es einen Konsens zwischen den Mitgliedstaaten voraussetzt, stellt aber gleich die Frage, wie Staatsminister Roth diesen erreichen wolle, wenn er offen erklärte, „ein Instrument verabschieden lassen zu wollen, das die Bestrafung eines der Mitgliedstaaten bezweckt?“Varga fügt noch hinzu: „Warum hat Staatsminister Roth, der die Bedeutung europäischer Normen betont, beschlossen, das ungeschriebene Gesetz der Neutralität in der letzten Phase der Vorbereitung einer EU-Ratspräsidentschaft spektakulär zu ignorieren?“
Sie versucht auch, diese Fragen zu beantworten:
„Vielleicht geht es darum, vor den Budgetverhandlungen neue Bruchlinien und neue Spaltungen hervorzurufen. Vielleicht will er Druck auf Ungarn ausüben, das aufgrund der aktuellen Vorschläge verhältnismäßig den größten Mittelverlust erleiden würde. Es ist äußerst bedenklich, Geld von den aufholenden Ländern zu nehmen und es den reicheren Ländern zu geben: Also besteht die Notwendigkeit, den davon Betroffenen zu dämonisieren. Vielleicht sucht Staatsminister Roth anstelle eines echten Krisenmanagements nach Ersatzhandlungen. Die an Ungarn gerichtete Lektion und Zurechtweisung ist dafür perfekt geeignet. Diese politische Strategie liegt nicht im Interesse Europas.“
Die Ministerin schließt ihre Gedanken mit der folgende Aussage:
Deutschland hat es oft geschafft, in kritischen Momenten als neutraler Vermittler einen Konsens über schwierige Fragen zu erzielen. Dabei kann es sich wie immer auf Ungarn als soliden Partner, als seinen mit ihm in enger Interessen- und Wertegemeinschaft stehenden Verbündeten verlassen.
(Via: welt.de, Beitragsbild: MTI – Balázs Mohai)