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Menschengerechtes Leben jenseits von Segregation und Integration – Besuch bei der Roma-Minderheit in Nyíregyháza

Éva Trauttwein 2022.04.16.

Lebhaft treten 30 Kinder in das Gebäude des Tagesheimes ein. Nach den Schulstunden und der gemeinsamen Hausaufgabenvorbereitung gehen sie nicht nach Hause, auf sie wartet noch eine Beschäftigung. Sie stellen ihre Schultaschen ab, ziehen ihre Schuhe aus, waschen sich die Hände, und schon sind sie bei den Spielregalen. Tick Tack Bumm, Halli Galli, Monopoli Junior – groß ist die Auswahl an Gesellschaftspielen. Gruppen bilden sich, und das Spiel beginnt. Wir sind in dem von der Roma-Minderheit bewohnten Teil von Nyíregyháza, im sogenannten Husarenviertel.

Dieses Viertel blickt auf eine lange Geschichte zurück. 40 Kasernengebäude wurden noch während der Monarchie gebaut, aus diesen einstöckigen Häusern bildete man in den 50-er Jahren Wohnungen. Die im Laufe der Zeit der mehrheitlich von Roma-Familien bewohnten Häuser sind stark heruntergekommen. Ohne Komfort, ohne Kanalisation lebten jahrzehntelang die Romas in überbelegten Wohnungen.

Mit Hilfe von EU-Geldern wurden die Häuser vor einem Jahr saniert. Heizung, Wasserleitung gelegt, neue Fenster und Türen eingebaut, die abbröckelnden Fassaden sind gedämmt und frisch gestrichen. Die Wohnungsverhältnisse sind bedeutend besser geworden.

Das von der Stadt durch die Bahn abgetrennte Wohnviertel erlebte durch die Sanierung große Veränderungen. Ein schönes, gepflegtes Schulgelände, Spiel- und Sportplatz, Gemeinschaftshaus bieten den Bewohnern Möglichkeiten. Das Tagesheim Magvető bekam vor zwei Jahren renovierte Räumlichkeiten.

Die griechisch-katholisch Kirche – die Eparchie von Nyíregyháza – begann ihren Dienst in dem Husarenviertel vor 10 Jahren.

Sie übernahmen den Kindergarten und die Schule, die fast nur von Roma-Kindern besucht wird, und gründete das Tagesheim Magvető für die am meisten benachteiligten Familien. Es ist für Kinder bestimmt, die zu Hause nach der Schule in prekäre Verhältnisse gelangten.

Hier sind wir zu Gast, inmitten der Ostervorbereitung lernen wir ihr Leben kennen. Uns empfängt die Leiterin, Frau Valéria Szabó Bernát und der griechisch-katholische Priester, Szabolcs Ede Szikora.

Wir betreten den gepflegten Hof und Garten. Beim Eingang hat man einen Container mit Waschmaschinen aufgestellt. Mütter, die das brauchen, können ihre Wäsche hier erledigen, solange die Kinder im Heim Beschäftigung haben. „Eine Winzigkeit, aber es erleichtert ihr Leben“ – sagt uns Valéria.

Der Garten ist kinderfreundlich eingerichtet, und im schönen Wetter sehr beliebt. Ein Gartenpavillon, Schaukel, Trambuline und Tischtennistische bieten hier Möglichkeiten zum Spielen. Das Heim hat drei große Säle. Die Tagesbeschäftigung findet im mittleren Raum statt, der größte Raum ist die Kapelle, wo sich die Einwohner an der Sonntagsliturgie zu den Festen treffen.

Der kleinste Raum ist eine Küche mit einem runden Esstisch, wo die Kinder zusammen zu Abendessen.

Die Kirche handelt aus der Überzeugung, dass Bildung die wichtigste Aufstiegschance für die Kinder ist, und organisierte ganztägige Betreuung für die am meisten benachteiligten Familien.

Diese 30 Kinder gehen erst nach dem zusammen eingenommenen Abendessen nach Hause. Im Magvető-Heim geht es in erster Linie nicht um das Lernen. Diese Zeit nach der Schule ist für Gespräche, Feste und Aktivitäten, wie Sport, Musik und Kunst bestimmt.

Nach dem freien Spiel sitzen die Kinder um den großen Tisch. Das Lehrpersonal – Sozialarbeiter, Pädagogen, Katecheten, Priester – führt das Gespräch. Sie haben eine starke und stabile Beziehung zu den Kindern, sie kennen sie gut, wissen um ihre Stärken, Schwächen und Potenziale. Die kleinen können erzählen, wie ihr Tag war, was für sie schwer war, worüber sie sich freuen. Jeder bekommt das Wort, den schüchternen wird mit Fragen geholfen, damit sie sich auch am Gespräch beteiligen können.

Das Lehrpersonal bekommt so ein Bild, wer vielleicht Hilfe im Lernen braucht, und es folgt ein bisschen Üben, Vorbereitung auf Schultests. Die Beschäftigung endet mit einem gemeinsamen Abendessen. Der Tisch wird gedeckt, das Lehrpersonal kümmert sich darum, dass etwas Leckeres angeboten wird. „Am Monatsende ist warmes Essen vonnöten“ – sagt Valéria. Wie in einer Familie. Beneidenswert sogar, da die gesetzten Grenzen für Handys und Computerspiele, TV Serien problemlos eingehalten werden – stellen wir während des Nachmittages fest.

Ins Tagesheim kommen die Kinder freiwillig, die Teilnahme ist für benachteiligte Familien offen, der Anspruch ist auf diese Beschäftigungsform sehr groß. Wir haben eine Warteliste, unsere Kapazitäten sind halt begrenzt

sagt die Leiterin.

Die Kinder im Husarenviertel besuchen die Sója Miklós Griechisch-katholische Schule. Diese wird seit zehn Jahren von der Eparchie Nyíregyháza betrieben. Sie bietet Abhilfe, sie ist auf die spezielle Situation der Kinder eingestellt. „Am Anfang musste ein Angestellter in der Früh die Familien aufsuchen, und die Kinder in die Schule bringen“ – erzählt Valérie. „Heute haben wir keine Probleme mehr, die Kinder kommen von alleine. Wir sind vor Ort anwesend kennen die Situation der Familien und können auf die Bedürfnisse der Kinder besser reagieren. Unsere Klassen sind kleiner, ähnlich wie im Modell der Willkommensklasse in Deutschland,  wird den Kindern ein gewisser „Schonraum“ ermöglicht“ – erklärt die Leiterin, die jahrelang Direktorin der Schule war.

Das Ergebnis ist überzeugend, die Schulabbrecherquote ist gleich null, fast 100% der Kinder erwerben den notwendigen Schulabschluss, und können einen Beruf erlernen, einige schaffen auch das Gymnasium.

Die Beschäftigung mit den Kindern hat große Auswirkung auf die Familien. Eltern schätzen sehr die soziale und emotionale Unterstützung, die ihre Kinder erhalten. „Wir informieren, begleiten und helfen den Eltern. Wenn wir die Eltern dazu bringen können, uns zu vertrauen, dann haben wir viel gewonnen. Religion hat einen zentralen Stellenwert im Leben des Heimes, der Schule und so auch des Viertels. „Wenn christliche Nächstenliebe erfahrbar wird, entsteht eine Beziehung, die auf Vertrauen basiert.“

Segregation oder Integration?

Diese Frage scheint hier sinnlos zu sein. Wahrhaftig ist das Viertel von der Stadt durch die Eisenbahn abgetrennt, und die Umgebung – Landwirtschaft und Industriebetriebe im Umkreis – sieht jetzt, nach dem langen Winter trist und öde aus, aber die Menschen fanden hier ihr Zuhause, wo sie die notwendige Hilfe für ein menschengerechtes Leben bekommen haben. „Schlüsselbegriff ist hier die Anwesenheit. Wer die Roma-Minderheit von weitem beobachtet, hat die uns trennenden Vorurteile und Ängste. Wer in ihrer Nähe ist, spürt ihre Zuwendung, erfährt ihre Liebe. Unser Dasein gibt den Menschen feste Stütze im Alltag. Es gab Projekte hier, aber als diese zu Ende gingen, verschwanden die Interessengruppen. Wir aber bleiben hier, da wir wissen, die Sorgen der Menschen brauchen unsere Hilfe auch morgen und übermorgen“ – erklärt die Leiterin, und fügt voller Zuversicht hinzu: „Wir sehen, dass wenn man Menschen eine Chance gibt, sie diese auch wahrnehmen.“

Die überwiegende Mehrheit der Romabevölkerung lebt in den ländlichen Gebieten, insbesondere in den nord-östlichen Komitaten Borsod-Abaúj-Zemplén und Szabolcs-Szatmár-Bereg. Die Angaben über den zahlenmäßigen Anteil der Roma an der Gesamtbevölkerung variieren beträchtlich. Bei der letzten Volkszählung 2011 gaben rund 316.000 Menschen an, der Roma-Minderheit anzugehören.

(geschrieben von Éva Trauttwein, Fotos: Polyákné Tóth Nóra)