Dr. Péter Györkös, außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter von Ungarn in der Bundesrepublik Deutschland, lässt regelmäßig Beiträge an dem Facebook Blog des Botschafters erscheinen. In seinem neuesten Beitrag schildert er, wie Ungarn in den deutschen Medien erscheint und was in der Berichterstattung über Ungarn fehlt. Der Botschafter lädt zum Dialog und zum Aufeinandertreffen der Argumente ein, wofür Deutsche und Ungarn im Interesse der stabilen Zukunft eines gemeinsamen Europas immer offen seien.
„Ungarn bleibt ein beliebtes Thema der deutschen Medien. In vielen Fällen verhält sich die Menge des Publizierten indes umgekehrt proportional zu dessen Wahrheitsgehalt. Einer Studie zufolge zeichnet die deutsche Presse das mit Abstand negativste Ungarnbild. Damit muss man leben, wir haben Meinungsfreiheit. Das größere Problem sehe ich in dem starken Bestreben der Meinungsmacher, das Ungarnbild der Deutschen, das nach meinem persönlichen Erleben unverändert freundlich, offen und positiv ist, ebenso in diese Richtung zu beeinflussen. Bei einer Analyse der in den letzten Monaten über Ungarn erschienenen Artikel und Publikationen sind meinen Kollegen und mir, abgesehen von den fast ausschließlich negativen Meinungen, zwei Dinge besonders aufgefallen, die nicht übersehen werden sollten: zum einen, wie stark selektiv die Auswahl der aufgegriffenen Fakten ist und wie oft alternative Fakten herangezogen werden. Zum anderen hat die Berücksichtigung des offiziellen ungarischen Standpunktes geradezu Seltenheitswert. (90 % der politischen Berichterstattung ist eindeutig negativ, Ungarns offizieller Standpunkt findet in der überwiegenden Zahl der Fälle keine Erwähnung, oder falls doch, dann so, dass er die tendenziöse Berichterstattung untermauert.)
Wenn sich Ungarn so großer ‚Popularität‘ erfreut, können wir auch den Versuch unternehmen, die Tatsachen in ihrer Gänze und das gesamte Spektrum der gegensätzlichen Positionen aufzuzeigen. Ich respektiere die Auffassungen der deutschen Journalisten, selbst wenn einzelne ihrer Formulierungen unwahr, ja grob verletzend sind. Meine nachfolgenden Ausführungen verstehen sich weder als Rechtfertigung noch als Angriff, vielmehr als Einladung zum respektvollen Dialog. Bei der Verleihung des Karlspreises an Timothy Garton Ash würdigte Bundespräsident Steinmeier im Schaffen des Laureaten dessen Lust an der Debatte. Ash wiederum formulierte in seiner Rede, kluge (deutsch-französische) Führung in Europa bedürfe der ausgeprägten Fähigkeit, Europa immer auch mit den Augen der anderen Europäer zu sehen. Wir Ungarn debattieren leidenschaftlich gern. Unsere Geschichte, unsere geographische Lage, schon allein, dass wir Mitglied der Europäischen Union sind, lässt uns davon ausgehen, dass auch andere davon profitieren, wenn sie erfahren, wie wir die Welt, wie wir Europa mit unseren Augen sehen. Das gilt natürlich auch umgekehrt, auch wir Ungarn müssen Zeit und Energie darauf verwenden zu verstehen, wie die Welt, Europa und Ungarn von unseren Partnern und Verbündeten gesehen werden. Wir debattieren gerade weil wir Europäer sind.
Was in der Berichterstattung fehlt(e)
In der recht umfangreichen Berichterstattung über Ungarn werden einige auch unter dem Europa-Aspekt nicht jedwede Lehre entbehrende Prozesse und Ergebnisse komplett ignoriert. 2008 – und damit noch vor Griechenland – benötigte Ungarn internationale Hilfe, das Land befand sich in einer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise. Das 2010 auf den Weg gebrachte Ungarische Modell zeigte Ergebnisse, die man auch beachtlich nennen könnte: ein nachhaltiges und immer dynamischeres Wirtschaftswachstum (im letzten Quartal über 4 %), den Rückgang der Staatsverschuldung (damals ging es Richtung 90 %, heute nähern wir uns den 70 %), die konsequente Einhaltung der europäischen Konvergenzkriterien und einen radikalen Rückgang der Arbeitslosigkeit (von 12 % auf etwa 4 %). Zugleich wurden tiefgreifende Strukturreformen eigeführt. Nicht zuletzt zahlte Ungarn sowohl dem IWF als auch der Europäischen Kommission den mit der Einführung des Programms gewährten Kredit auf Heller und Pfennig zurück. Ungarn hat bewiesen, dass es möglich und sogar notwendig ist, die von vielen abgelehnte, kritisierte, für unmöglich oder unsinnig gehaltene deutsche „Heilige Dreifaltigkeit“ zu respektieren, dass es möglich ist, Haushaltsdisziplin und Strukturreformen parallel durchzusetzen und eine Basis für anhaltende Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen.
Das wird leider nicht thematisiert, weder in den deutschen Medien noch in den zahlreichen Veranstaltungen zur Lage in Ungarn. Dabei hätte eine Zukunftsplanung, die auf duale Ausbildung, Re-Industrialisierung und Digitalisierung setzt statt die Steuerzahler anderer Mitgliedsländer oder nachfolgende Generationen zu belasten, für ganz Europa und speziell für die Bürger in Deutschland durchaus Informationswert. Die Reihe ließe sich mit Beispielen aus Ungarn, Budapest und Ungarns Erscheinungsbild in Deutschland fortsetzen, nur bringt uns das nicht wesentlich weiter. Wir können von Glück sagen, dass die Vertreter der deutschen Wirtschaft, die deutschen Bürger und die Touristen, die zu uns kommen, lieber ihren eigenen Augen trauen.
Wenn wir in der Frage des von Ungarn geleisteten beträchtlichen Solidaranteils genauer hinsehen, stoßen wir auf ein vergleichbares Desinteresse. Die Tatsachen (seit Monaten als Informationsblatt „Hungary helps“ öffentlich zugänglich) dringen nicht bis in das Bewusstsein der so gewissenhaft und intensiv mit Ungarn befassten Analysten vor. Stattdessen werden alternative Fakten und das Bild vom unsolidarischen Ungarn, das Deutschland im Stich lässt, zum fast automatisch bedienten Klischee.
Unter der Gürtellinie
Eingang in das Handwörterbuch des deutschen Wahlkampfes haben Wörter aus der Welt der Sportwettkämpfe gefunden, wie z.B. der Leberhaken. Ich bleibe bei dem Bild, wenn ich mit nicht geringer Frustration feststelle, wie wieder und wieder eine unter die Gürtellinie zielende und selbst für das fragliche Medium offenkundig unwürdige Berichterstattung aufflammt. Anschaulichstes Beispiel ist hier wohl der Vorwurf des Antisemitismus. Obwohl seit der Wende 1990 keine Regierung mehr gegen Antisemitismus unternommen hat als die Orbán-Regierung, wird mal in Eigenartikeln, mal im Interview mit dem Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, mal als Leserkommentar versucht, den unrechten Vorwurf wieder aufzuwärmen. Im Zeichen einer Null-Toleranz-Politik sind Hassreden gesetzlich untersagt, die Leugnung des Holocaust ist ein Straftatbestand, paramilitärische Kräfte wurden verboten, Holocaustüberlebende bekamen eine deutliche Rentenerhöhung, Synagogen und jüdische Friedhöfe werden kontinuierlich restauriert und das jüdische Leben und die jüdische Kultur erleben eine Art Renaissance.
Das gleiche Bild zeichnet sich in der Romafrage: die Anstrengungen der ungarischen Regierung sind nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch auf europäischer Ebene bedeutend und präsentabel, das heißt, sie wären präsentabel, wenn es dafür auch nur die geringste Offenheit gäbe. Ebenso wenig finden die Haushaltsaufwendungen und das Engagement von Politik und Gesellschaft für den Förderprozess, Bildung und die Integration auf dem Arbeitsmarkt in der Berichterstattung Erwähnung.
Berichte mit einer Vision vom ‚Reich der Dunkelheit‘ würde ich ebenso dazu rechnen wie Kommentare, die die Demokratie zu Grabe tragen. Ohne Frage hat Ungarns Demokratie eine andere Natur, einen anderen Stil und einen anderen Arbeitsmodus als in Deutschland. Hier bei Ihnen dominiert ein stark konsensgeprägtes Demokratieverständnis, während wir in Ungarn ein konfrontativeres Modell und einen eher konfrontativeren Stil erleben. Doch der politische Wettbewerb ist frei und seit 1990 manifestiert sich der Wählerwille auch frei und obendrein stabil.
Lust auf Debatte
In den vergangenen Tagen konnten wir sehen, wie Bundeskanzlerin Merkel und der ehemalige US-Präsident Obama auf einem Podium, dort, wo früher die Mauer stand, vor mehreren Zehntausend Menschen miteinander diskutierten. Am Nachmittag desselben Tages fand ein Stück ebendieser Mauer im neuen NATO-Hauptquartier bei dessen feierlicher Eröffnung im Beisein der Staats- und Regierungschefs seinen Platz.
Dem Kanzler der Deutschen Einheit zufolge hat Ungarn den ersten Stein aus der Berliner Mauer geschlagen. Kürzlich wurde ich auf einem Bürgerforum in Marburg gefragt, ob es mich nicht frustriere, dass Ungarn so viel Kritik zuteilwird, die Dankbarkeit so sehr vergangen ist. Ich antwortete, dass Dankbarkeit keine politische Kategorie ist. Es beunruhigt mich jedoch, wenn in den Köpfen der Deutschen ein negativ besetztes Ungarnbild entsteht. Es muss doch zumindest erwartet werden können, dass Deutsche und Ungarn im Interesse der stabilen Zukunft eines gemeinsamen Europas immer offen für den Dialog und das Aufeinandertreffen ihrer Argumente sind.
Das große gemeinsame Thema ist unser gemeinsames Europa. Einige versuchen, Ungarn von der Debatte auszuschließen oder zumindest den mit Ungarn geführten ‚Dialog‘ auf einen engen Themenkreis zu beschränken. In einigen Fällen geschieht dies, indem Themen, die unter der Gürtellinie liegen, hochgekocht werden. In anderen Fällen werden als Begründung konkrete, real existierende Angelegenheiten herangezogen, wie im Fall der CEU und des NGO-Gesetzes, verschwiegen wird jedoch, dass in diesen Fällen bereits der EU-konforme Streitbeilegungsmechanismus zur Anwendung kommt. Ungarn hat in den vergangenen Jahren schon ein Dutzend strittige Fragen im Einklang mit dem gemeinsamen Regelwerk geklärt und wird das auch weiter so halten.
Lassen Sie mich den von mir erhofften Dialog mit der Feststellung einer Tatsache beginnen: Zwischen den Auffassungen von Jean-Claude Juncker und Viktor Orbán bezüglich Fragen zum gegenwärtigen Zustand der EU und ihrer Zukunft gibt es zahlreiche relevante inhaltliche Unterschiede. In einem nicht zu vernachlässigenden Punkt ist der Ausgangspunkt für beide Politiker jedoch identisch: Juncker im Handelsblatt-Interview: „Ich weiß ja nicht, wie es bei Ihnen ist, ich lebe lieber in Europa als in Amerika.“ Viktor Orbán auf dem Kongress der EVP: „Wir sind Gott dankbar, dass wir uns Europa wieder anschließen und Mitglieder der Europäischen Union werden konnten. Unserer Ansicht nach ist Europa der beste Ort der Welt für menschliches Leben.“
Wenn sich also endlich die Auffassung durchsetzen und mainstream würde, dass jedes der 27 EU-Länder grundsätzlich am gemeinsamen Erfolg interessiert ist, und der gemeinsame Erfolg auch die Geltendmachung individueller und kollektiver Verantwortung voraussetzt, dann sollten wir im Diskurs den Fokus darauf richten, uns den Standpunkten sowohl im Sinne einer Diagnose als auch im Sinne von Handlungsstrategien zu nähern.
Unter den Auswirkungen des Brexit-Schocks haben die Staats- und Regierungschefs zwei vorrangige Themen, zwei Ziele definiert: Sicherheit und Wachstum. Zu beiden Themen hat Ungarn einen handlungsbasierten Beitrag geboten und wird dies auch künftig tun.
Beginnen wir bei der Sicherheit: Ungeachtet aller Kritik und der nicht nur im Einzelfall hysterischen Schmähungen ist die Priorität des Schutzes der Außengrenzen inzwischen ebenso allgemein akzeptiert, wie die Notwendigkeit der Kontrolle und der Kontrollierbarkeit derjenigen, die die EU betreten. Deutschen Lesern dürfte nicht unbekannt sein, welche Verantwortung und welches Risiko Ungarn als Wegbereiter dieser politischen Prioritäten auf sich genommen hat. Der Ansatz, Fluchtursachen zu bekämpfen, benötigte Hilfe für die in Not geratenen Menschen zu exportieren und sich der Probleme, die auf EU-Territorium nicht zu bewältigen sind, jeweils vor Ort zuzuwenden, fügt sich hier organisch ein und bildet quasi eine logische Einheit. Ungarns Beitrag spricht für sich. Angesichts des gerade beendeten NATO-Gipfels und der angestoßenen Diskussion um die Eigenverantwortung der Europäer gebe ich zu bedenken, dass es der ungarische Ministerpräsident war, der im gegenwärtigen Diskurs um die europäische Integration als erster angeregt hat, das Thema einer europäischen Armee auf die Tagesordnung zu setzen. Das war vor zehn Monaten unter dem Eindruck des Brexit-Referendums.
Doch die Berichterstattung wird von einem anderen, außergewöhnlich polarisierenden Aspekt dominiert: der sogenannten Quote oder Zwangsverteilung. Ich gebe mich keinen Illusionen hin, das Thema werden wir noch viel und lange diskutieren. Das heißt, wenn wir doch wirklich diskutieren würden statt uns in Anschuldigungen zu ergehen. Die fünf Überlegungen für das ungarische Herangehen würde ich dennoch gern festhalten:
Ergänzend zu den bisherigen Ausführungen ist es wichtig klarzustellen, dass sowohl Ungarn, als auch das ungarische Volk eine Art Schmelztegel sind. Dreizehn nationale Minderheiten leben gemeinsam im Land, jede mit eigenem Fürsprecher im Parlament. Dazu kommt die Tatsache, dass im Rahmen des Stipendium Hungaricum Programms der ungarische Staat mehr als 2000 Studenten muslimischen Glaubens empfängt, und Ihre Hochschulausbildung finanziert. (Diese Zahl übertrifft übrigens bei weitem die auf Ungarn fallende – anteilhaft umgesetzte – virtuelle Quotenverpflichtung).
Die zweite außerordentliche Herausforderung ist der Erhalt und die Verbesserung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit. In ihrer Rede zur Münchner Sicherheitskonferenz nannte Kanzlerin Merkel beunruhigende Zahlen, auf die übrigens auch das Weißbuch der Europäischen Kommission verweist: Der Anteil der EU-Bevölkerung an der Weltbevölkerung sinkt auf unter 5 %, der Anteil der EU am weltweiten Bruttoinlandsprodukt fällt von 25 auf unter 20 %. Nicht vergessen werden sollte, dass der 50%-Anteil der EU an den Sozialausgaben unverändert bleibt. (Nur ganz leise möchte ich anmerken, dass ein großer Teil der von der Kommission daraufhin skizzierten Optionen dieses Problem nicht berücksichtigt und vier der fünf Optionen in einem fragwürdigen Verhältnis zum geltenden EU-Vertrag stehen.)
Ich habe bereits versucht aufzuzeigen, was Ungarn in den vergangenen Jahren für die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit und die Erhöhung der kollektiven Sicherheit getan hat. Das passte zum politischen Credo der mitteleuropäischen Visegrád Staaten. Gern teilen wir unsere Erfahrungen, sei es in Brüssel oder in Deutschland, wenn denn Bedarf bestünde. Denn debattieren ist wichtig. Auch der mit Ländern, die wegen des eigenwilligen Laufs der Geschichte erst seit 27 Jahren unabhängig und erst seit 13 Jahren EU-Mitglieder sind. Was sie erreicht haben und was sie zu sagen haben, würde durchaus mehr Aufmerksamkeit verdienen.
Die schlichte, leere Forderung nach Vergemeinschaftung, falsch gesetzte Reihenfolge für ein soziales Europa (zunächst muss produziert werden, was später verteilt werden kann), die Gefährdung des Binnenmarktes, sei es durch die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen, oder durch die Infragestellung des Gleichgewichts der vier Grundfreiheiten, können die globalen Positionen der EU weiter schwächen. Wir müssen über die Zukunft reden und gleichzeitig vermeiden, dass eine Politik, die die Herausforderungen der Gegenwart nicht meistern kann oder will, Schicksalsfragen auf eine in nicht unwesentlichem Maß institutionalisierte Diskussion über eine ‚schöne Zukunft‘ oder gar auf eine Ideologie reduziert.
In dieser Debatte sollten wir ein deutsch-ungarisches Unterkapitel öffnen. Der Wahlkampf ist dafür nicht die ideale Zeit, doch der geht bald vorüber. Nach den Gesprächen zu urteilen, die ich mit verantwortlichen Politikern geführt habe, ist die Lage keineswegs aussichtslos, doch ist die Liste der vermeintlichen Risiken lang, die ich in Verbindung mit einem Fortschritt (einer Neuorientierung?) nicht zuletzt unter Berufung auf die Medien oft zu hören bekomme. Die Deutschen können sich Ungarn vertrauensvoll zuwenden. Eine Stärkung der EU27 stellen wir uns nicht über die Schwächung Deutschlands vor. Ganz im Gegenteil. Wir möchten den Beweis antreten, dass Konvergenz nach oben möglich ist.
Liebe Freunde in Deutschland, auf in den Diskurs! Vielleicht ist die Zeit gekommen, das über Ungarn nur Schlechtes oder gar nichts hinter uns zu lassen.“
Erschienen ist dieser Beitrag am 31. Mai 2017 an dem Facebook Blog des Botschafters.
via facebook.com/notes/botschaft-von-ungarn-in-berlin; Foto: gastein.com