„Landliebe 1.0“ – Wanderer zwischen zwei Welten
Eins ist gleich in ihnen: sie lieben Ungarn. Sie sind in vielfältiger Weise an das Land gebunden. Die meisten von ihnen haben einen geschichtlichen Hintergrund dafür, warum sie oder ihre Eltern vor mehreren Jahrzehnten das Land verlassen mussten. Egal ob sie in der Diaspora leben, oder keine ungarische Wurzeln haben: sie lieben ungarische Geschichte, Musik, Kultur, Landschaft und Weine, leidenschaftlich. Unsere neue Serie „Landliebe“ berichtet über Menschen, die in ihren eigenen Ländern relevante Persönlichkeiten sind und die einen gemeinsamen Punkt in ihrem Leben haben: UNGARN. 4 Fragen und 4 Antworten: von Deutschland über Österreich bis nach der Schweiz. Unsere neue Spalte startet!
Imre Czigány ist 1946 in Budapest geboren. Seine Familie musste Anfang 1957 wegen politischen Gründen Ungarn verlassen. Sein Vater wurde 1953 verhaftet und 1954 wegen einer geheimen Verschwörung mit dem Ziel, die kommunistische Staatsform zu stürzen, zum Tode verurteilt und später auf lebenslänglich begnadigt. Imre Czigány lebt gerade in Köln. Von 1981 bis zu seiner Pensionierung (2011) war er in Brüssel als Beamter der Europäischen Union tätig.
Meine Eltern und ich haben Ungarn Ende Januar 1957 verlassen, als es schon über jeden Zweifel erhaben war, daß wir den Freiheitskampf nicht gewinnen konnten. Ich glaube, daß wir zu den wenigen gehören, die damals keine Wahl hatten und flüchten mussten. Mein Vater wurde 1953 verhaftet und 1954 wegen einer geheimen Verschwörung mit dem Ziel, die kommunistische Staatsform zu stürzen, zum Tode verurteilt und später auf lebenslänglich begnadigt. Er wurde in den ersten Oktobertagen zusammen mit allen Gefängnisinsassen von den Freiheitskämpfern befreit. Am Anfang haben wir gewartet und inständig gehofft, daß die Russen das Land endgültig verlassen werden und wir wieder in Freiheit leben können. Als die Situation immer aussichtsloser wurde, fingen wir an, unsere Flucht vorzubereiten. Da zu dieser Zeit die Grenze zu Österreich schon wieder geschlossen war, mussten wir über das damalige Jugoslawien flüchten. Im Sommer sind wir schließlich als anerkannte Flüchtlinge in Deutschland angekommen.
Mein Leben fing damit an, daß ich schon als kleines Kind lernen musste, wie es ist, in einer Diktatur zu leben, Ungerechtigkeiten zu erleiden, zu widerstehen und dabei nicht zu Grunde zu gehen. Mein Sinn für Gerechtigkeit wurde in den ersten zehn Jahren meines Lebens entscheidend geprägt. Die Oktoberrevolution und der danach einsetzende Freiheitkampf war und ist bis heute das bedeutendste und alles entscheidende Ereignis meines Lebens! Alles, was danach passiert ist, kann ich auf diese Zeit zurückführen. Nur dadurch konnte unsere Familie wieder vereint werden und ein freies, menschenwürdiges Leben führen. Nur dadurch konnte ich weiter die Schule besuchen, die Universität mit einem Diplom abschließen, was mir in Ungarn als „Klassenfeind“ nicht möglich geworden wäre und eine Laufbahn als Beamter der Europäischen Union durchlaufen.
Was fehlt Ihnen aus Ungarn am meisten?
Ich habe dort Verwandte und Freunde, die ich immer wieder gerne treffe. Mir fehlt die Sprache, die Musik, meine Heimatstadt Budapest, all die Schönheiten des Landes, die ich jetzt nacheinander aufsuche. Nicht zu vergessen, die dortigen Heilbäder sind einsame Spitze.
Diese Frage stellt sich bei uns nicht mehr. Wir haben seit nunmehr fast zwanzig Jahren eine Bleibe im Lande, wo wir jedes Jahr mit der ganzen Familie die Ferien verbracht haben. Seitdem ich Rentner bin, spielt sich ein Teil unseres Lebens in Ungarn ab und wir sind mindestens die Hälfte des Jahres vor Ort. Aus diesem Grunde ist die zutreffendste Charakterisierung meiner Person und Situation als „Wanderer zwischen zwei Welten“.
(Beitragsbild: MTI)