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Reformationsjubiläum – János Áder in Wittenberg

Enikő Enzsöl 2017.11.02.

Der ungarische Staatspräsident János Áder nahm am 31. Oktober an dem staatlichen Festakt zum 500. Reformationsjubiläum in Wittenberg teil. In seiner Rede im Wittenberger Stadthaus hob der Staatspräsident Ungarns die Rolle der Reformation und des Protestantismus in der Geschichte Ungarns und Europas hervor. Hierbei seine vollständige Rede:

„Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrter Herr Staatspräsident,
sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
meine Damen und Herren, meine lieben Freunde!

1537 schrieb Philipp Melanchthon einen Brief an einen hoch kultivierten, weit gereisten ungarischen Großgrundbesitzer, Thomas Nádasdy.

Dabei sind es erst 20 Jahre, nachdem die wohl bekannten 95 Thesen angeschlagen wurden, aber Melanchton – er unterrichtete an der Universität Wittenberg und war ein Freund und Mitstreiter Luthers – konnte bereits einem ihm unbekannten ungarischen Adligen, Thomas Nádasdy eigene ungarische Studenten empfehlen, der sich wiederum anschickte, eine protestantische Schule in Ungarn zu gründen.

Damals erlebte Ungarn, der Eroberung durch das Osmanische Reich ausgesetzt, von andauerndem Krieg gegeißelt und in mehrere Teile zerrissen, schwere Zeiten. Der Freund Luthers zeigte jedoch Mitgefühl mit den Ungarn, die inmitten schwerer Schläge die Lehren Luthers und seiner Mitstreiter mit besonderer Sensibilität erhört haben. Er hielt es für löblich, dass jemand selbst unter solchen Bedingungen seine Aufmerksamkeit lebensspendenden Wissenschaften widmet. Denn wer dies tue – so schrieb Melanchton – denke an die Nachwelt. Er diene treu seiner Heimat, mehre das Wissen und beschützte „Tugenden der Familie und der Nation“. Er vertraue aus den „kommenden Frieden“ und auf eine „bessere Zukunft Pannoniens“.

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Aus dem Ungarn des 16. und 17. Jahrhunderts machten sich Hunderte auf, in den neuen Hochburgen des Protestantismus den reformierten Glauben zu hören und zu studieren – um ihn den ihren mit nach Hause zu bringen. Die Blüte der neuen Generation zukünftiger Lehrer, Prediger und Stützen der Gemeinschaften gingen auch hier, in Wittenberg ein und aus.

Zu der schnellen Verbreitung des Protestantismus hat auch beigetragen, dass der reformierte Glauben die Muttersprache des Volkes sprach. Es wurden Schulen und Druckereien gegründet, um den Glauben zu predigen, die Bibel wurde übersetzt und neue Tore in der Bildung aufgeschlagen.

Und während Europa noch in der religiösen Intoleranz einander geißelnden Lehren brannte, wurde 1568 im Fürstentum Siebenbürgen – in vielerlei Hinsicht den evangelischen Siebenbürger Sachsen geschuldet – im ungarischen Sprachraum, in ungarischer Sprache die Gewissensfreiheit verkündet. In ähnlicher Form zu dem, was wir heute, im 21. Jahrhundert darüber denken.

Kaum mehr als 50 Jahre nach der Wittenberger Wende, 1568 wurde in dem in Thorenburg abgehaltenen Siebenbürgener Parlament zum Gesetz erklärt, dass ein jeder Mensch, eine jede Gemeinschaft das Recht habe, sein Bekenntnis, seinen Priester und seine Kirche frei zu wählen. In diesem Recht könne nichts und niemand sie hindern. Die Freiheit des Glaubens sei weder von einem Fürsten, noch von einem Gutsherrn abhängig. Niemand dürfe wegen seines Glaubens einen Nachteil erleiden oder könne für sein Bekenntnis verfolgt werden.

So wurde es in Siebenbürgen und in ganz Ungarn selbstverständlich, dass an Stelle des Glaubens des Herrscherhauses oder der Provinz mitunter auch in einem einzigen Dorf die Kirchen von zwei, drei Gemeinden friedlich Seite an Seite gestanden haben. Ihre Mauern standen auf der gleichen Erde, ihre Türme ragten in den gleichen Himmel, um zu beweisen, was man in Thorenburg so formuliert hat: „der Glaube ist Gottes Geschenk“.

Heute, wenn wir auf die vergangenen 500 Jahre zurückblicken, ist es für uns Ungarn ein Leichtes – ganz gleich, welcher Konfession wir angehören dürften – neben dem Geschenk des Glaubens die Geschenke der Reformation aufzuzählen. Die Aufrichtigkeit des Protestantismus. Das immerwährende Recht, fragen zu dürfen. Die im Kreuzfeuer des Disputs gestählte Suche nach Wahrheit. Ausgesprochen zu haben, dass der Glaube persönlich und Gedanken frei sind. Den Humanismus des Glaubens. Die Verbreitung des muttersprachlichen Unterrichts. Das geschriebene Wort zum aktiven Verb werden zu lassen. Die Bestärkung, an unserer Nation festzuhalten. Die Fähigkeit, unsere deutsche und ungarische Identität zum Ausdruck bringen zu können.

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Im Verlauf des 16. Jahrhunderts wurden über tausend Studenten aus Ungarn an der Universität in Wittenberg immatrikuliert. Beinahe alle namhaften Repräsentanten der ungarischen Reformation haben diese Stadt bereist.

In ihrem Gepäck war vielfach ein Büchlein zu finden, das sie nach Wittenberger Brauch und mit der Ermunterung ihrer Professoren stets bei sich behielten. Dieses kleine Büchlein wurde als album amicorum bezeichnet. Die Studenten haben in diesen Büchern die Eintragungen, Ermunterungen und Bezeugungen derjenigen gesammelt, denen sie im Zuge ihrer Reise begegnet sind. Derjenigen, die sie, ihre Weltanschauung und ihre Denkweise geprägt haben. Derjenigen, von denen sie gelernt und mit denen sie Freundschaften geschlossen haben, die ihren Charakter formten. Album amicorum. Das Buch der Freundschaft.

Viele-viele Seiten der Geschichte der Ungarn wurde in ähnlicher Weise von den Tausend Jahre mit uns verbundenen, vielfach und vielfältig auf uns wirkenden Deutschen gefüllt. Mit tausenden von Beispielen des Austauschs in der Politik, über Ideen, in der Kultur und im Alltag. Als wir aufeinander zählen konnten, haben wir uns stets als aufmerksame Freunde erwiesen und wurden mit den Erfahrungen des Anderen bereichert.

Die uralte Quelle unserer Zusammenarbeit liegt darin, dass wir uns – im Zuge der mit uns im Karpatenbecken lebenden deutschsprachigen Gemeinschaften – seit Jahrhunderten gut kennen und gut verstehen. Wir waren und sind uns Helfer, Kooperationspartner und Verbündete. In historischen Gesten haben wir gleich mehrfach gezeigt, dass die Liebe zum Frieden des auf ein christliches Wertesystem aufgebauten Europas uns zu einer Gemeinschaft werden lässt, die uns alle unsere Eigenheiten überkommen lässt.

Bei diesem wichtigen Jubiläum lege ich – auch in Anbetracht des Schicksals des gemeinsamen Europas – den Deutschen und Ungarn den Gedanken des Siebenbürgener Fürsten István Bocskai nahe, der für die Akzeptanz der Reformation kämpfte. Den Gedanken von Bocskai, der in seinem Testament die Gläubigen zu der „schönen Einheit untereinander“ ermunterte. Und er gibt uns – Ungarn und Deutschen – mit auf den Weg:

„Die Freiheit unseres Glaubens, unseres Gewissens und unserer alten Gesetze höher zu schätzen als jedes Gold.“ ”

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via keh.hu, mti.hu; Fotos: Zsolt Szigetváry – MTI