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Stephen Nagy: Ungarns nationale Interessen können sich mit denen asiatischer Nationen überschneiden

Dániel Deme 2025.04.01.

Während seines jüngsten Vortrags mit dem Titel „Choosing Sides? Southeast Asia amidst U.S.-China Rivalry“ (Parteinahme? Südostasien im US-chinesischen Rivalitätskampf) im Danube Institut in Budapest hat Professor Stephen R. Nagy einen völlig neuen Ansatz für das Potenzial und die Herausforderungen vorgestellt, die sich in Ungarns Handels- und politischen Beziehungen zu asiatischen Ländern verbergen. Da der politische Druck und die Wirtschaftssanktionen der EU gegen Ungarn nun eine bedauerliche Realität sind, wollten wir wissen, welche Rolle die Politik der Ostöffnung der Regierung bei der Abmilderung der Folgen dieser geopolitischen Situation spielen könnte.


In Ihrem Danube-Vortrag haben Sie sehr ernüchternd darauf hingewiesen, dass die Politik der Ostöffnung zwar bemerkenswert ist, die ungarische Regierung aber nicht vergessen sollte, dass 80 Prozent des ungarischen Handels innerhalb Europas stattfindet. Dennoch ist es erklärte Politik einiger führender EU-Politiker, dass Ungarn bestraft, „ausgehungert“ oder „in die Knie gezwungen“ werden soll, um nur einige zu nennen. Wir wurden de facto mit EU-Sanktionen belegt, was europäische Gelder oder die COVID-Wiederaufbauhilfe anbelangt. Was sind aus akademischer Sicht die besten handelspolitischen und diplomatischen Optionen für ein Land in unserer Lage?

Hier gibt es einige Parallelen zu den Beziehungen zwischen den USA und Kanada. Der 47. US-Präsident hat kürzlich Zölle gegen Kanada verhängt und es als 51. Staat bezeichnet. Kanada wickelt 77 Prozent seines Handels mit den USA ab. Eine Diversifizierung von 77 auf 67 oder sogar auf 47 Prozent wird unsere wirtschaftliche Abhängigkeit von den USA nicht grundlegend ändern. Die Trudeau-Regierung hat in den letzten 10 Jahren Donald Trump und die MAGA-Anhänger immer wieder verunglimpft, aber ich glaube nicht, dass eine politische Führung so reden sollte. Hinter verschlossenen Türen sollte man sagen, was man will, aber in der Öffentlichkeit sollte man den Anstand wahren.

Die Lösung für Kanada liegt nicht in der Diversifizierung (mit neuen Partnern), sondern in der Modernisierung seiner Wirtschaft, seiner „Software“, seiner „Hardware“. Gleichzeitig sollte man mit anderen Partnern auf intelligente Weise zusammenarbeiten. Die gleiche Formel sollte auch für Ungarn gelten. Etwa 80 Prozent Ihres Handels werden mit der EU abgewickelt, die Sie nicht verprellen wollen. Stattdessen müssen Sie Ihre Infrastruktur und Ihre Energiequellen auf den neuesten Stand bringen. Die „Software“ ist Ihr Humankapital, das ebenfalls auf den neuesten Stand gebracht werden muss. Führen Sie im eigenen Land effektivere Innovationen durch, arbeiten Sie mit anderen europäischen Ländern in Fragen wie der künstlichen Intelligenz und anderen Schlüsselbereichen zusammen. Gleichzeitig gibt es aber keinen Grund, chinesische oder japanische Investoren zu verprellen. Sie müssen mit anderen zusammenarbeiten, um ausländische Direktinvestitionen nach Ungarn zu holen. Das ist kein Nullsummenspiel, Sie müssen beides tun. Es macht einfach keinen Sinn, sich zwischen europäischen oder asiatischen Investoren zu entscheiden.

Die Realität für Ungarn sieht jedoch so aus, dass das Land, selbst wenn es seine Abhängigkeit von der EU verringert, weiterhin stark in den europäischen Kontext investieren muss. Dies muss auf intelligente Weise geschehen: Aktualisierung der Humanressourcen, Investitionen in Bildung, KI-Schulungen, Technologie-Schulungen, Auslandsstudienprogramme für junge Ungarn, um ihnen beim Aufbau von Netzwerken und Geschäftskontakten zu helfen, damit sie Investitionen nach Ungarn zurückbringen können.

Prof. Stephen Nagy während seines Vortrags im Danube Institut in Budapest (Foto: Ungarn Heute)

Sind Sie der Meinung, dass die ungarische Führung gegenüber ihren europäischen Partnern eine unangemessen harte Rhetorik an den Tag legt?

Ungarns Politik in Bezug auf illegale Migration ist verständlich, denn das Land hat keine lange Geschichte der Einwanderung aus der Dritten Welt oder der Integration von Kulturen. Es ist eine christliche Gesellschaft, und die Aufnahme einer großen Zahl von Migranten wäre destabilisierend. Dies ist eine rote Linie, die auch andere mitteleuropäische Länder teilen. Die Ungarn wollen diesem Thema Vorrang einräumen, was angesichts ihrer Geschichte durchaus sinnvoll ist. Es wird etwas bleiben, wofür man kämpfen muss.

Andererseits gibt es vielleicht andere Themen, die für Ungarn nicht ganz oben auf der Prioritätenliste stehen. Möglicherweise sind dies nicht die Kämpfe, die Ungarn führen möchte. Es gilt, Prioritäten zu setzen, aber auch Querverbindungen zur EU zu schaffen. Es gibt keine gegenseitige Ausschließlichkeit: Man kann in einem Bereich „nein“ sagen, aber in anderen Bereichen konstruktiv sein.

Kurz vor den US-Wahlen im vergangenen Jahr hat Ungarn seine neue Politik der „wirtschaftlichen Neutralität“ angekündigt. Damit wollen wir unseren Handel mit dem Osten, insbesondere mit China, schützen, der von einigen unserer europäischen Partner als problematisch angesehen wird. Diese Politik bewahrt uns davor, zwischen der recht selbstbewussten Vision der Trump-Administration für künftige Allianzen und unseren wirtschaftlichen Interessen in Asien wählen zu müssen. Ist die Idee der „wirtschaftlichen Neutralität“ eine praktikable Politik oder ist sie ein Mythos?

Nehmen Sie das Beispiel der südostasiatischen Länder, die eine Politik der „Blockfreiheit“ verfolgt haben. Sie verbünden sich mit keiner der beiden Supermächte. Es gibt auch eine andere Politik, die „mehrfache Ausrichtung (multiple alignment)“ genannt wird. Diejenigen, die diese Politik verfolgen, richten sich beispielsweise im Handel mit China aus, während sie in territorialen Fragen nicht einverstanden sind. In Bezug auf die Sicherheitspartnerschaft sind die Philippinen beispielsweise eher mit den USA verbündet, während Singapur eine ruhige Ausrichtung verfolgt. Sie treiben Handel mit den USA und führen Militärübungen durch, ohne sich China zu entfremden. Auch Indonesien führt gemeinsame Schulungen mit den Chinesen durch, und anschließend finden Militärübungen mit Australien statt.

Die „mehrfache Ausrichtung“ ist ein Modell, bei dem man beispielsweise in der Energiekooperation verschiedene Partner betrachtet und für den Handel wieder andere Partner wählt. Man arbeitet mit jedem zusammen, der den nationalen Interessen dient, verprellt aber keinen bestimmten regionalen Partner.

Sie haben uns ein Diagramm gezeigt, in dem Sie die asiatischen Länder gefragt haben, welcher Supermacht sie ihr Vertrauen entgegenbringen. Interessanterweise haben einige Länder, die das größte Vertrauen in China haben, auch die höchste Anzahl von Menschen, die den USA vertrauen. Hier in Europa sind wir gezwungen, uns der „entweder mit uns oder gegen uns“-Mentalität der EU anzuschließen. Die eine Seite wird verteufelt, die andere steht über der Kritik. Die südasiatischen Länder scheinen in dieser Frage nüchterner und ausgewogener zu sein. Wie erklären Sie sich das?

Vor etwa 50 Jahren wurde der Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) geschaffen (1967). Er wurde im Kontext des Kalten Krieges gegründet, da man sich nicht zwischen den Sowjets und den USA oder China entscheiden wollte. Die einzige Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, bestand darin, zusammenzuarbeiten. Indem sie zusammenhielten, hatten sie ein gewisses politisches Gewicht, das es ihnen ermöglichte, sich gegen größere Mächte zu währen.

Der zweite Punkt ist, dass alle diese Gesellschaften von einem konsensbasierten Weltbild ausgehen. Sie stammen auch aus einer Tradition des Polytheismus (Glaube an mehrere Götter). Polytheistische Gesellschaften fühlen sich mit „Grau“ wohler als mit Schwarz und Weiß. Sie können die USA oder China durchaus als Länder betrachten, die sowohl einen positiven als auch einen negativen Einfluss haben können.

Unsere monotheistische Gesellschaft geht davon aus, dass es einen Himmel und eine Hölle gibt, dass es Gott und den Teufel gibt, dass es richtig und falsch ist, usw. Dies sind binäre Ansichten über die Welt. Diese Vorstellung hat durchaus ihre Berechtigung, aber andere Teile der Welt fühlen sich mit der Zusammenführung widersprüchlicher Ideen durchaus wohl.

Grafik: freundlicherweise von Stephen Nagy zur Verfügung gestellt

Was mir bei Ihrem Vortrag aufgefallen ist, ist, dass Sie nicht an die überwältigende Bedeutung von Soft Power glauben.

Nein, das tue ich nicht. Sie kann bei den Beziehungen helfen, aber sie wird nicht die grundlegende Kraft sein, die ein Land dazu bringen kann, etwas zu tun, was man will. Joseph Nye von der Harvard University erklärt Soft Power als nicht-zwanghafte Macht, die Kultur, politische Werte und Außenpolitik nutzt, um Veränderungen zu bewirken. Dies kann z. B. durch Ideen oder Beispiele geschehen. Während des Kalten Krieges waren die USA für viele Menschen, auch für Ungarn, ein Leuchtturm der Inspiration. Als ich das erste Mal hierher kam, war ich überrascht, wie sehr die Menschen alles Amerikanische liebten. Die USA hatten Dinge, die Ungarn anstrebten.

Es gibt noch andere Arten von Soft Power. Ich stelle fest, dass in Europa, auch in Ungarn, die japanische und koreanische Kultur unglaublich populär sind. Das ist nicht unbedingt Soft Power, sondern eher Einfluss, und es beeinflusst junge Menschen, mehr über diese Gesellschaften zu erfahren. Sie ist einflussreich, weil sie organisch ist. Es kam von den Zivilgesellschaften dieser beiden Länder und repräsentierte etwas, das normale Bürger geschaffen haben. Dies ist eine der Herausforderungen, die China zu bewältigen hat – es verfügt über weniger Soft Power. Es ist ein Einparteiensystem, viele Aspekte der Gesellschaft werden streng kontrolliert. Diese organische und aufrichtige Darstellung Chinas ist in vielen Fällen nicht das, was die chinesische Regierung gerne zeigen würde. Die Menschen wollen die Falten in einer Gesellschaft sehen, nicht nur die makellosen Dinge, weil sie das authentischer finden.

Soft Power ist interessant, aber wir befinden uns in einer Zeit, in der sie nicht so einflussreich ist. Wir leben in einer Ära, in der wirtschaftliche Macht und eine starke Führung mehr zählen.

Es gibt Vorwürfe, dass China seinen Außenhandel und seine Investitionen dazu nutzt, Macht zu demonstrieren, aber es gibt kaum Anhaltspunkte dafür, dass das Land in einem ideologischen oder politischen Sinne missioniert. Anders als westliche Mächte, die Konformität in Bezug auf Werte, Ethik und kulturelle Anpassung verlangen: ESG, DEI, LGBTQ-Themen, Multikulturalismus usw. Verschaffen sich die asiatischen Länder einen Vorteil gegenüber dem Westen, indem sie die missionarischen Haltungen ablehnen, die der Westen zeigt?

Das moderne China ist aus seinen Erfahrungen mit dem Kolonialismus entstanden. Sie nennen dies das Jahrhundert der Demütigung (1839-1949). Daher hat das Land seine moderne Außenpolitik so gestaltet, dass es nicht als imperialistische Macht dasteht oder seine Ansichten durchsetzen und sich nicht in die Außenpolitik anderer Länder einmischen will. Seit Deng Xiaoping lautete der chinesische Ansatz: Mischt euch nicht in unsere Angelegenheiten ein, und wir mischen uns nicht in eure ein. Wenn wir uns die chinesische Außenpolitik heute ansehen, bieten sie ungebundene Investitionen oder Hilfe an, ohne die Erwartung einer guten Regierungsführung oder der Übernahme ihrer politischen Grundsätze. Es handelt sich im Grunde um eine Vereinbarung zwischen zwei Staaten, die nicht bindend ist.

Sie mischen sich nicht ein und exportieren keine chinesischen Praktiken. Aber es wäre nicht korrekt zu sagen, dass sie sich nicht in die Politik im Ausland einmischen. Es gibt Beweise in den Fällen Australien, Japan und Korea, dass sie dies getan haben.

Einer unserer kleinen ungarischen Mythen ist, dass wir eine Brücke zwischen Ost und West sind. Ich glaube nicht, dass dies der Realität beschreibt, aber auf einer gewissen Ebene scheint dies unser Ziel zu sein. Wie können wir uns in den Ost-West-Beziehungen relevanter machen, wie können wir einen größeren Anteil des Handels zwischen unseren Kontinenten erlangen?

Es gibt drei verschiedene Möglichkeiten, dies zu tun. Eine besteht darin, Ansprechpartner in Asien und Europa ausfindig zu machen und als Vermittler zwischen diesen beiden Staaten aufzutreten. Sie können als Anpasser fungieren, der verschiedene Länder verbindet. Das erfordert die korrekte Identifizierung der Überschneidung nationaler Interessen und wie verschiedene Akteure zusammenarbeiten können. Ungarn hat dieses Potenzial.

Zweitens muss die „Hardware“ und „Software“ im eigenen Land aufgebaut werden: Es muss die richtige Infrastruktur geschaffen werden, damit Waren besser transportiert werden können. Aber auch die Software ist wichtig: Welche Art von Menschen braucht Ungarn, um besser mit all diesen verschiedenen Gruppen zusammenzuarbeiten. In Ungarn gibt es viel europäisches Fachwissen, aber nicht so viel von dem, das für die Beziehungen zu Asien erforderlich ist. Man muss die Ungarn in asiatischen Sprachen ausbilden und ihnen regionale Kenntnisse vermitteln.

Und schließlich ist die Art und Weise, wie wir diplomatisch reden, sehr wichtig. Manchmal sollte Diplomatie keine binäre Wahl sein, denn das bricht die Kardinalregel der Diplomatie: alle Optionen offen zu halten. Man ist liberal oder konservativ, links- oder rechtsgerichtet, usw. Diese Art von Binarität verringert die Chancen und erschwert den Erfolg dort, wo wir uns engagieren. Genau wie die südostasiatischen Länder: Sie wählen nicht China oder die USA, sie wählen beide.

Xi Jinping (l.) mit Viktor Orbán (Foto: Vivien Cher Benko/Pressebüro des Ministerpräsidenten/MTI)

Letztes Jahr landeten 40 Prozent aller chinesischen Direktinvestitionen in Europa in Ungarn. Auf meine Frage an einen chinesischen Diplomaten, was das Geheimnis unseres Erfolgs sei, antwortete er mit einem Wort: „Respekt“. Ist Respekt für asiatische Nationen so zentral, dass er in direktem Zusammenhang mit dem Handel steht?

Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich auf das Wort Respekt konzentrieren würde, aber es geht eher um eine disziplinierte Form der Kommunikation über China. Japan hat ein jährliches Handelsvolumen von 380 Milliarden, und es äußert seine Vorbehalte gegenüber China nicht öffentlich, auch wenn das hinter verschlossenen Türen anders aussehen könnte. Sie sprechen von einer konstruktiven und stabilen Beziehung zu China und von der Notwendigkeit, auf wirtschaftlicher Ebene komplementäre Beziehungen aufzubauen.

Das ist etwas anderes als Respekt, es geht darum, diszipliniert zu sein, was die Kommunikation angeht. Dies ist eine der Stärken der ungarischen Diplomatie in der Region.

Es ist wichtig, dass Spitzenpolitiker und Diplomaten so sprechen, dass sie einen konstruktiven Dialog führen und Brücken zu Handelspartnern bauen können. China ist für Ungarn von großem Wert, und ein Ausrutscher wäre nicht in Ungarns Interesse.

Professor Stephen Nagy (Foto: Stephen Nagy)

Zu guter Letzt ist mir aufgefallen, dass Sie einen ungarischen Nachnamen haben. Haben Sie ungarische Wurzeln?

Mein Vater stammt aus der Stadt Debrecen. Er wurde in Ungarn geboren, verließ es 1956 und landete in Kanada, wo ich auch geboren wurde. Er heiratete eine italienisch-kanadische Frau, daher war unser Haushalt ungarisch und italienisch. Ich wurde auf Französisch erzogen und habe dann an der Universität Englisch, Japanisch und Chinesisch studiert. Ich habe jedoch eine starke ungarische Identität. Die Art und Weise, wie mein Vater Debrecen in meiner Kindheit beschrieb, entspricht genau dem, wie ich die Stadt bei meinem ersten Besuch im Jahr 1990 vorgefunden habe. Die Nostalgie bringt mich immer wieder nach Ungarn zurück, und ich möchte mein ungarisches Erbe erforschen und mehr darüber erfahren. Ich hoffe, dass ich einen Beitrag zum Engagement Ungarns in der Welt leisten kann, insbesondere in meinem Fachgebiet Ostasien.

Stephen Nagy ist Professor an der Abteilung für Politik und internationale Studien an der International Christian University in Tokio, Japan.

Beitragsbild: Ungarn Heute