Die ungarische Regierungspartei einigte sich mit den Oppositionsparteien auf ein Gesetz zum Schutz vor dem Coronavirus, am darauffolgenden Wochenende verhinderte der postbolschewistische Troß durch eine Unterschriftensammlung diese bereits vereinbarte Unterstützung der Gesetzesvorlage im Parlament. (Dieser Meinungsartikel wurde von Irén Rab geschrieben, Originaltext erschien in der ungarischen Zeitung „Magyar Hírlap“.)
Das postbolschewistische Kontaktnetz funktioniert bis zum heutigen Tag hervorragend, wird sogar laufend aktualisiert, somit war die westliche Presse ab dem Montag dröhnend voll vom ungarischen Gesetzentwurf. Von Skandinavien über Brüssel bis in den gesamten deutschen Sprachraum sind die europäischen Demokratien entsetzt und bestürzt über Sultan Orbans Ermächtigungsgesetz, den jetzt aber wirklich endgültigen Aufbau der ungarischen Diktatur, während dessen die Zahl der infizierten Menschen in ihren Ländern dank ihrer liberalen epidemiologischen Maßnahmen um mehrere Tausend pro Tag hochklettert. Justizministerin Judit Varga erklärte in mehreren Sprachen schriftlich, was genau in dem Entwurf enthalten ist, und die ungarische Diplomatie schickte dies in vielfacher Ausführung an die westliche Presse, wenn sie schon nicht ungarisch lesen und sprechen können, sollten sie zumindest wissen, worüber sie reden. In Deutschland erhielten 20 Tageszeitungen den Text, zwei – also nochmal: ZWEI – haben ihn veröffentlicht, beide in Bayern. Die ungarischen Botschafter in Wien und Berlin verlangten eine Richtigstellung in den Medien, erklärten, dass man im Geiste des ungarischen Grundgesetzes gehandelt hätte, dass die Rechtsstaatlichkeit nicht verletzt werde und dass bürgerliche Freiheiten in Ungarn einen Grundwert darstellen. Vergeblich. Die Verabschiedung des Gesetzes ging mit der gleichen medialen Empörung einher, und obwohl die Ministerin dem deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen erneut ein Interview gab, war es nicht sie, sondern der unabhängige (aus mehreren Parteien ausgetretene) Parlamentarier Hadházy, dessen Statement gesendet wurde. Wenn ein Unabhängiger die Gesetzgebung kritisiert, muss das ja sicherlich einen Verstoß gegen die Grundwerte bedeuten. Es kamen noch einige neue Influencer zu Wort und irgendwie konnte man auch Herrn Lendvai aus Wien auftreiben, der in Wien den Zustand des ungarischen Gesundheitssystems auf die Stadionbau-Besessenheit von Herrn Orbán abwälzte. Diese Art Narrativ ist bekannt, man weiß sofort, woher der Wind weht.
Im Streberland flutschte derweil der von der Regierung vorgelegte Gesetzentwurf zum Krisenmanagement „COVID-19“ locker im Parlament durch. Die Sprecher der Regierungsparteien dort betonten die Notwendigkeit von Rechtsvorschriften angesichts der Krise sowie für die Sicherheit der Menschen, und die Sprecher der Opposition betonten, dass sie, obwohl sie in vielen Fragen Vorbehalte hätten, allesamt für den Entwurf stimmen werden. Das mit heißen Nadeln gestrickte Paket werde wohl in der Zukunft verfeinert und geflickt werden müssen, aber jetzt sei es nicht die Zeit, um sich
um die Bauchschmerzen Einzelner zu kümmern, die Zeit dränge. Die Änderungsanträge der Opposition wurden auf dieser Grundlage kurzerhand vom Tisch gefegt. Glücklicherweise gibt es seit 2001 ein Infektionsschutzgesetz, darauf kann man sich jederzeit berufen und gegebenenfalls nach Gutdünken an die aktuelle Situation anpassen und damit neue Leitlinien festlegen. Wichtig ist, dass das Grundgesetz nicht verletzt wird und auch die Einschränkungen nicht danach aussehen dürfen. Daher gibt es keine Ausgangssperre, nur Einschränkungen und zentral wird nur das Distanzhalten vorgeschrieben.
Im Streberland gibt es auch einen Nationalen Pandemieplan, ein Struktur- und Aktionsplan in neun Kapiteln ab 2017, aber das gilt nur für die Grippe. Das Hauptamt, also das RKI, verantwortlich für alle Epidemien, gibt nun täglich einen neuen Infektionskontrollplan, präventive Maßnahmen und Vorschläge für Handlungsanweisungen aus. Auf der Seite des Innenministeriums erhält man detaillierte Informationen über alles, was man wissen muß, präzise, wie das mit dem allen bekannten Ethno-Stereotyp des Streberlands bestens übereinstimmt. Der Verlauf der Infektion dauere mehr als drei Wochen, von denen zwölf Tage die Inkubationszeit sei, die Symptome seien spürbar ab dem neunten Tag und 95 Prozent der Infizierten würden aus der Misere geheilt herauskommen. Nur viereinhalb Prozent benötigten eine stationäre Behandlung, aber dreiviertel von ihnen könnten das Krankenhaus nach zwei Wochen verlassen. Das Problem werde durch den restlichen Viertel verursacht, welcher zehn Tage auf der Intensivstation an Beatmungsgeräten behandelt werden muß. Sie haben aber auch noch eine 50-prozentige Chance auf Genesung oder sie sterben. Das Modell stellt die erwarteten Entwicklungen auf allen möglichen farbigen Zeichnungen und Diagrammen dar, es vergisst nicht die Bedeutung der Eindämmung und des Distancing und die Kontrolle der Belastung des Gesundheitssystems. Denn es gäbe keine Gesundheitsversorgung auf der Welt, die sich um so viele Patienten auf einmal kümmern könnte. Genau wie bei uns in Ungarn, nur wir haben diese schönen wissenschaftlichen Diagramme nicht und wir sagen einfach direkt, was wir denken.
Was auf diesem Modell allerdings auffällt, dass die Krankheit ja von uns nicht beeinflussbare Eigenschaften besitzt. Wir wissen nicht, wann genau die Infektionsphase begonnen hat oder wie lange sie dauern wird, wir wissen nicht, welcher Anteil der Bevölkerung immun gegen sie ist, wir können die Inkubationszeiten nicht beeinflussen. Diese „ich weiß nicht“ Haltung kann man dem Wissenschaftsdirektor des „Hauptamtes“, also des RKI ansehen, wenn er täglich die Öffentlichkeit über die Entwicklung der Epidemie informiert. Ich habe bei einer solchen Pressekonferenz aufgezeichnet, was er vor der Kamera gesagt hat. „Wir wissen es noch nicht, wir haben keine Informationen darüber, vielleicht, wenn…, wenn wir tun, was wir können, haben wir wenig Testkapazität, wir haben eine Menge trügerischer Informationen im Umlauf, waschen Sie ihre Hände häufig, desinfizieren Sie, bleiben Sie zu Hause, befolgen Sie die Vorschriften, denn das ist der einzige Weg, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern“. Er sagte dasselbe, was die ungarische Chefärztin unseres Hauptamtes sagt,
aber irgendwie fühlte es sich aus seinem Mund authentischer an. Denn die Bürger von Streberland glauben – weil sie glauben wollen – im Allgemeinen die Informationen, welche sie erhalten und respektieren ihre Entscheidungsträger.
Im Streberland entscheidet das Kabinett alleine über viele Fragen, weil das Parlament ihr dies erlaubt hat. Nun, da das Recht auf Gesundheit vor das Recht auf persönliche Freiheit gestellt wurde, möchten sie die Ausbreitung der Epidemie mit Singapur-Methoden verhindern. In Singapur wurde bereits eine App entwickelt, welche die Smartphone-Standortdaten aufzeichnet, speichert und mit einem kleinen Piepton anzeigt, ob eine Person in der Nähe virusinfiziert sei. Diese Applikation möchte auch das Streberland einführen und die Telefonbetreiber haben in vorauseilendem Gehorsam sofort alle ihre mobilen Daten angeboten, aber der Datenschutzbeauftragte und die Menchenrechtsaktivisten haben sich zu Wort gemeldet. Mobile Daten seien vertraulich, die Bewegungen und den Standort der Nutzer an Dritte, in diesem Fall an das epidemiologische Zentrum, weiterzugeben sei aus Datenschutzgründen bedenklich, das sei in einem Rechtsstaat ja undenkbar. Deshalb entwickeln Epidemiologen und Telekommunikationsforscher jetzt eine App, welche die persönlichen mobilen Daten unpersönlich macht. Die Nutzung der Anti-Corona-Tool App wäre freiwillig, es würde Standortdaten und Bluetooth benötigen, und die Anonymität würde durch eine Identifikationsnummer sichergestellt werden. Wenn sich zwei Anti-Corona-Handys auf der Straße treffen, werden die Identifikationsnummern vernetzt, und wenn jemand infiziert und registriert wurde, blinkt seine*ihre Nummer ab sofort in der Zentrale rot. Alle ID-Nummern, die irgendwann in diesem Netzwerk je mit ihm verbunden waren, leuchten dann rot auf. Betroffene könnten gewarnt, getestet und dann freiwillig unter Quarantäne gestellt werden, weil im Streberland die aufgeklärten Bürger die Regeln einhalten. Sie werden nie erfahren, wer sie infiziert hat. Der Wille zur Zusammenarbeit der Gesellschaft zeigt, dass laut einer repräsentativen Umfrage von Meinungsforschern 70 Prozent der Befragten ihre personenbezogenen Daten an eine staatliche Institution wie die besagte offizielle staatliche epidemiologische Stelle weitergeben würden. Es wird versprochen, dass die gespeicherten Handydaten nach der Krise gelöscht werden. In diesem Land haben die Bewohner Vertrauen in ihre Regierung.
Streberland hat auch die Kapazität, mit Corona infizierte Patienten aus anderen Ländern aufzunehmen. Der zuständige Minister redet über Solidarität, während die Übernahme einige nicht unauffällige Pharisäerabsichten offenbart. Sein französischer Nachbar, der sich selbst immer ach so hoch einschätzt, lässt mit seinem abgepeckten Gesundheitssystem die über 80-Jährigen friedlich einschlafen, und statt eines Beatmungsgeräts werden sie einfach dem Sterbehospiz zugewiesen. Als Streberland davon erfuhr, liess es sofort einhundertsiebenundzwanzig Corona-Erkrankte in sein eigenes Land verlegen, um sie zu heilen. Am Ende der Woche brachte sogar ein Spezial-Militärflugzeug aus Bergamo – mit vorbildlicher Absicht – dreizehn Menschen in ernstem Zustand ins Land. Als ich nachfragte, nach welchen Kriterien die Glücklichen ausgewählt wurden, wurde ich grob abgetrumpft, ob ich keine Solidarität
und Hilfsbereitschaft verspürte: es ist egal wer, das menschliche Leben sei das Wichtigste. Ich sehe das auch so, aber in Italien warten außerhalb dieser 13 noch etwa 80.000 Menschen auf ihre Genesung.
Im Streberland spielt es keine Rolle, dass es derzeit fünfundvierzigtausend (inzwischen hunderttausend) infizierte Fälle gibt, da sich bereit viele erholt haben und sie glauben, immer noch in der Lage zu sein, genügend Kapazität zu besitzen um anderen zu helfen. Die Grünen in der Hauptstadt sind zu ihrem Kernthema Klimanotfall und Migration zurückgekehrt. Jetzt wollen sie gerade fünfzehnhundert „Flüchtlinge“ aus dem Moria-Lager in Lesbos ins Land holen, denn dies sei Streberlands europäische Menschenrechtspflicht. Ihre Verfassung würde ihnen diese Art von Alleingängen ja erlauben. „Wenn es diesem Land gelungen ist, innerhalb weniger Tage wegen der Coronakrise mehr als 170.000 seiner Bürger aus verschiedenen Teilen der Welt zu evakuieren, dann muss es auch gelingen, die unglücklichen Flüchtlinge von den unerträglichen Bedingungen auf Lesbos zu befreien. Ich möchte in Klammern nur darauf hinweisen, dass das Coronavirus bereits im Lager Lesbos erschienen ist und die ersten mit COVID-19 infizierten Personen schon getestet wurden.
(Der originelle Artikel von Irén Rab erschien in der regierungsnahen Zeitschrift „Magyar Hírlap“, am 2. April 2020, der Text wurde von Dr. Andrea Martin übersetzt, Beitragsbild: MTI – Szilárd Koszticsák)