Wöchentliche Newsletter

Tamás Freund – Unsere Muttersprache wird aus dem digitalen Raum verdrängt

Ungarn Heute 2024.10.17.

Der Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA), Tamás Freund, hat die ehrwürdige Institution durch eine radikale Reform geführt, wie es sie seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht mehr gegeben hat. In einem Exklusivinterview für Ungarn Heute gibt er uns einen einzigartigen Einblick in die Richtung, in die sich die Akademie entwickelt, und teilt seine Gedanken über die Bemühungen, ihre Relevanz und Unabhängigkeit inmitten der politischen Turbulenzen in Europa zu bewahren.


Bevor Sie die Leitung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTA) übernahmen, waren Sie in der Fachwelt als renommierter Neurobiologe bekannt. Man kann nicht gerade sagen, dass es sich um einen Modeberuf handelt, wann haben Sie sich in Ihrer persönlichen Laufbahn endgültig für diese Disziplin entschieden?

Ich habe relativ früh, in der dritten Klasse des Gymnasiums, beschlossen, dass ich Hirnforscher werden möchte. Ich hatte einen ausgezeichneten Biologielehrer und ein Biologielehrbuch, das die wunderbare, komplexe Welt der Neuronen und ihrer Netzwerke anschaulich beschrieb. Ich schloss mein Biologiestudium an der Eötvös Loránd Universität ab, aber ab meinem zweiten Studienjahr arbeitete ich unter der Leitung von Péter Somogyi als studentischer Mitarbeiter in der Forschungsgruppe von János Szentágothai. Meine frühe Entscheidung hat sich um ein Vielfaches bestätigt, denn ich hätte mir als Gymnasiast nie träumen lassen, dass die Welt der Wissenschaft so aufregend sein würde. An der Universität Oxford konnte ich meine Erforschung der Geheimnisse des Gehirns fortsetzen, und mit Hilfe meiner Mentoren gelang es mir, im Alter von 22 Jahren in eine der Hochburgen der Wissenschaft vorzudringen. Neben der Motivation war es auch Glück, dass meine Karriere so schnell begann.

Die meisten Wissenschaftler und Forscher scheuen naturgemäß Verwaltungs- oder Managementaufgaben und ziehen es vor, nach Möglichkeit sich auf wissenschaftliche Aufgaben zu konzentrieren. Wie schaffen Sie als Wissenschaftler diesen Spagat und finden Sie neben der Leitung der MTA Zeit für die Forschung?

Als Vizepräsident blieb mir noch etwas Zeit für die Forschung, obwohl ich auch das Institut für experimentelle Medizin geleitet habe. Aber das Amt des MTA-Präsidenten erfordert eine ganze Person, vor allem in der heutigen, sich ständig verändernden Welt. Die Akademie befindet sich im Umbruch, und das bedeutet eine ständige Herausforderung für alle gewählten Führungskräfte und das Sekretariatspersonal.

Ich hatte das Gefühl, dass ich der Akademie in dieser kritischen Phase helfen kann, dass ich die Beziehungen zu den Entscheidungsträgern gestalten kann und dass wir uns der Gesellschaft gegenüber öffnen können.

Können Sie unseren ausländischen Lesern erklären, wie sich die neue Rolle der MTA von der früheren unterscheidet?

Zusätzlich zu den routinemäßigen Funktionen der Akademie in den Bereichen Wissenschaftsmanagement, Finanzierung, Interessenvertretung, Qualitätssicherung und Wissenschaftspolitik – die sie natürlich weiterhin wahrnimmt – haben wir unsere Programme verstärkt, die sich auf die gesamte öffentliche Einrichtung stützen. Als Berater der Nation sind wir in zwei Richtungen offen: Wir freuen uns, eine Rolle bei der wissenschaftlichen Vorbereitung von Regierungsentscheidungen zu spielen, aber auch breite Schichten der Gesellschaft wissenschaftlich zu beraten, um ihnen zu helfen, sich in der Flut unkontrollierter, oft pseudowissenschaftlicher und irreführender Informationen in den sozialen Medien zurechtzufinden. Wir versuchen zudem, junge Menschen zu erreichen, u. a. durch unser Alumni-Programm für Oberschulen, um sie mit der Methodik und der Schönheit der Wissenschaft und der Freude an Entdeckungen vertraut zu machen, damit sie eher den Wissenschaftlern als den selbsternannten „Experten“ vertrauen. Die rund 3.000 Forscher des Institutsnetzes unterstehen zwar nicht mehr direkt der Akademie, sind aber Teil der 19.000-köpfigen MTA-Öffentlichkeitseinrichtung, auf die wir uns bei der Durchführung dieser größeren Aufgaben stützen.

Das Gebäude der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Foto: Wikipedia

Einige meinen, die derzeitige EU-Führung versuche, Ungarn und seine Institutionen zu isolieren, um politische Zugeständnisse zu erreichen. Der Ausschluss aus den Programmen Erasmus und Horizon hat sich auch auf die Forscher ausgewirkt. Gibt es ein Gefühl der Distanzierung seitens der ausländischen Partner der MTA und wie stellt sich die Institution auf die veränderten äußeren Umstände ein?

Die Akademie fühlt sich für die Zukunft der gesamten heimischen Wissenschaft verantwortlich und verfolgt daher die Ereignisse mit Sorge. Ich halte es für äußerst ungerecht, dass der Europarat in erster Linie junge Forscher ausschließt, deren wissenschaftliche Laufbahn gefährdet und die Abwanderung beschleunigt, während das Gegenteil behauptet wird. Man sucht nach Wegen, um mehr mittel- und osteuropäische Forscher für ERC-Stipendien zu gewinnen, und schließt dabei die Ungarn aus.

Wir haben in mehreren Schreiben an den Präsidenten und die Mitglieder der Europäischen Kommission die Aufhebung dieser Sanktion gefordert.

Diese Diskriminierung betrifft nicht nur die Universitäten der öffentlichen Stiftungen, sondern alle ungarischen Forschungszentren, da es in Europa gängige Praxis ist, dass die Chancen auf einen Zuschlag sinken, wenn eine ungarische Forschungsgruppe im Konsortium vertreten ist.

In einer globalisierten Welt ist die bevorzugte oder gar ausschließliche Verwendung des Englischen in Fachpublikationen eine Selbstverständlichkeit. Aber eine Ihrer Aufgaben ist es, Ungarisch als Wissenschaftssprache zu pflegen. Wie wollen Sie der Marginalisierung der Landessprache im wissenschaftlichen Diskurs entgegenwirken, damit heutige und künftige Forschergenerationen – wie die viel zitierten ungarischen „Marsbewohner“, die ungarischen Nobelpreisträger des 20. Jahrhunderts – von der Ausdruckskraft und Abstraktionsfähigkeit ihrer Muttersprache profitieren können?

Im Sinne von János Arany hat sich die Akademie immer als eine Gesellschaft verstanden, welche die ungarische Sprache und die Wissenschaften in dieser Sprache pflegt, was auch in der feierlichen Erklärung der diesjährigen Generalversammlung bestätigt wurde. Zuvor wurden in einem öffentlichen Diskussionsforum und in einem Bericht der Generalversammlung die vielfältigen Aktivitäten und Aufgaben der Akademie im Zusammenhang mit der ungarischen Sprache zusammengefasst. Hervorzuheben ist unser „Nationales Programm Wissenschaft für die ungarische Sprache“, zu dessen Zielen die Erstellung einer Datenbank ungarischer historischer Ortsnamen, die digitale Unterstützung der ungarischen Muttersprache und der wissenschaftlichen Terminologie, die Verzehnfachung des Ungarischen Nationalcorpus, die Erneuerung des Rechtschreibberatungsportals, die sprachliche Identifizierung pseudowissenschaftlicher Auffassungen und die Harmonisierung der Fachsprache des Bildungswesens im Karpatenbecken gehören.

Unsere Muttersprache ist nicht vom Aussterben bedroht, sondern davon, mangels technologischer Unterstützung aus dem digitalen Raum verdrängt zu werden.

Englisch spielt in der Wissenschaft eine besondere Rolle. Der Auftrag der Akademie in Hinblick auf die ungarische Sprache und die Bestrebungen der ungarischen Forscher nach internationaler Zusammenarbeit und Wettbewerbsfähigkeit dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das Beispiel von János Neumann und seinen Kollegen zeigt, dass die Originalität und Kreativität unseres Denkens, die auf die Eigenschaften unserer Muttersprache zurückzuführen ist, in einer Fremdsprache nicht verloren gehen.

Dem Gründer der Akademie, Graf István Széchenyi, zufolge „können nur Institutionen, die sich eng innerhalb ihrer eigenen Grenzen bewegen, ihre volle Blüte erreichen“. Andererseits muss sich auch eine Institution mit einer langen Geschichte wie die MTA, die 2025 ihr zweihundertjähriges Bestehen feiern wird, angesichts des politischen Wandels ständig neu erfinden, um ihre gesellschaftliche und systemische Relevanz zu erhalten. Wie würden Sie die Frage der institutionellen Grenzen und Kompetenzen angehen? Gibt es eine Möglichkeit, diese zu erweitern oder neu zu definieren?

Der Auftrag der Akademie hat feste und sich wandelnde Elemente. Die Identität der Akademie wird durch die Tatsache bestimmt, dass sie nicht von weltlichen oder kirchlichen Autoritäten, sondern von Vertretern der Nation gegründet wurde. Ihre Legitimität leitet sich, wie die der politischen Macht, von der Nation ab. Deshalb ist es unsere ständige Aufgabe, daran zu arbeiten, dass die Ergebnisse der Wissenschaft den Ungarn zugute kommen.

Die Notwendigkeit der Erneuerung ergibt sich aus der Notwendigkeit, auf die Veränderungen in der Nation, in der globalen, natürlichen und sozialen Umwelt sowie in Wissenschaft und Technik zu reagieren.

Der Auftrag und die Zuständigkeit der Akademie werden von der ungarischen Nation und dem Standort der ungarischen Forschungsgemeinschaft bestimmt. Beide gehen über die derzeitigen Verwaltungsgrenzen des Landes hinaus. In diesem Sinne gestalten wir unsere Organisation, unseren Betrieb, unsere wissenschaftlichen Programme und unser Fördersystem. Zu den 19.000 Mitgliedern unserer Institution in In- und Ausland gehören Akademiemitglieder aus dem Karpatenbecken und aus vielen wissenschaftlichen Zentren der Welt. Die in den Universitäten, Forschungszentren und industriellen Innovationsforschungszentren tätigen Forscher sind für uns alle wichtig. Dies spiegelt sich in der Angleichung der Rechte der einheimischen und externen Mitglieder, in der Ausweitung der nationalen Programme, der Feier der Wissenschaft und des Alumni-Programms über unsere Grenzen hinaus sowie in unseren Vorbereitungen für die gemeinsame Feier unserer Zweihundertjahrfeier wider. Die Beziehungen zu den politischen Organisationen und der Regierung beruhen auf der Wahrung des öffentlichen Vertrauens, dem gegenseitigen Respekt, der Zusammenarbeit in einem vereinbarten Rahmen und der gegenseitigen Unterstützung des Auftrags des jeweils anderen.

Der ungarischen "Big Five" der Mathematik zum Hundertsten
Der ungarischen

Der hundertjährige Prof. László Fuchs nahm den János-Arany-Preis für sein Lebenswerk entgegen.Weiterlesen

Beitragsbild: MTA