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Überbehütete Kinder, ausgebrannte Eltern und kein Glück

Ferenc Rieger 2022.09.13.

hirado.hu befragte die Kinderpsychologin Andrea Bojti nach ihren Erfahrungen: Neigen auch ungarische Eltern zu intensiver Erziehung? Wir haben das Interview für unsere Leser zusammengefasst.

Wer kennt sie nicht, die „Helikopter-Mamas“ und „Bulldozer-Väter“, die rund um die Uhr damit beschäftigt sind, das Lernen und die Freizeit des Nachwuchses zu planen, zu optimieren und zu überwachen? Diese für die Mittelschicht-Eltern typische Verhaltensmuster haben auch in Ungarn längst Einzug erhalten und sind für einen wachsenden Leistungsdruck verantwortlich, die zunehmend auch die Kinder belastet. Wenn die Gesellschaft Erfolg zum Maßstab des Glücks macht, kann die Familie in dieser Hinsicht keine Ausnahme machen.

„Das Gegenteil von Gut ist nicht Böse sondern gut gemeint“, soll Kurt Tucholski gesagt haben. Dieses Diktum gilt auch für die „intensive Elternarbeit“, einen Trend, der mit einiger Verspätung auch das Leben ungarischer Familien zunehmend bestimmt und im wesentlichen darin besteht, dass die Eltern keine Ressourcen scheuen, um ständig darüber nachzudenken und zu arbeiten, wie sie eine bessere Zukunft und ein glückliches Leben für ihre Kinder schaffen können. Das Ziel ist ein einziges: den zukünftigen Erfolg des Kindes zu optimieren, aber vor allem zu maximieren, um auf das bestmögliche Leben hinzuarbeiten.

Die Familien von heute erziehen ihre Kinder auf eine ganz andere Art und Weise als die, mit der sie selbst aufgewachsen sind. Vor einigen Jahrzehnten verbrachten Eltern nicht halb so viel Zeit mit ihren Kindern, Qualitätszeit war kein Thema, die Familie lebte und funktionierte einfach, das Ziel war nicht, das Beste aus dem Kind herauszuholen, es ständig zu fördern und zu unterhalten, ihm alles zu geben.

Andererseits ist in der heutigen Generation der Dreißig- und Vierzigjährigen die Erinnerung an den „preußischen“ Erziehungsstil ihrer eigenen Eltern immer noch sehr lebendig.

Die Eltern sind sich inzwischen bewusst, dass sie ihre Kinder nicht auf die gleiche Weise erziehen wollen, aber nicht wissen, was sie stattdessen tun sollen.

Die Welt hat sich verändert, und noch nie mussten sich Eltern mit so vielen widersprüchlichen Informationen über Erziehung auseinandersetzen wie heute. Auch in Bezug auf die Überflutung mit Ratschlägen aus den sozialen Netzwerken gilt das Bonmot „Weniger ist mehr“.

Nicht wenige übertreiben und wollen ihren Kinder jede Eigenverantwortung abnehmen. Damit bleiben die Kinder länger als notwendig an der „Nabelschnur“ der Familie hängen.

Die Autonomie des Kindes wird durch die Übererziehung eingeschränkt, sie gibt ihm nicht den Raum, unabhängig zu sein, wenn es nicht allein reisen kann, wenn es bereits dazu in der Lage ist, wenn es sich nicht frei und ohne Aufsicht von Erwachsenen mit seinen Freunden treffen kann.

Fact

Die Gelassenheit in der Erziehung kann ungeahnte Energien freisetzen, so die Erfahrung  der Salesianer („Gutes tun, fröhlich sein und die Spatzen pfeifen lassen“), die wiederum mit dem in der Bergpredigt angesprochenen Grundvertrauen zu tun hat: „Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern?“ (Mt 6,26 ff.)

Experten sagen, dass es möglich ist, mit vorsichtigen Schritten von der Übererziehung wegzukommen, das Bedürfnis nach Qualitätszeit und ständigen Zuneigungsbekundungen zurückzustellen, sich von der Notwendigkeit zu lösen, das Lernen ständig zu überwachen und zu unterstützen und nützliche Freizeitbeschäftigungen zu fördern.

Eltern haben eine Menge falscher Erwartungen, sie reduzieren ihr Erwachsenenleben, ordnen alles der Kindererziehung unter – und verstehen nicht, warum sie müde und ausgebrannt sind.

Eine wichtige Erkenntnis ist, dass man sich nach der großen Symbiose wieder dem Erwachsenenleben zuwenden sollte, den Beziehungen, den Freunden. Nach Angaben des ungarischen  Statistikamtes sind bei 25-30 von 100 offiziellen Scheidungen Kinder unter sechs Jahren beteiligt. Das zeigt, dass es ein Risiko für die Beziehung ist, kleine Kinder zu haben, wenn Erwachsene sich nicht um sich selbst kümmern, wenn sie sich keine Zeit für sich selbst nehmen.

Eltern müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie die überzogenen Erwartungen loslassen und sich entspannen müssen. Damit tun sie sich nicht nur selbst, sondern auch ihren Kindern einen Gefallen.

Beitragsbild: Pixabay