In zwei zeitgleich erhobenen internationalen Umfragen – von Chatham House – Kantar Public und von der ungarischen Denkfabrik Századvég – hat sich herausgestellt, dass Ungarn diejenige Nation mit der positivsten Grundhaltung gegenüber der EU ist. Kommentatoren debattieren die Frage, welche Rolle die Budapester Regierung bei der Auseinandersetzung mit Brüssel und bei der Herausbildung der öffentlichen Meinung im Lande bislang gespielt hat. Dabei befindet sich der ungarische EU-Kommissar – ungeachtet seiner Loyalität mit Blick auf den Fidesz – in Fragen Migration durchaus nicht auf Regierungslinie. Ungarische Presseschau von budapost.de:
Péter Krekó, ein führender Analyst der Denkfabrik Political Capital, kommentiert in Heti Világgazdaság die sich aus der Umfrage von Chatham House – Kantar Public ergebenden Befunde. Merkwürdig findet Krekó indes, dass sie dessen ungeachtet mit der von der Union betriebenen Migrationspolitik nicht übereinstimmen. Konkret glaubten die Ungarn, dass der Umgang mit dem Phänomen der Massenmigration der vergangenen Jahre eine von drei großen Fehlleistungen der EU-Spitze gewesen sei. Krekó führt diese Haltung auf die massiven Kampagnen der Regierung zu diesem Thema zurück. Der liberale Kommentator vermutet, dass Ministerpräsident Viktor Orbán die Union so oft kritisiere, um das beschriebene Vertrauen zu erschüttern und in der Folge nicht selbst als im Vergleich zur Europäischen Union „weniger attraktiv“ beurteilt zu werden. Krekó bezichtigt den Ministerpräsidenten darüber hinaus, er versuche „die Union mittels einer EU-skeptischen Öffentlichkeit und der realistischen Aussicht auf einen Huxit im Hintergrund zu erpressen“. In seinem Schlusswort widerspricht sich der Autor aber in gewisser Weise selbst, wenn er schreibt, dass Orbán sein mehrheitlich der Union gewogenes Volk ersetzen – oder zumindest umstimmen – wolle.
In seinem wöchentlichen Leitartikel für Figyelő analysiert Tamás Lánczi die Ergebnisse einer in allen 28 Mitgliedsstaaten erhobenen Umfrage der ungarischen Denkfabrik Századvég, laut der die Ungarn zusammen mit den Polen mit Abstand diejenigen seien, deren Neigung zum Verlassen der EU am wenigsten stark ausgeprägt sei. Der Dissens zur etablierten Flüchtlingspolitik der Union erscheine laut dieser Umfrage als ein gemeinsamer Charakterzug von Osteuropäern. Doch im Gegensatz zu Péter Krekós Annahme würden die Zahlen von Századvég aufzeigen, dass Massenmigration in ganz Europa als ernsthaftes und ungelöstes Problem wahrgenommen werde. Westeuropäer hingegen würden, so Lánczi, dazu tendieren, das Problem mit der Umsiedlung von Migranten innerhalb der Europäischen Union beseitigen zu wollen, während Osteuropäer befestigte Außengrenzen befürworteten. Lánczi schließt mit der Feststellung, dass der Streit noch nicht beigelegt worden sei und der deutsche Ansatz nach wie vor von einer Mehrheit der Europäer unterstützt werde, wenngleich die ungarische Herangehensweise von einer wachsenden Zahl der Menschen auf dem Kontinent geteilt werde.
Der ungarische EU-Kommissar Tibor Navracsics vertritt in Heti Válasz mit Blick auf die Migranten-Quote einen anderen Standpunkt als die Regierung seines Heimatlandes. Schweden und Deutsche würden zurecht von anderen Mitgliedsstaaten eine Teilung ihrer Lasten erwarten. Seiner Meinung nach irrt die ungarische Regierung mit ihrer Annahme, dass diese westlichen Länder den Migrationsfluss begünstigt hätten, indem sie Neuankömmlinge enthusiastisch willkommen geheißen und sich gegen Versuche gewehrt hätten, Europas Grenzen für illegale Migranten zu schließen. „Niemand wollte diese Situation, niemand hat sie herbeigeführt“, so Navracsics. Seine eigene Position innerhalb der EU-Kommission sei wegen der massiven Divergenzen zwischen der Kommission und der ungarischen Regierung extrem heikel geworden. „Ich kann nichts von mir geben, was Budapest und Brüssel gleichermaßen genehm wäre“, beklagt der frühere ungarische Justizminister. Am Ende des Interviews bekräftigt Navracsics, dass er nach wie vor Fidesz-Mitglied sei und zurück nach Ungarn kommen würde, um eine Rolle in der ungarischen Politik zu spielen, „falls mir eine Chance gegeben würde, in einem bürgerlichen Ungarn zu arbeiten“.
via budapost.de, Foto: krone.at