Angela Merkel hatte, ohne das Land namentlich zu erwähnen, im Streit um die Aufnahme von Flüchtlingen mit Finanzsanktionen gedroht. „Wer sich dieser Solidarität verweigert, muss damit rechnen, dass das nicht ohne Folgen bleiben wird, auch mit Blick auf die Verhandlungen über zukünftige Finanzhilfen“, erklärte die Kanzlerin. Hinsichtlich dieser Mahnung diskutieren ungarische Wochenzeitungen, wie sich in den kommenden Jahren die Beziehungen zwischen Budapest und Brüssel bzw. ganz generell zwischen West- und Osteuropa gestalten werden. Ungarische Presseschau von budapost.de:
Zugegeben, in ihren ersten kritischen Reaktionen auf das Urteil aus Straßburg hätten die Minister für auswärtige Angelegenheiten und Justiz ein „rhetorisches Feuerwerk“ gezündet. Doch weist Bálint Ablonczy von Heti Válasz auch darauf hin, dass Ministerpräsident Viktor Orbán das Urteil nach eigenem Bekunden „registriert“ habe. „Als Mitglied der Europäischen Union können wir den Respekt vor dem Gesetz, auf dem die EU gründet, nicht beschädigen“, so Orbán wörtlich. Freilich habe der Ministerpräsident hinzugefügt, dass er seine Migrationspolitik nicht ändern werde. Ablonczy prognostiziert, dass Ungarn einen zweiten Prozess vor dem Europäischen Gerichtshof verlieren werde, falls das Land von der Europäischen Kommission wegen Missachtung des nunmehr von den Straßburger Richtern als rechtens abgesegneten Quotensystems verklagt werden sollte. Dessen ungeachtet arbeiteten europäische Diplomaten an einem Kompromiss, der verschiedene Möglichkeiten aufzeigen würde, wie man seine Solidarität mit besonders von extrem hohen Einwandererzahlen betroffenen Mitgliedsstaaten ausdrücken könnte.
Gemäß diesem neuen System würde der Schutz der europäischen Außengrenzen ebenso als Zeichen der Solidarität akzeptiert wie finanzielle Beiträge. Dieses neue System angewandt hieße, dass die Nichtakzeptanz von Asylbewerbern Ungarn 48 Millionen Euro kosten würde – das wäre rund ein Prozent der jährlich aus Brüssel Richtung Ungarn überwiesenen Nettosubventionen. Unterdessen befinde sich Ungarn offiziell nach wie vor im „Kriegszustand“, konstatiert Ablonczy und fragt sich nur, wie lange noch.
In Demokrata findet Gábor Bencsik lobende Worte für die Haltung der ungarischen Regierung. Diese drücke die Überzeugung aus, dass Europa von einem Bevölkerungsaustausch bedroht werde. In den vergangenen 5.000 Jahren seien unaufhörlich Nationen auf- und wieder untergetaucht, hält der Autor fest. Europäische Spitzenpolitiker würden fälschlicherweise glauben, dass ihre gegenwärtigen Gesellschaften auf ewig bestehen würden. Europa – und dabei auch Ungarn – würden nicht durch einen militärischen Überfall bedroht. Der Schlüsselbegriff für die Beschreibung der Hauptgefahr laute Demographie, meint Bencsik und fährt fort: Während die Europäer „ihre Reproduktionsfähigkeit eingebüßt haben“, würden andere Völker ihren demokratischen Überschuss auf Europa abladen. „Lediglich die Dümmsten können glauben, dass ein Bevölkerungsaustausch nicht auch einen Kulturaustausch nach sich ziehen wird.“
Dagegen hat der Autor ein Doppelrezept: Einerseits schlägt er eine ganze Palette von Maßnahmen vor, um die Menschen zur Geburt von mehr Kindern zu animieren – angefangen bei neue Formen von Steuererleichterungen bis hin zu familienfreundlichen Arbeitsplätzen. Auf der anderen Seite müssten die Behörden unter allen Umständen den weiteren Zustrom neuer Bevölkerungsgruppen verhindern. Das bedeute, sie müssten einem von solchen Kräften ausgeübten Druck widerstehen, die „entweder aus tölpelhafter Naivität oder Geschäftemacherei ein Niederreißen der Dämme und ein Hereinströmen der Flut wünschen würden“. Einige europäische Staaten hätten bereits die kritische Schwelle überschritten und wären auch dann nicht mehr zur Umkehr auf dem Weg des Bevölkerungsaustausches fähig, falls sie ihren bisherigen Irrtum einsehen würden. Und dennoch, so schließt Bencsik seine Analyse, „liegt es in unser aller gemeinsamen Interesse, den Rest davon abzuhalten, diesem Beispiel zu folgen“.
Botond Bőtös geht in der Wochenzeitung Élet és Irodalom davon aus, dass die Geschlossenheit der vier Visegrád-Staaten (V4) in der Flüchtlingsfrage allmählich von unterschiedlichen Interessen und Zukunftsvisionen zwischen Ungarn und Polen auf der einen und Tschechien sowie der Slowakei auf der anderen Seite überlagert werde. Mitteleuropa befinde sich an einem historischen Scheideweg, so Bőtös, denn die Staatslenker Deutschlands und Frankreichs drängten in Richtung einer erweiterten und zunehmend integrierten Eurozone. Der Autor interpretiert in den vergangenen Jahren zu verzeichnende diplomatische Vorkommnisse als Hinweise darauf, dass sich die Tschechische Republik und die Slowakei stärker dem Westen annähern wollten als ihre ungarischen und polnischen Nachbarn. Ihre Ablehnung des Quotensystems sei erheblich gemäßigter ausgefallen, obgleich diese Ablehnung durchaus die Haltung der meisten Tschechen und Slowaken widerspiegele. Jedoch hätten sie eine neue Art der Zusammenarbeit mit Österreich begonnen. Die entsprechende, in diesem Sommer in Slavkov unterzeichnete Vereinbarung betrachtet Bőtös als Beweis dafür, dass sich Prag und Bratislava von in Ungarn und Polen vorherrschenden „autoritären Tendenzen“ absetzen wollten.
Der österreichische Eintritt zur mitteleuropäischen Gleichung erinnert den Autor an die letzten Jahrzehnte der österreichisch-ungarischen Monarchie, als Budapest den Bestrebungen Wiens nach einem stärker föderalistisch ausgerichteten System widerstanden hatte – einem System, bei dem Ungarn seine Vorrangstellung unter den nicht-österreichischen Völkern des Imperiums verloren hätte. Ungarn und Polen hätten einen größeren Hang zur Eifersucht auf ihre neuerlich errungene Souveränität. Das könnte einer der Gründe dafür sein, weshalb sie sich Einigungsbestrebungen aus Brüssel widersetzen würden, analysiert Bőtös, zeigt sich aber dessen ungeachtet überzeugt, dass eine wie von Frankreich und Deutschland angestrebte immer intensivere Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union nicht aufzuhalten sein werde. „Ungarn wird da nicht mitmachen“, sagt Bőtös voraus.
via budapost.de, handelsblatt.com; Foto: Soeren Stache – merkur.de