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„Wir werden die Wahrheit verteidigen“ – Interview mit Judit Varga, Staatsministerin für EU-Beziehungen

Ungarn Heute 2018.10.25.

Unsere Regierung war immer kompromissbereit, aber wir werden unsere Stellung zur Migration nicht aufgeben – sagte Judit Varga, die Staatsministerin für EU-Beziehungen in einem Interview mit „Hungary Today“. Sie erwartet mehr Toleranz von den westlichen Ländern, und dass Vielfalt in der EU neben der Einheitlichkeit auch beachtet wird. Ein Interview von Hungary Today

Sie haben den Sargentini-Bericht in Ihrem politischen Meinungsartikel, der vor der Abstimmung veröffentlicht wurde, eine Hexenjagd genannt. Hat die ungarische Regierung die Prüfung nicht bestanden?

Der Kampf geht weiter; Wir verteidigen Ungarn nur auf einer anderen Front, nämlich im Europäischen Rat. Bei den EP-Wahlen wird sich entscheiden, wer auf welcher Seite der Migrationspolitik steht – und die Kampagne hat schon begonnen. Die derzeitige Mehrheit der migrationsfreundlichen Parteien im EP möchte Ungarn durch diese Abstimmung in die Knie zwingen, um unseren Standpunkt aufzugeben.

Sie haben zwei Punkte des Sargentini-Berichts hervorgehoben: Antisemitismus- und Rassismus-Vorwürfe. Warum haben Sie nicht versucht, die anderen Vorwürfe wie Korruption, Unabhängigkeit der Gerichte, Meinungs- und Pressefreiheit oder Unabhängigkeit der Bildung auch zu widerlegen?

Jeder Artikel hat Einschränkungen hinsichtlich seines Umfangs. Ich fand den Vorwurf des Antisemitismus am verletzendsten und ungerechtesten. Die ungarische Regierung kündigte die sog. Null-Toleranz-Politik gegenüber Antisemitismus an. Lokale und internationale jüdische Organisationen zeugen von der Blüte der jüdischen Kultur in Ungarn und von ihrer Sicherheit hier – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern. Selbst der israelische Premierminister lobte Ungarns Bemühungen. Was den Roma-Rassismus anbelangt, so widerlege ich diesen Vorwurf aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen, da ich mit Lívia Járóka, der ersten Roma-Vertreterin im Europäischen Parlament zusammenarbeitete. Wir haben die sog. europäische Roma-Strategie während der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft, im Jahr 2011 ins Leben gerufen. Die, von der Regierung gestartetem öffentlichen Arbeitsprogramme trugen weitgehend zum Fortschritt bei, da viele Roma-Mitbürger bereits mithilfe des Programms angestellt wurden.

War es nicht am einfachsten, diese beiden Fragen zu widerlegen?

Nein, aber politisch waren diese beiden am empfindlichsten. Die ungarische Regierung hat jedoch ein 108-seitiges Dokument vorbereitet, das jedem zugänglich ist, in dem wir jeder Vorwurf exakt widerlegen. Parteien, die die Migration unterstützen, haben sich ganz anders auf die Abstimmung vorbereitet: sie haben die Regeln in der letzten Minute geändert, um die Stimmenthaltungen bei der Festlegung des Ergebnisses auszuschließen. Man hat nur die Ja- und Nein-Stimmen berücksichtigt. Sie predigen immer über Rechtsstaatlichkeit, aber diese Aktion verstößt gegen diese Prinzipien.

Der britische Richard Corbett, der für die Reform der Geschäftsordnung im EP zuständig ist, erklärte jedoch, dass die Stimmen nach den ursprünglichen Regeln gezählt wurden und es gab keinen Betrug.

Corbett ist Mitglied der Labour Party, wir behandeln seine Worte als eine Meinung. Als Experte für EU-Recht ist es mir klar: es war eine spezielle Abstimmung, also man sollte auch die Aufenthalte zählen. Auf diese Weise wäre die Zweidrittelmehrheit nicht einmal aufrechterhalten worden. Unser Standpunkt wird von vielen anerkannten europäischen Juristen geteilt, zum Beispiel von Alexander Thiele, dem Professorn an der Universität Göttingen. Wir werden unser Recht auch vor dem Gerichtshof der EU verteidigen.

Nach den Debatten über die Rechtsstaatlichkeit Ungarns betonte die Regierung ihre Kompromissfähigkeit. Manfred Weber, Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei, sagte jedoch folgendes: Sie stimmten mit Ja, weil das Kabinett keine Kompromiss-Fähigkeit zeigte. Warum nicht?

Denn der ganze Bericht war nur eine Pression. Um einen Kompromiss zu schließen, hätten wir unser größtes Prinzip aufgeben: unsere Migrationspolitik, die auf dem Willen der ungarischen Bürger beruht. Die Ungarn wollen nicht, dass ihre Heimat zu einem Land illegaler Einwanderer wird, aber das wird von uns erwartet – das ist unmöglich.

Warum haben Sie dann in den anderen Bereichen keine Kompromisse geschlossen?

Die anderen Themen, die in dem Bericht erwähnt werden, sind nur Vorwände, Ungarn zu verurteilen. Schon lange sagen wir, dass Ungarn zu einem Dialog bereit ist. Wir haben schon enorme Kompromisse geschlossen: wir haben unsere demokratisch geschaffenen Gesetze geändert, sogar Verfassungsgesetze. Jetzt wollen sie diese, schon bereits gelöste Themen im Namen eines politischen Konzepts wieder öffnen. Das widerspricht den europäischen Werten. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gehören zu den EU-Grundsätzen. Trotz dieser Verletzung der eigenen Verfahrensregeln verurteilen sie die, von einer demokratisch gewählten Nationalversammlung verabschiedeten Gesetze.

Die Verabschiedung des Sargentini-Berichts wurde von der ungarischen Regierung mit dem Plan der Union zur Stärkung von Frontex in Zusammenhang gebracht: in beiden Fällen sehen Sie die Verletzung der Souveränität. Aber in 2015-2016 hat gerade Ungarn das gewollt, weil die Griechen ihre Grenzen nicht verteidigen konnten. Warum haben Sie diesen Standpunkt geändert?

Davon ist nicht die Rede. In der Tat freuen wir uns, dass schließlich alle – aufgrund unserer Anregung – über die Verteidigung unserer Außengrenzen sprechen. Die Frage ist, wie dieser Grenzschutz interpretiert wird. Für uns stoppt es illegale Migranten. Für Brüssel bedeutet es, dass sie die Migration „managen“ können. Jetzt hat in Europa ein Spiel begonnen, um die Kontrolle des Grenzschutzes in die Hände der Zentralmächte in Brüssel zu legen. Ihr Ziel ist, dass mehr Migranten nach Europa kommen können. Danke, wir wollen das nicht. Die Länder, die schon bewiesen haben, dass sie ihre eigenen Grenzen verteidigen können, sollten nicht ihres Rechts – die eigenen Grenzen zu schützen – beraubt werden. Ungarische Soldaten, die das Grundgesetz Ungarns vereidigt haben, können sich mit Herz und Seele um diese Aufgabe kümmern.

Aber die Europäische Kommission sagt, dass dies nicht erforderlich wird,  Frontex wird nur dort eingesetzt, wo es notwendig ist.

Ich habe genug Erfahrung mit dem europäischen Gesetzgebungsprozess, um das zu wissen: Egal, wie die ursprünglichen Entwürfe aussehen, wenn wir dem Institution die Möglichkeit geben, dann wird aus diesem Entwurf ein Gesetz. Dieses Gesetz wird aber der ursprünglichen Version gar nicht ähneln. deswegen muss es von Anfang an bekämpft werden.

Wie würden Sie die Beziehung zwischen Ungarn und der EU charakterisieren?

Wir haben unterschiedliche wirtschaftliche und ideologische Interessen. Die „schändliche“ Verfahren wie gerade auch in Polen seit Monaten stattfinden, beweisen, dass die westliche Elite nicht akzeptieren will, dass die wirtschaftlich erfolgreiche Region, also Mittel-Ost-Europa die Regeln des gemeinsamen Spiels gelernt hat und nun für ihre eigenen Interessen spielt – so wie sie es bisher getan haben. Wir fordern mehr Toleranz, mehr Verständnis und mehr Kompromisse von den westlichen Mitgliedstaaten. Wir kritisieren ihre Einstellung auch nicht, aber wir erwarten, dass dieser Respekt gegenseitig wird, und dass sie anerkennen, dass wir auch Interessen haben.

Seit Jahren scheint es nur negative Dinge über die Europäische Union zu hören. Bitte, sagen Sie mir drei positive Sachen!

Ich glaube nicht, dass nur negative Kommentare zu hören sind. Man sollte unsere Meinung über die EU mit unserer Kritik an der Brüsseler Migrationspolitik verwechseln. Ungarn und das ungarische Volk sind der EU verpflichtet – deshalb sind wir so besorgt über Europa. Die Brüsseler Führung stärkt nicht, sondern sie schwächt und ruiniert Europa. Diejenigen, die versuchen, die europäische Bevölkerung und Kultur zu ersetzen, sollten nicht von europäischen Werten sprechen. Der Vorwurf, dass wir EU-Skeptiker seien, ist nicht wahr. Wir sind EU-Realisten; Wir zweifeln nämlich nicht an der Bedeutung der Integration, denn sie hat dem Kontinent einen stabilen Frieden gebracht. Dank der EU und der vier Grundfreiheiten können die Bürger frei reisen, arbeiten, studieren und Geschäfte machen, es gibt einen wirtschaftlichen Wohlstand. Die Vorteile der EU-Mitgliedschaft sind im täglichen Leben der Ungarn spürbar.

Die multikulturellen Lebensstile des Westens werden oft von Regierungsvertretern kritisiert. Ist es wichtig, die Mitgliedschaft in der EU beizubehalten? Ist das Ungarns kulturelle und politische Gemeinschaft?

Das Motto der EU lautet „Einheit in Vielfalt“. Wenn nur der erste Teil dieses Satzes aufrechterhalten wird und dadurch Länder dazu gezwungen werden, ihre nationalen Identitäten zu opfern, wird Europa eine gesichtslose Masse. Wir sind vor tausend Jahren zu einem christlichen Europa gestoßen und möchten dieses Europa und unsere christliche Kultur und Identität bewahren. Wenn die andere Hälfte von Europa etwas anderes möchte, erwarten wir immer noch, dass sie das akzeptieren und uns nicht bestrafen. Als wir uns für diesen Club anmeldeten, wurde nirgendwo in den Regeln geschrieben, dass wir unsere vollständige Souveränität und nationale Identität aufgeben müssten. Unser Europäismus kann nicht bezweifelt werden, was das „nationale Credo“ unseres Grundgesetzes deutlich macht: „Wir sind stolz darauf, dass unser Volk im Laufe der Jahrhunderte Europa in einer Reihe von Kämpfen verteidigt und mit seinem Talent und seinem Fleiß die gemeinsamen Werte Europas bereichert hat. Wir glauben, dass unsere nationale Kultur einen großen Beitrag zur Vielfalt der europäischen Einheit leistet. „

Das originelle Interview auf Englisch finden Sie hier: 

“We Will Defend Our Truth” – Interview with Judit Varga, the Minister of State for EU Relations

(Via: Hungary Today (hungarytoday.hu), Fotos: Gergely Botár – kormany.hu)