Artikel in Gedenken an den ungarischen Volksaufstand spiegeln in der Regel den wohlbekannten tiefen Riss wieder, der die öffentlichen Meinung in kulturellen und tagespolitischen Fragen spaltet. Der 64. Jahrestag der blutigen Ereignisse vom Herbst 1956 bildet hierbei keine Ausnahme.
Im Leitartikel von Magyar Narancs ziehen die Autoren einen Vergleich zwischen der Studentendemonstration, die im Herbst 1956 die antikommunistische Revolution ausgelöst hatte, und der von den Studenten der Theater- und Filmuniversität zum Jahrestag des Volksaufstandes organisierten Demo, um die sich gegenwärtig die große innenpolitische Kontroverse dreht (siehe BudaPost im August und September). Im Gegensatz zu den Demonstrationen vor 64 Jahren ziele der heutige Studentenprotest nicht auf die Vertreibung einer ausländischen Besatzungsarmee ab, notieren die Leitartikler. Vielmehr kämpften diese Studenten für wichtige Werte, wie beispielsweise die Autonomie ihrer Universität. Magyar Narancs geht allerdings nicht davon aus, dass der heutige Studentenprotest Ungarn von „einer Tyrannei“, ja sich die Studierenden nicht einmal von ihrer „lokalen Tyrannei“ befreien könnten. Dennoch hätten sie zumindest bewiesen, dass das Erbe von 1956 nach wie vor lebendig sei, behauptet das liberale Wochenmagazin.
Róbert Friss von Népszava hingegen beklagt, dass 64 Jahre nach der Revolution große Verwirrung um die damaligen Geschehnisse herrsche. Der linksorientierte Journalist analysiert: Weder könne sich die Rechte authentisch mit 1956 identifizieren, weil der damalige und später hingerichtete Ministerpräsident Imre Nagy ein Kommunist gewesen sei, noch gelinge es der Linken, sich angesichts der während der Revolution begangenen Gräueltaten wirklich mit ihr zu identifizieren. Noch weniger existiere ein nationaler Konsens über 1956. Und so glaubt Friss, dass die Revolution ohne ein allgemeines Einvernehmen hinsichtlich ihre Kernsubstanz nicht den ihr gebührenden Platz im nationalen Gedächtnis finden könne.
Ob diejenigen, die 1956 ihr Leben für die Unabhängigkeit und Freiheit geopfert hätten, wohl für etwas wie das heutige Ungarn gekämpft hätten?, fragt sich und seine Leser Szabolcs Szerető. Und er fragt weiter: Ob die Ungarn in den Wendejahren wohl davon ausgegangen wären, dass ihre Träume mit den im heutigen Ungarn herrschenden Verhältnissen erfüllt worden seien? In Magyar Hang räumt der Kommentator ein, dass „ein die Gewaltenteilung systematisch abschaffendes Regime“ in keiner Weise mit der offenen, sich auf eine ausländische Besatzung stützenden Diktatur verglichen werden könne, gegen die sich die Revolution erhoben habe. Dennoch glaubt Szerető nicht, dass die amtierende Regierung die Ideen von 1956 vertreten würde. Allerdings räumt er ein, dass die Oppositionsparteien dies ebenfalls nicht täten. Saubere Akteure, schreibt Szerető, seien nur außerhalb des Parlaments zu finden, zum Beispiel unter den Teilnehmern der Studentenproteste an der Theater- und Filmuniversität.
Zsuzsanna Borvendég wiederum ist davon überzeugt, dass das Erbe von 1956 im heutigen Ungarn lebendig sei. Jene Revolution, so erklärt die Historikerin in einem Beitrag für Magyar Nemzet, habe nicht die Vergangenheit zerstören wollen, wie bei klassischen Revolutionen üblich. Auch sei es ihr nicht um einen höheren Lebensstandard gegangen; vielmehr habe sich das ungarische Volk einfach nur von Fremdherrschaft und Unterdrückung befreien wollen. Borvendég wertet dies als Beweis dafür, dass die Ungarn – obwohl sie unter zwei einander folgenden totalitären Diktaturen gelitten hätten – „die Traditionen der Demokratie in ihren Genen tragen“.
(Via: budapost.de, Beitragsbild: MTI/Zoltán Balogh)