Der Chefredakteur einer regierungskritischen Wochenzeitung verspricht eine unparteiische Berichterstattung über die bevorstehenden Vorwahlen der Opposition. Ein enger Mitstreiter des Budapester Oberbürgermeisters und potenziellen oppositionellen Spitzenkandidaten Gergely Karácsony macht sich derweil Gedanken über die mögliche Rücknahme von politischen Maßnahmen des Kabinetts von Viktor Orbán. Schließlich reflektiert ein Politikwissenschaftler über die Verteilung der Machtverhältnisse zwischen Regierung und Opposition innerhalb des ungarischen Parteiensystems. Presseschau von budapost.de.
In seinem Leitartikel für die Wochenzeitung Jelen lobt Chefredakteur Zoltán Lakner den Budapester Oberbürgermeister Gergely Karácsony, weil dieser als möglicher Spitzenkandidat für die Parlamentswahlen im kommenden Jahr ein eigenes Programm vorgelegt hat. (Der Kommunalpolitiker muss sich allerdings erst einer oppositionsinternen Vorwahl stellen, bevor er im Frühjahr 2022 als Herausforderer von Vikor Orbán an den Start gehen kann – Anm. d. Red.)
Karácsony gebe sich urbaner als die einen, ländlicher als die anderen und in seinen Umgangsformen versöhnlicher als die dritten. Deutlich ziele er auf ein möglichst großes Publikum. Nichtsdestotrotz verspricht Lakner, seine Wochenzeitung werde im Vorwahlkampf keine Partei ergreifen und auch nicht darauf verzichten, die Akteure der Opposition zu kritisieren oder Kritik anderer an ihnen wiederzugeben.
Vielmehr müssten die Anhänger der Opposition Informationen über die Kandidaten erhalten, um ihre Auswahl treffen zu können. Andererseits, so fährt Lakner fort, „müssen wir jemanden wählen, der ersetzbar ist“, und nicht einen Ministerpräsidenten, der für immer im Amt bleibe. Deshalb dürfe die der Opposition zuneigende Presse keine Angst davor haben, die möglichen Schwächen der Kandidaten zu thematisieren. Seine Hauptsorge sei, ob sich die Wählerinnen und Wähler in ausreichender Zahl an der Vorwahl im kommenden Herbst beteiligen würden.
In einem Gastbeitrag für Heti Világgazdaság plädiert János Kis für eine Rückgängigmachung der von der Fidesz-Regierung in den letzten elf Jahren vorgenommenen Verfassungsänderungen, und zwar auch ohne die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Parlament. Allerdings würde der Gründungsvorsitzende des inzwischen aufgelösten Bundes Freier Demokraten (SZDSZ) und Mitinitiator der neuen Bewegung „99“ von Gergely Karácsony (siehe BudaPost vom 19. Mai) derartige Maßnahmen von der öffentlichen Stimmung abhängig machen.
Der liberale Philosoph stimmt mit jenen linken und liberalen Juristen überein, die behaupten, Ministerpräsident Orbán habe eine Autokratie geschaffen und deshalb seien alle Verfassungsänderungen und zentralen Gesetze, die das Parlament in den letzten zehn Jahren verabschiedet habe, nichtig. Kis ist sich so gut wie sicher, dass selbst im Falle ihres Wahlsieges die Opposition keine parlamentarische Zweidrittelmehrheit erreichen werde, die jedoch für die Rücknahme zentraler Gesetze sowie die Abberufung von Mitgliedern des Verfassungsgerichts, des Medienrats, der obersten Richter, des Oberstaatsanwalts und anderer wichtiger Beamter erforderlich sei.
Gewiss, die neue von der heutigen Opposition zu bildende Mehrheit würde durch die Missachtung gesetzlicher Normen in gewissem Maße ihr Projekt der „Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit“ gefährden, doch sei dies ein Preis, der sich für den „Regimewechsel“ zu zahlen lohne, betont Kis unter Berufung auf die Ansicht eines Rechtsexperten. Dennoch hegt er nach eigenem Bekunden Vorbehalte gegen diese Pläne, wenn auch eher aus politischen als aus juristischen Erwägungen. Kis befürchtet nämlich eine Gegenreaktion seitens des Fidesz. Und so hält er solche abrupten Veränderungen daher nur für machbar, wenn dafür eine breite Unterstützung in der Bevölkerung vorhanden sei.
Mandiner zitiert aus einer Studie des Politikwissenschaftlers Ervin Csizmadia, der auf der Webseite seiner Denkfabrik Méltányosság (Gerechtigkeit) schreibt: Über die politischen Divergenzen und Vorwürfe hinaus würden die Wahlen im nächsten Jahr darüber entscheiden, ob die Bevölkerung eher eine starke Regierungspartei oder eine Mehrparteienregierung bevorzuge.
Vor dem Ersten Weltkrieg und auch in der Zwischenkriegszeit sei die traditionelle ungarische Konstellation von einer dominierenden Regierungskraft geprägt gewesen, die sich heterogenen Oppositionsparteien gegenübergesehen habe. Nach der politischen Wende hätten sich die sechs Parlamentsparteien in eine rechtsorientierte Regierungsseite und eine linksliberale Opposition aufgefächert. In der Folge habe die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Art und Weise zugenommen, wie der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft gehandhabt worden sei. Im Ergebnis habe sie über die Hälfte der Parlamentssitze an die sozialistische Partei gegeben, was nach Csizmadias Interpretation bedeutet, dass sich das Wahlvolk eine starke Regierung gewünscht habe.
Vier Jahre später sei es aber noch immer unzufrieden gewesen. Auf diese Weise habe Viktor Orbán erstmals die Macht errungen – und zwar mit einer nur über eine hauchdünne parlamentarische Mehrheit verfügenden Koalitionsregierung. Wiederum vier Jahre später habe er die Wahl knapp verloren. Noch einmal vier Jahre später sei die sozialistisch-liberale Koalition wiedergewählt worden, was Csizmadia als den Versuch der Wähler interpretiert, eine Parteienkoalition mit der langfristigen Führung der Geschicke des Landes zu betrauen.
Als jedoch politische Fehler und Machtkämpfe sowie die Finanzkrise diese Koalition zu Fall gebracht hätten, habe der Fidesz die Chance auf Bildung einer Regierung ergriffen – eine Regierung stark genug, um eine ganze historische Ära zu überdauern. Der Versuch habe sich mit zwei weiteren aufeinanderfolgenden Wahlsiegen als erfolgreich erwiesen, womit das alte Politikschema mit einer dominanten Regierungskraft, die ungleichen Oppositionsparteien gegenüberstehe, auferstanden sei. Dieses Mal allerdings schienen sich diese Parteien mit dem Ziel der Machtübernahme zu vereinen. Den Sieg einer geeinten, aus kleinen Parteien bestehenden Opposition gegen die starke Regierungspartei habe es in der ungarischen Geschichte bisher nur einmal gegeben: 1905/06 – mit dem Ergebnis, dass die neue Regierung innerhalb eines Jahres auseinandergefallen sei. Trotzdem macht Csizmadia keine Vorhersagen über den Ausgang der Wahlen im nächsten Jahr oder über das Schicksal der möglichen neuen Regierung.
(Titelbild: MTI – Tibor Illyés)