Als Reaktion auf das Vertragsverletzungsverfahren, das die Europäische Kommission in Sachen LGBTQ eingeleitet hat, meint eine regierungsnahe Historikerin, dass der Streit demjenigen über asylsuchende Migranten in den späten 2010er Jahren ähneln würde. Ein linker Kommentator wiederum sucht nach politischen Motiven hinter dem „Kinderschutzgesetz“, das von der Europäischen Kommission als homophob eingestuft wird.
Am Donnerstag hat die Europäische Kommission Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Polen auf den Weg gebracht. Beiden Staaten wirft sie die Verletzung von Rechten Homosexueller vor. In Bezug auf Ungarn geht es um ein neues Gesetz, das Personen unter 18 Jahren den Zugang zu Inhalten untersagt, die Pädophilie, Pornographie, Abweichungen von der Eigenidentität gegenüber dem Geburtsgeschlecht, Geschlechtsumwandlung oder Homosexualität propagieren oder darstellen. Außerdem geht es um einen Disclaimer, der einem Kinderbuch mit LGBTQ-Inhalten auferlegt wird. (Im Hinblick auf Polen argumentiert die Kommission, dass die polnischen Behörden auf bestimmte Fragen nicht geantwortet hätten. Dabei geht es um die Art sowie die Auswirkungen der von mehreren polnischen Regionen und Gemeinden verabschiedeten Resolutionen über sogenannte „Zonen ohne LGBTQ-Ideologie“.) In seinem wöchentlichen Radiointerview erklärte Ministerpräsident Viktor Orbán am Freitagmorgen: „Brüssel missbraucht seine Macht, indem es uns seinen Willen aufzwingen will.“ Und er ergänzte: „Was auf dem Spiel steht, ist die Freiheit der Kinder und der Kindererziehung.“
In Magyar Hírlap vergleicht die Historikerin Irén Rab die aktuelle Kontroverse mit derjenigen, die um Asyl nachsuchende illegale Migranten ausgebrochen war. (Da Ungarn deren Bewegungen innerhalb seiner Grenzen nicht einschränken oder sie während der Bearbeitung der Anträge nicht knapp außerhalb der Landesgrenzen warten lassen darf, hatte Budapest beschlossen, Anträge nur noch über ungarische Konsulate im Ausland anzunehmen. Der Fall wurde von der Kommission an den Europäischen Gerichtshof verwiesen, der Ungarn wegen der Verletzung europäischer Werte verurteilte – Anm. d. Red.)
Diesmal, so schreibt Rab, gehe es um die Verteidigung der traditionellen Werte Ungarns, die auch im deutschen Grundgesetz verankert seien, wo sich das Konzept der traditionellen Familie wiederfinde. Gewiss, diese Definition werde von „Kinderrechtskriegern“ angegriffen. In beiden Konflikten, so Rab, gehe es jedoch um die Bewahrung der europäischen Zivilisation.
Auf der Webpräsenz der Wochenzeitschrift 168 Óra versucht Tamás Boros, das „Kinderschutzgesetz“ auf den Skandal um den ehemaligen ungarischen Botschafter in Lima zurückzuführen. (Der Diplomat war mit einer milden Strafe davongekommen, obwohl er Zehntausende pädophile Videos gespeichert hatte. Sie stammten aus seiner Mitgliedschaft bei einer von Pädophilen geschätzten Internettauschbörse – Anm. d. Red.)
Boros spekuliert nun, dass die ursprüngliche Version des „Anti-Pädophilen-Gesetzes“ den vom Skandal verursachten Schaden für das Image der Regierung habe abmildern sollen. (Die erste Fassung des Gesetztes hatte für pädophile Handlungen deutlich härtere Strafen vorgesehen – Anm. d. Red.)
Die Paragraphen über die Propagierung und Darstellung von LGBTQ wurden laut Boros zu einem Zeitpunkt hinzugefügt, als die Opposition im Fahrwasser von Autobahnprivatisierungsplänen und der geplanten Errichtung eines Campus für die chinesische Fudan-Universität in Meinungsumfragen Aufwind hatte. Er vermutet jedoch, dass der von der Regierung für dieses Manöver möglicherweise zu zahlende Preis höher als erwartet ausfallen könnte. Boros verweist auf das ungarische Corona-Wiederaufbauprogramm. Die Verabschiedung der entsprechenden Finanzhilfen werde von der EU-Kommission auf die lange Bank geschoben.
via Budapost.de, Beitragsbild: MTI/Zoltán Balogh