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„Der Bundeskanzler hegt die Vorstellung, dass Orbán sein Land zu einem autokratischen Staat umformte“

Ungarn Heute 2022.04.28.

„Von der Leyen und ihr Umfeld, ebenso die SPD und ihr Bundeskanzler, hegen die Vorstellung, dass Viktor Orbán sein Land von einer blühenden Demokratie, wo es regelmäßige Machtwechsel gegeben hat, zu einem autokratischen Staat mit als bloß frei erscheinenden Wahlen umgeformt hat. Und einem Halbdiktator gratuliert man höchstens dann, wenn es sich aus außenpolitischen Gründen gar nicht mehr vermeiden lässt“ sagt der deutsche Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt gegenüber unserem Portal. Wir haben ihn auch darüber befragt, ob Ungarns Ministerpräsident dabei einen Fehler begangen hat als er über die illiberale Demokratie redete. Wir erkundigten uns bei ihm auch über den Rechtstaatsmechanismus und baten ihn, eine Definition des „Rechtsstaats“ zu geben. Außerdem fragten wir ihn über die angebliche Gender-Lobby in Europa bzw. in Ungarn. Der Politikwissenschaftler gab uns gegenüber zu, dass er nach Ungarn kam mit der Absicht herauszufinden, was von den in Deutschland kursierenden Ungarnbildern wohl stimmt oder nicht stimmt, und  desgleichen, woher die Unterschiede zwischen Tatsächlichem und Berichtetem kommen. Interview. 

„Wir haben einen Sieg errungen, der so groß ist, dass man ihn vom Mond aus sehen kann, aber von Brüssel aus ganz sicher“ sagte Ministerpräsident Viktor Orbán in der Wahlnacht. Hat man es auch von Deutschland aus gesehen?

In Deutschland bemühte man sich nach Kräften, die Größe und das Spektakuläre an diesem wiederholten Wahlsieg möglichst zu übersehen oder als nebensächlich hinzustellen. Hingegen wären die Schlagzeilen riesig gewesen, hätten sie gelautet:  ‚Das ungarische Volk befreit sich von der Orbán-Diktatur‘. So aber waren viele peinlich davon berührt, dass die Ungarn der in deutschen und westlichen Medien erhobenen Forderung gerade nicht gefolgt sind, die Zeit der Fidesz-Regierung zu beenden. Dass es dazu nicht kam, verstehen viele in Deutschland wirklich nicht – vermutlich, weil sie zu wenig von der Innenpolitik Ungarns wissen und begreifen.

Ja, das sind die Medien. Ich denke aber eher an den Bundeskanzler und an die Präsidentin der Europäischen Kommission; die selbst eine Deutsche ist. Scholz hat erst fast drei Wochen nach den Wahlen, am 22. April in einer Pressemitteilung gratuliert, Ursula von der Leyen hat dies immer noch nicht getan. Warum?

Von der Leyen und ihr Umfeld, ebenso die SPD und ihr Bundeskanzler, hegen die Vorstellung, dass Viktor Orbán sein Land von einer blühenden Demokratie, wo es regelmäßige Machtwechsel gegeben hat, zu einem autokratischen Staat mit als bloß frei erscheinenden Wahlen umgeformt hat. Und einem Halbdiktator gratuliert man höchstens dann, wenn es sich aus außenpolitischen Gründen gar nicht mehr vermeiden lässt.

Der ungarischen Opposition hätte man bei einem Wahlsieg hingegen mit großer Freude gratuliert.

Freilich hat zu diesem tief verwurzelten Glauben, Ungarn sei auf dem falschen Weg, auch Ministerpräsident Orbán beigetragen, seit er erklärte und auch mehrfach wiederholte, er wolle in Ungarn keine liberale Demokratie haben, sondern eine illiberale Demokratie. Dieser Begriff bezeichnet in westlichen politischen Diskursen nun einmal eine bestenfalls defizitäre Demokratie, üblicherweise eine Halbdiktatur. Was Viktor Orbán wirklich meinte, wird zwar klar, wenn man die innerungarischen Diskurszusammenhänge kennt und jene berühmt gewordene Rede von Tusnádfürdö aus dem Jahr 2014 nachliest. Doch das tut in der ungarnkritischen westlichen Öffentlichkeit niemand. Also hält man Viktor Orbán für den Totengräber der ungarischen Demokratie – und einen solchen mag man in der Europäischen Union natürlich nicht akzeptieren. Und weil sich Deutschland lange Zeit als moralische Großmacht aufspielte, betätigte es sich bei der Herabsetzung Ungarns und seiner Regierung eben besonders eifrig.

Fact

Werner Josef Patzelt ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Er beschäftigt sich in seinen Forschungen hauptsächlich mit der vergleichenden Analyse politischer Systeme, der Parlamentarismusforschung, direkter Demokratie, der politischen Kommunikation, der vergleichenden historischen Analyse politischer Institutionen sowie evolutionstheoretischen Modellen in der Politikwissenschaft. Er lehrte außerhalb des deutschen Sprachraums an der Pariser EPHE, an der High School of Economics in Moskau sowie bei IPSA-Sommerschulen in Stellenbosch, Ankara, Mexiko-Stadt und St. Petersburg. In 2021/22 ist Patzelt Gastprofessor am Mathias-Corvinus-Collegium in Budapest.

Wurde dieser Begriff „illiberale Demokratie“ denn in Deutschland missverstanden?

In Deutschland wird dieser Begriff gerade so verstanden, wie man ihn in westlichen politischen und auch politikwissenschaftlichen Diskursen verwendet. Dort ist eine ‚illiberale Demokratie‘ eine defizitäre Demokratie dahingehend, dass es zwar Wahlen gibt, dass aber weder die Medienfreiheit noch die Unabhängigkeit der Gerichte gewährleistet ist, sondern dass alles gerade nach jener Formel abläuft, die einst der kommunistische Diktator Walter Ulbricht verwendete: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“

Also war es höchst unglücklich, dass der ungarische Ministerpräsident, obwohl er etwas sehr anderes sagen wollte, mit seiner Rede von der ‚illiberalen Demokratie‘ die Vorlage für einen Schuss ins eigene Tor geliefert hat.

Ist es Ihrer Meinung nach vorstellbar, dass ein Politiker einen solchen Begriff anders versteht und benutzt…. Wenn ja, war es ein Fehler von Viktor Orbán?

Die Erfahrung lehrt, dass nicht nur beim Fußball ein kluger Gegner alles nutzt, was ihm Feldvorteile verschaffen kann. Deshalb war zu erwarten, dass jene, die Ungarn oder die Fidesz-Regierung nicht mögen, gerade einen sich dafür wirklich anbietenden Begriff wie den der ‚illiberalen Demokratie‘ möglichst so verstehen oder jedenfalls so auslegen würden, dass er ihnen dabei hilft, Ungarn samt seinem Ministerpräsidenten zu kritisieren oder herabzusetzen. Also war es ein Fehler, dem politischen Gegner ohne Not eine solche Vorlage zu liefern. Anschlussfähig an deutsche Debatten wäre es etwa gewesen, das Ziel einer wertgebundenen Demokratie mit Inhalten wie Familie, Nation und christlicher Kultur dem Werterelativismus sowie einem Wirtschaftsliberalismus entgegenzusetzen, bei dem ein jeder einfach tut, was er will, und sich am Ende dann der Stärkere durchsetzt. Als Fußballspieler weiß Viktor Orbán freilich auch, dass man einen missglückten Pass, der dem Gegner einen Torschuss ermöglichte, nicht mehr rückgängig machen kann. Man muss sich dann eben neue, eigene Torchancen erarbeiten. Innenpolitisch ist das ja auch gelungen.

Fot: Mihály Molnár, MCC

Weniger als zwei Tage nach den Wahlen kündigte Ursula von der Leyen an, das Rechtsstaatlichkeitsverfahren der EU gegen Ungarn einzuleiten. Das ist eigentlich die Fortsetzung des Streits über die illiberale Demokratie. In der Argumentation der ungarischen Regierung kommt es oft vor, dass Rechtsstaatlichkeit kein definierbares Konzept ist. Könnten Sie es doch für uns definieren?

Ein Rechtsstaat, so wie dieser Begriff in deutschen Debatten verwendet wird, ist ein Staat, in dem alles staatliche Handeln an Rechtsnormen gebunden ist, und in dem die Rechtsnormen selbst nicht willkürlich erlassen werden, sondern nur entlang von Regeln, die eine faire, von einer breiten Bevölkerungsmehrheit getragene Verfassung dafür vorsieht.

Zugespitzt: Eine Regierung darf nicht nach eigenem Belieben Verfassungsänderungen herbeiführen oder jene Richter ins Amt bringen können, welche dann über die Einhaltung verfassungsrechtlicher oder gesetzlicher Regeln zu wachen haben.

Indem ich die Sache so darlege, wird sehr deutlich, wo bzw. warum in deutschen und westlichen Debatten die Rechtsstaatlichkeit Ungarns angezweifelt wird. Und natürlich wird ein solches Rechtsstaatsverfahren, wie zuvor schon die Drohung mit ihm, auch dafür genutzt, um an Ungarn ein Exempel zu statuieren, nämlich nach dem Motto: „Was europäisch ist, das bestimmen wir – und nicht Osteuropäer mit einem, im Vergleich mit uns, unzulänglichen kulturellen Hintergrund!“

Kann es in Europa unterschiedliche Begriffe oder Gedanken über die Rechtsstaatlichkeit geben? Also gibt es einen Begriff, der in Deutschland herrscht, aber in Ungarn anders gemeint wird?  

Tatsächlich ist es so, dass in einem Kontinent mit so vielen unterschiedlichen Politiktraditionen, Rechtstraditionen und geistigen Traditionen wie unserem Europa natürlich auch die Begriffe der politischen und rechtlichen Sprache nicht überall dieselben sind. Also lautet die Anschlussfrage: Was machen wir in einer solchen Lage? Dürfen wir unterschiedliche Leitideen und Begriffe nebeneinander stehen lassen – oder müssen wir das vereinheitlichen? Und dann schließt sich auch noch die Frage an: Anhand welcher Kriterien wollen wir beurteilen, was zu vereinheitlichen ist, oder was nebeneinander bestehen bleiben kann?

In der Praxis ist es dann so, dass wir in Deutschland überhaupt kein Problem damit haben, die angelsächsische Konzeption der „Rule of Law“ neben unseren, durchaus anders akzentuierten Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit bestehen zu lassen.

Die Leitidee ist nämlich dieselbe, und in den Begriffsunterschieden werden einfach unterschiedliche geschichtliche Entwicklungen oder Erfahrungen fassbar. Entlang dieser Denkweise sollte man auch mit anderen als westlichen Rechtstraditionen verfahren. Doch in Bezug auf Ungarn hat sich die westliche Öffentlichkeit nun einmal darauf festgelegt, dass alles das, was eine Fidesz-Regierung tut, unter Generalverdacht zu stellen ist. Also kommt man Ungarn am besten wie ein Schulmeister einem aufsässigen Schüler. Und bessert sich der nicht, dann muss man ihn eben in die Ecke stellen oder vor die Tür weisen.

Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn gestartet, wir könnten sogar EU-Gelder verlieren
Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn gestartet, wir könnten sogar EU-Gelder verlieren

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte den Schritt bereits Anfang April angekündigt, also kurz nach der Wiederwahl des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán. Weiterlesen

Sie haben unter anderem die Justiz erwähnt. Aber immer wieder kommt die Frage auch vor, dass in Ungarn die Situation der Medienfreiheit nicht gut ist. Unser Kanzleramtsminister sagt oft zum Beispiel, dass in Ungarn immer noch eine buntere Medienlandschaft herrscht als in Deutschland. Teilen Sie diese Meinung, vielleicht kennen Sie auch schon die ungarische Medienlandschaft besser…

Hier muss man mindestens drei Gesichtspunkte berücksichtigen. Erstens hat die Fidesz-Regierung 2010 ganz absichtlich damit begonnen, die von ihr – zu Recht oder Unrecht – wahrgenommene linke Hegemonie im Medienbereich zu beseitigen. Inzwischen ist, so die Sichtweise von Fidesz, endlich Waffengleichheit hergestellt. Aus der Warte der ungarischen Opposition nimmt sich das aber, selbstverständlich, als Entmachtung ihrer medialen Unterstützer aus.

Zweitens scheint es so zu sein, dass die ungarische Opposition – sehr stark im Grunde nur in Budapest und wenigen weiteren Städten – ihre innenpolitische Machtlosigkeit dadurch zu kompensieren versucht, dass sie sich mit internationalen Journalisten vernetzt und deren Berichterstattung dann als Ressource ihres innenpolitischen Wettbewerbs einsetzt.

Tatsächlich können viele Journalisten, die über Ungarn berichten, nicht selbst Ungarisch, weshalb sie insbesondere nach Budapest reisen, um sich über die Lage in Ungarn von solchen Leuten informieren zu lassen, die – wie in Budapest üblich – sehr gut Englisch oder Deutsch sprechen. In Budapest findet man freilich auch besonders viele Gesprächspartner, die oppositionellen zivilgesellschaftlichen Organisationen oder oppositionsfreundlichen Medien angehören.

Also zeigt sich ein Wirkungskreislauf, bei dem oppositionelle Sichtweisen – etwa: ‚Wir sind von Orbán unserer Meinungs- und Medienfreiheit beraubt worden!‘ – ziemlich unmittelbar in die internationale Wahrnehmung Ungarns eingespeist werden; und von dorther werden sie dann als „objektive Beschreibungen ausländischer Beobachter“ in die innerungarischen Diskurse übernommen. Weil Journalisten außerdem besonders sensibel für Medienthemen sind, kommt bei ihrem Bemühen um differenzierte Lagebeurteilung dann leicht heraus: „Unsere ungarischen Gesprächspartner berichten, dass sie zwar durchaus noch ihre Meinung äußern können und sich dadurch nicht in persönliche Gefahr bringen; doch sie verbauen sich ihre Karrieremöglichkeiten, wenn sie nicht den Wünschen der Orbán-Regierung entsprechen!“

Drittens ist es nicht dasselbe, ob ein Staat und dessen Regierung das Mediensystem vermachtet, indem etwa Kontrollbehörden eingerichtet werden, die man mit Parteigängern besetzt, oder ob sich Journalisten sozusagen selbst gleichschalten. Das nämlich erleben wir in Deutschland. Dort zeigen empirische Journalistenuntersuchungen seit vielen Jahren, dass zwei Drittel bis drei Viertel der Medienleute den Sozialdemokraten, vor allem den Grünen, bisweilen auch der Linken zuneigen

Unter den Volontären, die bei der ARD anfingen, zeigte vor kurzer Zeit eine Umfrage, dass nicht weniger als 90 Prozent die Grünen, ein Teil auch die SPD wählen wollten. Und natürlich können sie alle in völliger Meinungs- und Medienfreiheit schreiben oder senden. Für jene wenigen Journalisten hingegen, die sich als rechts der politischen Mitte empfinden, fühlt sich diese Lage etwa so an wie die einer einzigen Frau, die abends in eine Gruppe von Machos geraten ist.

Als Folge all dessen fehlen für jene vielen Leser, Zuhörer und Zuschauer, die ihrerseits nicht grün oder sozialdemokratisch sind, genau jene medialen Positionen, in denen sie sich selbst wiederfinden könnten. Also stellt sich für sie eine objektiv freie Medienlandschaft wie ein links-grüner Medienblock dar. Der entstand zwar nur deshalb, weil die meisten deutschen Journalisten nun einmal linksgrün sind oder sich so geben wollen. Doch aus der Warte vieler Mediennutzer nimmt sich dieses Ergebnis freier – wenn wohl auch oft opportunistischer – Positionsnahmen gerade so aus, als wäre es aufgrund mangelnder Medienfreiheit zustande gekommen. Natürlich greifen dann viele zu alternativen Medien rechts der politischen Mitte, ob das nun ‚Tichys Einblick‘ oder die ‚Junge Freiheit‘ ist. Doch wer das offen tut, der wird gerne so behandelt, als habe er sich an Pornographie vergriffen.

In solchen Zusammenhängen tätig, haben deutsche Journalisten, vor allem solche links der politischen Mitte, verständlicherweise den Eindruck, in Deutschland gäbe es sehr wohl – und ja auch tatsächlich – Medienfreiheit, in Ungarn hingegen nicht. Und weil Journalisten links der Mitte in Deutschland wirklich mehr öffentliche Wirkung erzielen als in Ungarn, liegt für sie der Schluss besonders nahe, das läge an deutscher Freiheit im Gegensatz zu ungarischer Zensur.

Sie haben staatliche Medien erwähnt. Gibt es das Problem nicht gerade hier? Bei den staatlichen Medien? Wie sieht das in Deutschland aus? In Ungarn übt die regierende Macht die Macht auf die staatlichen Medien hundertprozentig aus. Sollte das nicht verändert werden?

Es sollte schon so sein, dass Medienleute den Inhabern politischer Macht kritisch gegenüberstehen – ganz gleich, wer das jeweils ist. Keineswegs ist es Aufgabe von Journalisten, die Machtmöglichkeiten der Regierenden einfach zu verstärken.

Ein großer deutscher Journalist brachte das einmal auf die Formel: Ein Journalist hat sich mit keiner Sache gemein zu machen – auch nicht mit einer guten. Doch in Deutschland haben wir, aus geschichtlich leicht zu begreifenden Gründen, schon seit dem 19. Jahrhundert die Tradition des sogenannten ‚anwaltschaftlichen Journalismus‘. Heute meint das: Journalisten sollen sich in den Dienst von Demokratie, Menschenrechten und des Friedens stellen. Doch wird das nicht am besten dadurch getan, dass man die entsprechenden Maßnahmen einer Regierung tatsachengetreu beschreibt, anhand des Wissens über reale Zusammenhänge kritisiert sowie anhand sichtbar gemachter, verallgemeinerungsfähiger Wertmaßstäbe einordnet? An diesen drei Dingen hapert es im deutschen Mediensystem seit längerem sehr.

Umfrage: Mehrheit der Ungarn sagt, dass die Presse in Ungarn nicht frei ist
Umfrage: Mehrheit der Ungarn sagt, dass die Presse in Ungarn nicht frei ist

Eine Umfrage über die Pressefreiheit in Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik und der Slowakei hat ergeben, dass mehr als die Hälfte der Befragten über den Zustand der Pressefreiheit besorgt sind.Weiterlesen

Noch eine Frage zur Rechtsstaatlichkeit. Die ungarische Regierung sagt immer wieder, dass es bei dieser Debatte ausschließlich um das ungarische Kinderschutzgesetz geht. Wie sehen Sie das? Gibt es wirklich eine so starke Gender-Lobby, sowohl in Deutschland als auch in ganz Europa, die uns gefährden würde und wäre es nicht angemessener gewesen, wenn die Regierung in diesem Gesetz die Frage des Kinderschutzes bzw. Pädophilie und der angeblichen Gender-Lobby sozusagen getrennt behandelt hätte?

In Deutschland, und vermutlich in anderen westlichen Staaten auch, sind die Inhalte des ungarischen Kinderschutzgesetzes im Grunde gar nicht bekannt. Also nahm man schlicht das Folgende wahr: Ungarn verbietet Homosexualität, Tansgender und alles, was damit in Verbindung zu stehen scheint. Weil aber LGBTQ-Rechte eine große Errungenschaft sind, stellt man zugleich fest, dass sich Ungarn wieder einmal auf einem völlig falschen Wege befindet. Also tut wirklich Gutes, wer Ungarn in dieser Lage lautstark kritisiert, bis hin zur – auch gerade so gemeinten – Beleidigung, dass man beim letzten Fußballländerspiel zwischen Deutschland und Ungarn demonstrativ Regenbogenfahnen aufzog.

10.000 Regenbogenfahnen am Münchner EM-Stadion verteilt
10.000 Regenbogenfahnen am Münchner EM-Stadion verteilt

In Ungarn werden hingegen mehrere Stadien während des heutigen EM-Spiels in München mit den ungarischen Nationalfarben rot-weiß-grün beleuchtet.Weiterlesen

Allerdings geht es bei alledem viel weniger um einen Einfluss von LGBTQ-Aktivisten, sondern um das Streben nach möglichst weithin sichtbarer politischer Korrektheit. Es gilt im deutschen politischen Diskurs nun einmal als allzeit erforderlicher Nachweis für Liberalität, Weltoffenheit und Fortschrittlichkeit, sich regelmäßig für LGBTQ-Rechte einzusetzen

Weil obendrein Liberalität, Weltoffenheit und Fortschrittlichkeit in Deutschland wichtige Prestigesymbole sind, kommt es immer wieder zu einem Überbietungswettbewerb beim Praktizieren dieser politischen Tugenden. Und wenn man das noch mit Widerstand gegen das fürchterliche Orbán-Regime verbinden kann: umso besser!

Regierung: "Es geht um das Kinderschutzgesetz, nicht um Rechtsstaatlichkeit"
Regierung:

"Wir werden nie ein Problem damit haben, dass die Unabhängigkeit der Justiz in Frage gestellt wird, aber dass die Ehe zweier Männer erlaubt oder verboten wird, kann nicht in Frage gestellt werden" so der Kanzleramtsminister. Weiterlesen

Bestand das Hauptproblem nicht darin, dass es am Anfang dieses Gesetzes noch über die Pädophilie ging. Und dann wurden eigentlich diese beiden Themen miteinander vermischt?

Es entstand zumindest der Eindruck, die ungarische Regierung handele ausgehend von der Annahme, dass jeder Homo- oder Transsexuelle schlichtweg eine Bedrohung für Kinder sei. Sachlich ist das natürlich Unfug. Wenn aber – so die in Deutschland verbreitete Sichtweise – die ungarische Regierung solchen Unfug gar noch in Gesetzesform bringt, dann zeigt das doch, welcher Ungeist in der sie tragenden Parlamentsmehrheit herrscht. Also muss, wieder einmal, ein Zeichen gesetzt werden.

Sie haben am Anfang unseres Gesprächs die illiberale Demokratie erwähnt. Es gab eine andere Bruchstelle in den Beziehungen zwischen Angela Merkel und Viktor Orbán. Das war gerade in der Amtszeit von Angela Merkel als Orbán über die illiberale Demokratie gesprochen hat, und dann kam später die Migrationsfrage noch dazu. Es gab zwei ganz unterschiedliche Standpunkte in dieser Frage: Willkommenskultur auf der einen, Zaun auf der anderen Seite. Wie sehen Sie das? Könnten diese beiden Fragen immer noch auf der Tagesordnung zwischen Scholz und Orbán stehen?

Das Migrationsthema steht natürlich weiterhin auf der Tagesordnung. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten wird es nämlich aufgrund von Staatszusammenbrüchen, Kriegen, wirtschaftlichen Entwicklungsproblemen und Klimawandel zu jeder Menge von Migrationsbewegungen kommen, die Europa sehr betreffen. In Deutschland ist allerdings das Migrationsthema durch Journalisten – wohl nicht ohne Absicht – in den Hintergrund gedrängt worden. Das geschah durch die wuchtvolle Thematisierung von Klimawandel und Klimapolitik, dann der Corona-Krise und inzwischen des Kriegs in der Ukraine. Bezeichnenderweise verwies eine deutsche Spitzenpolitikerin unlängst darauf, jetzt kämen auch „wirkliche“ Flüchtlinge.

Hier wird einmal mehr Deutschlands innenpolitischer Konflikt um die Migrationspolitik sichtbar. 2015/16 war nämlich die Betonung der Willkommenskultur auch ein wichtiges innenpolitisches Kampfmittel, und zwar gegen jene, die davor gewarnt hatten, eine grenzenlose Offenheit Deutschlands für Geflüchtete könne die deutsche Sozialstaatlichkeit überfordern. Das durfte nicht wahr sein. Also musste man solche Bedenken als rechtspopulistische Phobien hinstellen

Obendrein verband sich hier Innenpolitisches mit Außenpolitischem. Ungarns Regierung, die ohnehin schon seit 2010 unter dem Verdacht stand, Demokratie und Freiheit zu unterdrücken, konnte man jetzt leicht zur Verbündeten des zu bekämpfenden deutschen Rechtspopulismus erklären. Tatsächlich tat Ungarn genau das, was gerade Dresdens Pegida und Deutschlands AfD damals forderten. Also konnte man nun gleich zwei üble Gegner mit denselben Argumenten bekämpfen. Jedenfalls war damals für alle ‚anständigen Deutschen‘ völlig klar, dass Ungarns Migrationspolitik sowohl rechtspopulistisch als auch sachlich falsch war.

Die Pointe ist deshalb, dass sogar einer der schärfsten deutschsprachigen Kritiker der Fidesz-Regierung, nämlich wie der österreichische Journalist Paul Lendvai, in seinem gerade neu aufgelegten Buch über „Orbáns Ungarn“ schrieb: „Leider hatte Orbán recht“. Tatsächlich ist die jetzige Politik der Europäischen Union im Wesentlichen jene, die Viktor Orbán damals gegen großen Widerstand eingeleitet hat. Abzuwarten bleibt, ob sich Ähnliches auch bei anderen derzeit heftig abgelehnten ungarischen Politiken zeigen mag.

Sie haben kürzlich auch den Ukraine-Krieg erwähnt. In den vergangenen Wochen wurden Deutschland und Ungarn gleichzeitig vom Präsidenten der Ukraine kritisiert, weil seiner Ansicht nach Ungarn und Deutschland nicht genügend starke Sanktionen im Bereich Energiesektor verhängen würden oder wollen. Ist das strategisch gesehen eine gute und auch absichtliche Entscheidung, dass diese beiden Länder den gleichen Standpunkt vertreten?

Die meisten Deutschen wären peinlich berührt, würde man ihnen sagen, sie verträten in Sachen Ukrainekrieg im Wesentlichen die ungarische Position. Die lautet: Wir wollen auf keinen Fall in den Krieg hineingezogen werden, dürfen ihn nicht sich ausweiten lassen, und müssen bedenken, dass wir energiepolitisch weitgehend von Russland abhängig sind. Deutschlands energiepolitische Abhängigkeit von Russland wurde im Übrigen ganz und gar von Deutschland selbst verursacht.

Anders als Ungarn hat Deutschland freilich keine bilateralen Spannungen mit der Ukraine, denn dort gibt es keine sonderliche deutsche Minderheit, um deren Interessen sich Deutschlands Regierung sorgen müsste. Gemeinsam haben Deutschland und Ungarn, dass sie sich beide möglichst aus dem Krieg heraushalten wollen, was freilich im Fall von Deutschland aufgrund seiner innereuropäischen Machtstellung viel schwieriger ist als für Ungarn

Umgekehrt versteht man schon auch den ukrainischen Präsidenten. Er kämpft verzweifelt darum, einen Sieg über sein Land abzuwenden, und versucht, so viel ausländische Hilfe wie möglich zu mobilisieren. Wenn ukrainische Politiker sich dabei bisweilen im Ton vergreifen, dann soll das bitte vor allem der kritisieren, der ebenfalls gerade um sein Überleben kämpft!

Was sagen Sie, wird Budapest oder Berlin in dieser Frage nachgeben, was die Sanktionen gegen den Energiesektor betrifft. Können diese beiden Länder dazu gezwungen werden, seitens der Europäischen Union?

Man wird Deutschland nicht dazu zwingen können, sehenden Auges seine – nicht nur chemische – Industrie zu ruinieren. Immerhin hat Deutschlands Außenministerin unlängst erklärt, man wolle zum Ende des Jahres von russischen Öllieferungen unabhängig sein. Doch bei Öl geht das leichter als bei Erdgas, weil man dabei nicht an bestehende Leitungssysteme gebunden ist. Im Übrigen ist es interessant, das bei der Energiepolitik so lange so selbstherrliche Deutschland jetzt in der Rolle eines Bittstellers zu sehen, nachdem es die europäische Solidarität in so vielen Dingen so lange Zeit strapaziert hat. Doch freilich weiß ein jeder in Europa auch, dass es der ganzen EU schlecht ergehen wird, sobald die deutsche Wirtschaft schwächelt. Also kann sich Deutschland auch vieles an Solidarität gleichsam ertrotzen.

Dann ist das nun eine politische Rede oder wird dann die Europäische Union irgendwann diese Entscheidung treffen, sich von russischem Gas unabhängig zu machen und hundertprozentige Sanktionen gegen den russischen Energiesektor zu verhängen?

Die Grundentscheidung ist getroffen, dass man sich so bald wie möglich so weit wie möglich von russischen Energielieferungen unabhängig machen will. Die Frage ist nur, wie man das ohne allzu große Selbstschädigung hinbekommen kann, d.h. ohne große Teile der Wirtschaft lahmzulegen, Arbeitslosigkeit zu erzeugen, das Steueraufkommen zu minimieren und sich so um weitere politische Gestaltungsmöglichkeiten zu bringen.

Im Übrigen ist inzwischen sogar den einst glühenden Verfechtern von Nord-Stream-2 klar geworden, dass es nicht viel Sinn macht, jeden Tag mit Milliardenbeträgen die Rüstungsindustrie eines Angriffskriege führenden oder androhenden Russlands zu finanzieren.

Zwischen Ungarn und Deutschland gibt es traditionell sehr enge wirtschaftliche Beziehungen. Deutsche Unternehmen beschäftigen Zehntausende von Menschen in Ungarn. Es wird oft als ein Bezugspunkt bei Streitigkeiten zwischen uns herangezogen, in dem gesagt wird, dass die wirtschaftlichen Beziehungen die Deutschen nachsichtiger gegenüber Kritik an der ungarischen Regierung machen. Was würden Sie sagen? Ist das wirklich ein Bezugspunkt in den Debatten? Kritiker sagen, dass Ungarn in vielen Bereichen sehr abhängig von Deutschland ist. Kann es passieren, dass diese deutschen Unternehmen über Nacht das Land verlassen?

Angesichts des Zusammenbruchs internationaler Lieferketten infolge der Corona-Pandemie, auch angesichts der Unterbrechung internationaler Lieferströme durch die Sanktionen gegen Russland, kann die deutsche Wirtschaft sehr glücklich über jedes Land sein, bei dem eine Unterbrechung von wirtschaftlicher Zusammenarbeit nicht zu befürchten ist. Ungarn, traditionell deutschfreundlich, gehört zu diesen Ländern. Leider neigen manche in Deutschland, auch wegen des Übergewichts unseres Landes beim Umgang mit Ungarn, zu einer gewissen Arroganz. Weniger gilt das zwar für den Bereich der Wirtschaft, sehr wohl aber für den der Politik. Besser wäre es, gegenüber Ungarn und anderen im Vergleich zu Deutschland kleineren Staaten gerade nicht in einer Haltung arroganter Übermacht aufzutreten. Da war der frühere Bundeskanzler Kohl viel klüger, als er es zur deutschen Staatsräson erklärte, die Interessen unserer nicht ganz so großen Nachbarn sehr ernst zu nehmen und stets zu respektieren.

Wenn Sie tippen sollten, wann und wo wird das erste offizielle Treffen zwischen Olaf Scholz und Viktor Orbán stattfinden?

Das kann ich nicht vorhersehen. Der deutsche Kanzler hat jetzt erst einmal die Ampel-Koalition durch den Ukrainekrieg und durch dessen Anschlussprobleme zu bringen. Dann muss noch jahrelang die Bundeswehr ausgebaut und an Deutschlands allzu unbedachter Energiewende gebastelt werden. Auch stellt sich vielleicht bald schon die Frage: Wie lange erträgt eigentlich die SPD noch einen Kanzler, der von bisheriger SPD-Politik so weit abrückt? Und wie lange hält dann diese Koalition? Ein Bundeskanzler jedenfalls, der unter so großen Bedrängungen steht, hat auf seiner Agenda gewiss Vordringlicheres als den Besuch in einem Land, dessen politische Richtung er ohnehin nicht mag.

Sie leben seit mehr als einem halben Jahr hier in Ungarn. Gibt es etwas, das Sie in diesen sechs Monaten an uns Ungarn besonders überrascht hat? Egal, ob es sich um irgendwelche Bräuche oder politische Eigenheiten handelt.

Nachdem ich vor meinem Aufenthalt hier keine festgefügten Vorstellungen über Ungarn hatte, konnte ich auch keine Überraschungen erleben. Ich kam her mit der Absicht herauszufinden, was von den in Deutschland kursierenden Ungarnbildern wohl stimmt oder nicht stimmt, und desgleichen, woher die Unterschiede zwischen Tatsächlichem und Berichtetem kommen. Also habe ich nun etliche Monate dafür genutzt, durch viele Gespräche und durch umfrangreiche Lektüre mir ein möglichst zutreffendes Bild von Ungarn zu machen, von der Prägung Ungarns durch seine Geschichte, auch durch seine Umgestaltung seit 2010. Das alles schreibe ich gerade in einem Buch über Ungarn nieder. Und dabei merke ich, wie sehr ich dieses Land und seine Kultur zu schätzen gelernt habe.

Haben Sie auf diese Fragen Antworten bekommen?

Ja. Ich weiß nun, was am deutschen – gerade auch medialen – Ungarnbild stimmt bzw. eben nicht stimmt.

Und was stimmt und was stimmt nicht?

Es stimmt nicht, dass Ungarn eine Halbdiktatur ist. Es stimmt, dass Ungarn eine gespaltene politische Kultur hat. Dabei unterscheidet sich das, was sich in der Hauptstadt Budapest selbstverständlich, sehr stark von dem, was landesweit empfunden wird. Es ist ferner so, dass Ungarns Opposition über ihre internationalen Vernetzungen die Hebel ausländischer Medien und zivilgesellschaftlicher Organisationen für ihr innenpolitisches Ringen einzusetzen versucht. Das verschafft ihr bei ungarischen Wahlen zwar keine Vorteile, verdüstert aber Ungarns internationales Bild. Das ist eine sehr ungute Situation. Und leider haben Ungarns Regierung und Opposition bis heute keinen Weg gefunden, miteinander zu konstruktiven Beziehungen zu gelangen.

(geschrieben von Zsófia Nagy-Vargha, Fotos: Mihály Molnár – Mathias Corvinus Collegium)