Sieben Roma-Kinder zwischen 8-10 Jahren sitzen im kleinen Raum mit einer Lehrerin zusammen. Sie üben, Vokale in Wörtern zu identifizieren. Das dient als Vorbereitung fürs Schreiben und Lesen. Die Kinder – fast 50 – kommen aus der Ukraine. Sie sind in fünf Gruppen, nach Altersklassen und Lernbedürfnissen eingeteilt. Alle Kinder sind Roma, sie sind Geflüchtete aus dem Krieg, und fanden Zuflucht im vornehmen Stadtteil der Hauptstadt, in Auwinkel (Zugliget).
Die Kommunalverwaltung stellte die Räumlichkeiten eines Altersheimes den Geflüchteten Romas zur Verfügung. Die katholische Kirchengemeinde Heilige Familie in der Nachbarschaft wurde angesprochen, den Kindern Beschäftigung zu organisieren. Seit März bieten sich Pädagogen, Psychologen, Sozialarbeiter, Pfadfinder, Studenten an, und geben ganztägige Beschäftigung für die Kinder.
Diese Roma kommen aus bitterer Armut, die für uns hier in Ungarn bekannt ist, jedoch anders, als hierzulande gewohnt. Diese Armut ist durch Analphabetismus gekennzeichnet. Nicht nur die Mehrheit der Kinder kann weder lesen noch schreiben, sogar ihre Mütter sind ohne regelmäßigen Schulbesuch aufgewachsen. Für diese Mütter bedeutet Zukunft, was gibt es heute zu essen, und was kann ich morgen meinen Kindern geben.
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Szilvia Moldovan, Pädagogikprofessorin der Péter Pázmány Katholischen Universität organisierte das Tagesheim für die Kinder.
Mir war klar, wenn 50 Romakinder irgendwo abgestellt werden, und ihnen keine Beschäftigung angeboten wird, dann gibt es bald Probleme. Das liegt an der Natur der Sache
sagt die Professorin. Ihre Studenten, Mitglieder der Kirchengemeinde, Psychologen und Sozialarbeiter fühlten sich angesprochen:
Uns hat die Situation der Kinder so stark berührt, dass wir etwas tun mussten. So wuchs aus der Zusammenarbeit von 30 Personen eine provisorische Schule auf.
„Die Zukunft für diese Menschen aus dem Krieg ist völlig unsicher. In dieser Unsicherheit soll man ihnen beistehen, und in dieser provisorischen Lage für sie das Mögliche tun. Uns füllt es mit Schmerz, dass diesen Kindern das Lernen vorenthalten wurde, so auch die Möglichkeit der persönlichen Entwicklung“ sagt die Pädagogin.
Die Beschäftigung läuft in kleinen Gruppen, die Kinder sind nach Alter eingeteilt. Ein gutes, von Vertrauen geprägtes Verhältnis zwischen Kindern und Lehrkraft, ein positives Klima kennzeichnen das Zusammensein. Mit den kleinen Gruppengrößen arbeiten erfahrene Bildungsexpertinnen und Bildungsexperten – Lehrer, Lehrerinnen und Psychologen – zusammen. Persönliche Zuwendung, Dasein, mehr Zeit für das einzelne Kind und eine individuelle Förderung sind der Schlüssel zum Erfolg. Die Kinder könnten keinen Regelklassen zugeordnet werden, zu groß ist ihr Rückstand, sie brauchen gezielte Anleitung und Begleitung beim Lernen.
Sie waren in der Ukraine in doppeltem Sinne Minderheit – Ungar und Roma. Ihre Familien waren an den Rand der Gesellschaft gedrängt, sie lebten in Armut und sozialer Benachteiligung. Egal, ob sie ungarische oder ukrainische Schulklassen besucht haben, meistens saßen sie hinten in der Klasse.
Oft wurden sie sogar nach Hause geschickt, einige wurden sogar von Lehrern geschlagen. In ihrer Heimatschule hat nie jemand gefragt, wo die Roma-Kinder sind. Versäumnisanzeigen hat es bei anderen Kindern gegeben, bei Roma nicht. Es ist alltäglich, dass sie von den Lehrern unbeachtet waren – erzählen die Eltern der Kinder.
Diese provisorische Beschäftigung gibt den Kindern enorm viel, das Dasein, die gegebene Zeit, Beratung, Vertrauen, vermittelt den Roma ein neues Schulverständnis, für sie ändert sich, was Schule heißt. Hier bekommen sie persönliche Zuwendung, sie spüren, dass sie wichtig sind, dass sie geliebt werden, auch wenn sie Fehler machen.
Die Lehrer haben es nicht leicht. Das Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit fordert großen Einsatz von ihnen, die Kinder sind imstande sich für höchsten 5-10 Minuten zu konzentrieren. Wenn ihre Hände beschäftigt sind, wenn sie zeichnen oder schreiben, geht es leichter. Einer Gruppe wird ein Märchen vorgelesen, eine andere Gruppe übt rechnen. Die Kinder hören zu, machen mit, aber immer wieder stellen sie die Frage, wann gehen wir auf den Spielplatz?
Die geforderte Inklusion und Integration ist ein schwieriger Weg. Forschungen untermauern die Überzeugung, dass Schüler von einer sozialen Durchmischung in der Klasse profitieren können, die Erfahrung zeigt aber, ohne individuelle Förderung gibt es keinen Erfolg. Anderseits bräuchten Lehrer Fortbildungen, um auf die schwierige Unterrichtssituation vorbereitet zu werden.
Im Tagesheim sind die Bedingungen vorteilhaft. Die Räumlichkeiten der Pfadfinder wurden zur Verfügung gestellt, aus Spenden wurde das notwendige Schulmaterial – Bücher, Hefte, sogar von den Kindern gewünschte Schultaschen – angesammelt. Die Versorgung mit Zwischendurchmahlzeiten wird von Einwohnern gespendet. Täglich bringen sie Obst, die Frauen backen jeden Tag Kuchen.
Zwischen den Beschäftigungen gibt es Spielpausen, die die Kinder auf dem Nachbarspielplatz verbringen. Hier treffen sie die einheimischen Kinder. Das wohlhabende Stadtviertel von Budapest, die Privilegierten haben eine Gruppe aus Armut und Ausgrenzung zu Gast. Diesen Menschen aus den prekären Verhältnissen wird hier viel mehr, als Lesen, Schreiben und Rechnen angeboten. Sie erleben eine Umwelt, wo Menschen sich mit Respekt, Verständnis einander zuwenden, auch ihnen gegenüber. Die Roma-Kinder reagieren darauf mit Zuneigung, sie geben und brauchen Umarmung, Streicheln, Berührung. Das ist ihre Sprache der Liebe.
Untereinander, mit Spielkammeraden auf dem Spielplatz, wenn es zu einem Konflikt kommt, reagieren sie instinktiv mit Gewalt. Sie verlieren leicht die Beherrschung. Beide Seiten müssen den Weg der Annäherung lernen.
Die Leiterin des Tagesheimes ist der Überzeugung, Unterschiede machen uns reicher. Als Katholikin vertritt sie die Meinung, dass die Mehrheit der Gesellschaft für die Mobilität der Benachteiligten verantwortlich ist. „Wenn in einer Klasse im sozialen und kulturellen Sinne Buntheit die Atmosphäre prägt, werden die Kinder sozial offener, sensibler. Wenn wir über Verschiedenheiten miteinander reden, dann wird unsere Muttersprache der Dialog sein.“
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(geschrieben von Éva Trauttwein, Fotos: Tamás Thaler)