Wie kann Integration gelingen? – Eine Schule beweist, dass die Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen möglich ist, und dafür können Schulen mehr tun als ihnen bewusst ist.Weiterlesen
Im großen Raum ertönt das Klavier, die Geige antwortet. Die Kinder horchen auf, beenden das Spiel, lauschen. In einigen Minuten beginnt die „Musikstunde”. Wir sind bei den Budapester Piaristen, die seit Anfang März täglich 20-40 ukrainische Kinder und Jugendliche aufnehmen, und in einem Tagesheim Beschäftigung anbieten.
Wie geht es dir heute? – fragt die Leiterin auf russisch die im Kreis sitzenden Kinder. Danke, es geht, nichts Besonderes – antworten die Kinder nacheinander. Sie sind zwischen 5-11 Jahre alt, sie hatten gerade Spielstunde. „Das Wichtigste, das wir für diese Kinder tun können, ist die Anschlussmöglichkeit an eine Gemeinschaft, wo sie mit sinnvoller Beschäftigung zusammen sein können. Auf diese Weise können wir die Aufmerksamkeit davon ablenken, was sie hinter sich haben, und für einige Stunden auch die unsichere Zukunft vergessen“ – sagt Edina Szatmári, eine junge Frau aus Transkarpatien. Szatmári hat sich zuerst als Volontär um die Kinder gekümmert, heute ist sie fest angestellt. Sie spricht zwei Sprachen und hat in ihrer Heimatstadt Csap als Kindergärtnerin Ungarisch unterrichtet.
Bálint Horváth, Direktor des Piaristengymnasiums, stellt die Initiative der Schule vor: „Sofort nach Ausbruch des Krieges haben wir uns entschieden zu helfen. Wir haben die Art der Hilfe gewählt, die unserer Berufung am nächsten steht, wir wollten für die Kinder Unterricht organisieren. Wir haben erkannt, dass die von ihrem Zuhause vertriebenen Menschen als erstes Nahrung und eine Unterkunft benötigen. Aber kaum vergeht eine Woche, ist das besonders den Kindern nicht mehr genug. Sie brauchen Beschäftigung und das Miteinander von Gleichaltrigen. Auch für Eltern ist es die größte Hilfe, wenn sie ihre Kinder in Sicherheit wissen, ihnen Unterhaltung und Abwechslung geboten wird.“
So hat das Gymnasium einen Aufruf veröffentlicht, dass Kinder und Jugendliche im Gymnasium aufgenommen werden.
Die Leitung der Schule dachte, dass ungarische Familien mit Kindern, die Transkarpatien verlassen mussten, sich melden würden und die Kinder dann in die Klassen integriert werden können. Doch es kam ganz anders. Kleine Kinder, die nur Ukrainisch und Russisch sprechen, haben sich im Gymnasium eingefunden. Am 16. März, um 9 Uhr, stand der Direktor am Eingang. „Ich erinnere mich noch heute an das unsichere, aufgeregte Gefühl: Werden Kinder kommen? Dem Eingang näherte sich ein älterer Mann mit einer Frau und einem kleinen Mädchen. Unser erstes Kind war ein 10 Jahre altes Mädchen. In ihrem Gesicht war ihre Angst abzulesen. Für sie war unser Gymnasium mit den vielen Jungen völlig fremd. Nach einer Woche sah ich, dass sie sich an uns gewöhnt und sie sich wohl fühlt. Nach ihr kamen noch weitere Kinder, alle zwischen 5 und 12 Jahre alt, und einige Wochen später kamen dann auch Gymnasiasten.“
Das Gymnasium warb um Volontäre in sozialen Netzwerken. „Es war herzerfrischend, wie viele sich meldeten. Mehr als 100 Lehrer haben ihre Hilfe angeboten.“ Da die nach Hilfe suchenden Familien mehrheitlich Ukrainisch und Russisch sprechen, brauchte das Tagesheim dementsprechendes Personal. Edina Szatmári aus Csap war die erste Angestellte, nach ihr folgte Anastasia aus Harkiv, die auch fest angestellt werden konnte. Sie sind für die kleinen Kinder zuständig, bereiten verschiedene Beschäftigungen für sie vor. Auch Volontäre unterstützen die Arbeit. Der Morgen beginnt jeden Tag mit Ungarischunterricht. Die Kommunikation entfaltet sich langsam, das hilft den Kindern, falls sie ab September hier die Schule fortsetzen möchten. Jevgenyija ist Musiklehrerin. Sie floh mit ihrer Tochter aus dem Kriegsgebiet. Ihre Tochter ist Musikschülerin und bekam einen Platz an einer Musikschule in Budapest.
Die Kinder im Tagesheim fühlen sich wohl. Man merkt aber, was sie in der Vergangenheit erleben mussten und dass ihre Zukunft ungewiss ist. Ihre Welt ist von einem Tag auf den anderen zusammengefallen. Sie versuchen, sich irgendwo anzuschließen. Alles ist unsicher für sie, auch die Eltern können keinen Halt geben, da sie nicht wissen, ob es jemals ein Zurück geben wird. Für die Kinder ist es am wichtigsten, in der Gemeinschaft von gleichaltrigen zu sein, zu spielen, auch etwas zu lernen. Für die meisten ist Budapest nur eine Zwischentation, sie wollen weiter nach Westen oder in ein Land mit slawischer Sprache. Die Zusammensetzung der Gruppe im Tagesheim ändert sich von Tag zu Tag. Kinder nehmen Abschied, neue Kinder kommen und manchmal ist ein Abschied traurig. So war es auch bei dem Mädchen, das zuerst in dem Gymnasium ankam. Ihre Mutter, von Beruf Laborantin, arbeitete in Budapest als Putzfrau in einem Restaurant. Später hat sie eine Anstellung in ihrem ursprünglichen Beruf auf dem Lande bekommen, und das kleine Mädchen musste die ihr vertraute Umgebung verlassen. „In ihrem Gesicht konnte ich sehen, dass sie traurig ist. Sie hat sich hier sehr wohl gefühlt und muss nun in der Fremde wieder von neuem anfangen“ – sagt Bálint Horváth.
Die größte Aufgabe von Edina, Anastasia und Jevgenyija ist, den Kindern mit viel Liebe zu begegnen. „Jedes Kind braucht täglich eine Umarmung“ – sagt Nasta. Tief sitzt der Kummer in den Kindern, sie nicht wissen, wie es dem Vater, den Verwandten geht. Jevgenyija ermutigt die Kinder stark zu sein sich gegenseitig Halt zu geben. Edina’s ganze Aufmerksamkeit ist bei den Kindern. Sie merkt sofort, wenn es jemandem schlecht geht, ruft dann zum Spielen. Sie sagt, den Kindern gefällt es hier, sie sind stolz, dass sie eine der schwersten Sprachen der Welt lernen. Sie finden Budapest sehr schön, vom Krieg sprechen sie aber überhaupt nicht gern.
Die Zukunft ist auch für Edina unsicher. Zurück nach Transkarpatien oder hier bleiben? Ihre Eltern sind in der Heimatstadt geblieben, sie und ihr Bruder sind nach Ungarn gekommen. Die ehemaligen Klassenkameraden sind auch in Ungarn, erzählt sie. „Wir sind ständig in Kontakt. Jedem ist es schon gelungen, eine Arbeit zu finden. Wir wissen, die Zukunft wird auch dann sehr schwer sein, wenn wir zurückgehen. Meine Eltern erzählen, dass sehr viele Flüchtlinge in unserer Stadt sind, sowie in ganz Transkarpartien. Die Ukrainer meinen, wir Ungar haben dort nichts zu suchen, wir sollen nach Ungarn, die Ukraine würde ihnen gehören. Ich befürchte, Transkarpatien wird nie wieder das sein, was es vorher war. Schon jetzt hört man kaum noch Ungarisch auf den Straßen.“
Neben dem Tagesheim für kleinere Kinder beschäftigen die Piaristen auch Gymnasiasten. Für sie wurde ein Raum mit Computern ausgestattet, wo sie zusammen am Online-Unterricht teilnehmen können. Daneben lernen sie Ungarisch, so werden sie darauf vorbereitet, ab September in Ungarn weiter lernen zu können.
Nach den Sommerferien muss man neue Wege finden. Bálint Horváth erklärt: „Das Tagesheim bietet eine provisorische Lösung, aber ab September müssen die Kinder in die Schule. Im Sommer können sie ihre Sprachkenntnisse verbessern, so sichern sie sich einen guten Start. In der Zeit der Unsicherheit muss man flexibel reagieren und Lösungen finden. Wir sind bereit, ab September unsere bisherige Arbeit fortzusetzen.“
(geschrieben von Éva Trauttwein, Fotos: Viktória Csapó)