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„Die EU ist eine Gemeinschaft, die sich klar für ihre Vielfalt ausspricht“ – Interview mit Hans Kaiser

Orosz Tímea 2023.05.27.
Hans Kaiser (in der Mitte) ehemaliger Minister für europäische Angelegenheiten und deutscher Minister für regionale Angelegenheiten, Foto: Retörki

Am Ende der Vormittagssitzung der Helmut-Kohl-Konferenz in Budapest am 24. Mai gab Prof. Dr. Hans Kaiser, ehemaliger Bundesminister für Europaangelegenheiten bzw. Bundesminister für regionale Angelegenheiten von Sommer 2006 bis zu seiner Pensionierung im Sommer 2012, Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung im Ungarn-Büro, ein kurzes Interview für Hungary Today. Unser Thema war die Entwicklung der deutsch-ungarischen Beziehungen in den letzten Jahrzehnten.


Herr Professor, es gab einen Gedankengang in Ihrem Vortrag, als Sie sagten, dass sich die deutsch-ungarischen Beziehungen, die durch Helmut Kohl und József Antall vertieft wurden, im Laufe der Jahre etwas verschlechtert haben und dass es nun eine gewisse Distanz zwischen unseren Ländern gibt. Wann lässt sich Ihrer Meinung nach die Verschlechterung der bilateralen Beziehungen datieren?

Der Bruch war 2010, als Orbán zum zweiten Mal Ministerpräsident wurde und man merkte, dass das Drehbuch, das Brüssel entwickelt hatte, von Orbán – und vielen anderen auch – nicht akzeptiert werden würde. Ich kenne Brüssel recht gut und weiß genau, wie die Mechanismen dort funktionieren. Dass die Vorabstimmungen der Direktionen und der Kommissare stärker sind, als man sich das bis dahin vorstellen konnte.

Prof. Dr. Hans Kaiser (unten). Foto: Retörki

Warum wollten sie Orbán um jeden Preis stürzen?

Weil Orbán ein Gegenprogramm ausgearbeitet hat, das sich nicht mit den Zielen Brüssels deckt. Dieses Programm widerspricht den Vorstellungen der Grünen, der Sozialdemokraten und der Linksliberalen, was Brüssel nicht toleriert hat. Die anderen politischen Kräfte – einschließlich der EVP – sind diesen Komponenten völlig untergeordnet. In meiner Zeit der politischen Entscheidungsfindung habe ich mich nie von ihnen leiten lassen, ich bin immer meinen eigenen politischen Weg gegangen. Ich habe immer das getan, was ich selbst für richtig hielt, aber ich habe natürlich auch berücksichtigt, was meine politischen Gegner gesagt haben. Denn auch die können Recht haben! Sie sagen das etwas polemisch, aber natürlich können sie auch Recht haben! Und gerade deshalb ist es wichtig, dass wir Christdemokraten und Konservative uns nicht von den Linksliberalen und Sozialisten an der Nase herumführen lassen wie ein Bär im Ring.

Deutschland hätte – ungeachtet der Tatsache, dass Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Antall eine tiefe Freundschaft verband – lieber eine links-liberale Koalition in Ungarn gesehen. Ist das nicht irgendwie ein Widerspruch?

Nein. Die Deutschen waren mit dem Gulaschkommunismus und dem Bild von János Kádár in Ungarn zufrieden. Kádárs Regime wurde mit der Zeit vom Westen akzeptiert, und er konnte sich ein Image aufbauen, das dem Westen völlig sympathisch war.

Ja, das System war in den 1960er Jahren noch in der Konsolidierung, auch in der ungarischen Gesellschaft.

Die Menschen machten mit seiner Person eine ganz andere Erfahrung als mit dem, was sie im Westen über den Kommunismus wussten.

Von außen betrachtet, sahen die Menschen das ganz anders.

Ja, ganz anders. Er hat ein geschicktes Image aufgebaut, und das hat funktioniert. Wenn man sich zum Beispiel im Museum „Haus des Terrors“ umschaut, sieht man, dass die Propaganda um seine Person das Bild eines netten, sympathischen, einfühlsamen und respektvollen Menschen aufgebaut hat. Ein Mann mit einer Zigarette in der Hand, mitten unter den Menschen. Das hat eine sehr wichtige Rolle dabei gespielt, wie der Westen über Ungarn und die ungarischen Linksliberalen urteilte. Die Menschen, die 1956 während oder nach der Revolution Ungarn verließen und nach Deutschland flüchteten, konnten diese Meinung natürlich nicht teilen. Aber innerhalb der ungarischen Gesellschaft und auch in der öffentlichen Meinung im Westen wurde diese bewusst konstruierte Fassade akzeptiert.
Miklós Németh und Gyula Horn galten auch nach dem Paneuropäischen Picknick als sympathisch und ließen im September 1989 sogar Ostdeutsche über die Grenze. Sie waren auch in Deutschland anerkannte Namen, daher hatten die Deutschen eigentlich nichts gegen die ungarischen Sozialisten.
Wie es Prof. Dr. Endre Marinovich in seiner Rede formulierte: Kohl wollte eigentlich Gyula Horn als Außenminister Ungarns, aber Antall wollte nicht akzeptieren, einen Ex-Kommunisten in seiner Regierung zu haben.

Foto: Retörki

Welche Möglichkeiten und Perspektiven haben wir, unsere Länder wieder einander näher zu bringen? Könnte das mit Viktor Orbán funktionieren oder wird er von Deutschland gar nicht mehr akzeptiert?

Mit Orbán ist natürlich vieles möglich! Aber er steht selbst in Konfrontation mit Deutschland und ist auch verletzt. Es geht nicht nur darum, was die Deutschen akzeptieren, sondern was von Orbán akzeptiert wird. So wie ich ihn beobachte, hat auch er Verletzungen erlitten, auch wenn er es wahrscheinlich nicht zugeben würde. Und dafür habe ich volles Verständnis! Er ist in eine unmöglich schwierige Situation geraten, nachdem Gyurcsány und Bajnai das Land in eine enorme Verschuldung geführt hatten. Und nun wird Orbán von politischen Gegnern in Brüssel unendlich beschimpft. Er stellt sich vor die anderen Ministerpräsidenten, und er wird ohne Ende angegriffen, in einer unerträglichen Weise. Ich habe mich manchmal geschämt und habe zum Beispiel einmal zu einem niederländischen Kollegen gesagt: „Bitte, Herr Kollege, bitte mäßigen Sie sich… wir sind hier in einem Parlament, und es geht nicht an, dass man einen anderen Politiker so angreift und mit einem Kollegen so spricht!“
Das bedeutet, dass unsere Aufgabe jetzt darin besteht, richtig zu kommunizieren und einen Weg zu einer konstruktiven und effektiven Verhandlungsmethode zu finden, trotz allem, was bisher geschehen ist. Und wo man mit Orbán nicht übereinstimmt, muss man verhandeln.
Ich kenne ihn übrigens schon sehr lange. Seit der Wiederbeerdigung von Imre Nagy, als er seine berühmte Rede auf dem Heldenplatz hielt. Er ist ein sehr intelligenter und talentierter Mensch. Man muss also miteinander reden, sogar anständig reden, wie es unter Konservativen im Allgemeinen üblich und akzeptabel ist. Und natürlich muss man diplomatische Beziehungen pflegen.

Im Moment scheint das nicht zu funktionieren, oder?

Nein, im Moment funktioniert es leider überhaupt nicht. Es gibt keine differenzierte Kommunikation, keine Kommunikation, die auf den anderen zugeht. Und das ist es, was man beklagen muss, vor allem, wenn es um Ungarn geht. Ein Land, das im Herzen Europas liegt und eine eigene Kultur und ein stabiles Wertegerüst hat. In Europa gibt es unterschiedliche Länder, mit unterschiedlichen Wertesystemen und unterschiedlichen politischen Kulturen. Und das muss in der EU akzeptiert werden. Die EU ist eine Gemeinschaft, die sich klar zu ihrer Vielfalt bekennt und dafür eintritt, diese Vielfalt zu fördern und zu bewahren.

Beitragsbild: Retörki