Freisinnige wie national gesinnte Autoren reiben sich an Endre Ady (1877-1919), ein zerbrechlicher Riese, der in seiner genialen Widersprüchlichkeit die unterschiedlichsten Zugänge seiner Epigonen zulässt.
Der calvinistischen Adelige aus Siebenbürgen, der sich für sozialistische Ideen begeisterte, mit Gott haderte und gleichzeitig mit jüdischen Atheisten verkehrte ist außerhalb seiner Heimat kaum bekannt. Das hat wohl mit der Einzigartigkeit seiner Sprache zu tun. Gemeint ist nicht nur die Widerborstigkeit des Ungarischen, sondern auch die Tatsache, dass jede Übersetzung eine Zähmung voraussetzt, die im Adys Fall aussichtslos ist.
Auch als gefeierter Dichter blieb er zeitlebens ein eingefleischter Journalist. Zwischen Großwardein und Paris krempelte er die ungarische Kunstdichtung um und visionierte zunächst eine bürgerlich-radikale, später eine radikal-sozialistische Alternative für das halb-feudale Ungarn des beginnenden 20. Jahrhunderts.
In einem beachtenswerten Essay, geschrieben für „Hungarian Conservative“, unternimmt László Bernát Veszprémy einen geglückten Versuch, Adys politische Rezeption darzulegen. Der Streit um die Deutungshoheit im ungarischen Kulturleben (grob gesagt: städtische Liberale versus National-Konservative aus der Provinz) erhitzt seit etwa hundert Jahren die Gemüter. Zwischen den beiden Wagenburgen steht Endre Ady, von beiden reklamiert, von keinem von beiden wirklich verstanden.
Die Bandbreite der Ady-Deutungen reicht von der Einschätzung des linksradikalen Oszkár Jászi („Genie“) bis hin zum Diktum „Parasit am Baum der ungarischen Kultur“ des konservativen Ministerpräsidenten István Tisza.
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Die Gnade des frühen Ablebens während der Aster-Revolution ließ die linksgerichtete Vereinnahmung Adys ohne Bodenhaftung zurück. Der „Berufssänger des Sozialismus“ hätte sich mit den Lenin-Burschen nicht gemein gemacht, auch wenn er für das Kommen des „apokalyptischen roten Tages“ betete.
Trotz seiner unmissverständlichen Botschaft (Auslöschung des feudalen Ungarns, Konfiszierung des Kircheneigentums, Zerstörung von Kirchen und Synagogen und das Anlegen von Fabriken an ihrer Stelle) begann der Kampf um das Erbe Adys schon kurz nach seinem Tod und tobte in den Zwanziger Jahren.
Ausgerechnet der als Nationalist geltende Dezső Szabó brachte die Meinung der Sozialisten am besten zum Ausdruck: „Adys Lehre [:] der Kapitalismus und der Wettbewerb des freien Marktes sind der Tod für die Ungarn, die nicht konkurrenzfähig sind“.
Der protestantische Arbeitsethos mag in Genf oder Amsterdam calvinistische Wurzeln haben. Érdmindszent, Adys Geburtsort ist von diesen Brutstätten des modernen Kapitalismus genauso entfernt wie das sprichwörtliche Makó von Jerusalem.
Der systemische Antisemitismus der Zwischenkriegszeit fand seinen Niederschlag in der Debatte um die angebliche jüdische Korrumpierung des „kämpfenden Protestanten“ Ady. Die Nationalisten schoben die Schuld an Adys Dekadenz auf die Juden, um seine antikapitalistischen Ideale aufzugreifen.
Der Widerstandskämpfer Bajcsy Zsilinszky war der Ansicht, dass man den Wert Adys nur erkennen kann, wenn „auch die tiefen ungarischen Fehler der beiden Generationen vor dem großen Krieg“ erkannt werden. In den Fußstapfen Adys forderte er: „Wir sollten auch das Ungarn der Lügen, der Selbsttäuschungen (…) sehen, die in nationalen Farben gehüllt sind; wo der kranke individuelle Egoismus einer auseinanderfallenden Gesellschaft und der gut organisierte ausländische Raub unseres Reichtums seine Orgien feierten“.
Ady bleibt ein Stachel im Fleisch der ungarischen Selbstgefälligkeit. Die wahre Herausforderung ist nicht seine exzentrische Lebensführung oder sein Liebäugeln mit dem Atheismus. Schwer verdaulich für den ungarischen Magen war und ist seine revolutionäre, linksextreme Ausrichtung und seine radikale Ablehnung der bürgerlichen Ordnung.
Sein Ungarntum stand nie zur Debatte, auch wenn er die ungarische Selbstzerfleischung geradezu zelebrierte. Der heutzutage beinahe verfemte, doch bedeutende Schriftsteller Dezső Szabó brachte es auf den Punkt: „Der Wert der ungarischen Kunst hängt nicht davon ab, wie oft die Worte „Heimat“, „ungarisch“ und „Attila“ in sie hineingestopft werden, sondern davon, wie spezifisch der ungarische Geist mit welchen absoluten künstlerischen Werten zum Ausdruck gebracht wird“.
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Beitragsbild: Facebook/Hungarian Conservative