Linke Wochenzeitungen weisen die Referendumsinitiative der Regierung in der Frage der Sexualerziehung von Kindern als sinnlose Propagandaaktion zurück. Ein rechtsorientierter Kommentator stimmt ihnen immerhin in einem Punkt zu, wenn auch er einen Zusammenhang mit der angestrebten Mobilisierung von Anhängern im Vorfeld der Parlamentswahlen 2022 erkennt.
Bei dem Referendum – offenbar geplant, um das jüngste umstrittene Gesetz zum Verbot der Propagierung und Darstellung von Sexualität und Homosexualität sowie von Transgender-Praktiken im Bereich von Minderjährigen zu unterstützen – handele es sich um eine Reaktion auf den internationalen Spionageskandal, vermutet Tamás Ónody-Gomperz in Jelen. Gemeinsam mit 50 anderen Staaten sei Ungarn als einer genannt worden, der die aus Israel stammende Spionagesoftware Pegasus zum Hacken von Telefonen verwendet habe (siehe Budapost vom 26. Juli). In seinem Artikel bezeichnet Ónody-Gomperz die Initiative des Referendums als Beleg dafür, dass die Behörden die Telefone der Bürger tatsächlich gehackt hätten. Aber da sie nun einmal eine Kampagne zu Geschlechterfragen losgetreten hätten, müssten sie bis zu den Wahlen im nächsten Jahr an diesem Thema auch festhalten, ist der Autor überzeugt.
In einem leidenschaftlich-wütenden Leitartikel vergleicht Magyar Narancs die Volksbefragungsinitiative zu Geschlechterfragen mit mittelalterlichen Ritualmordvorwürfen gegen Juden, denn die Redaktion ist überzeugt, dass es ihr um das Schüren von Hass gehe – nur seien diesmal nicht-heterosexuelle Menschen das Ziel. Magyar Narancs hofft, dass der Versuch nach hinten losgehen werde, „da die Fragen, die den Wählern gestellt werden sollen, überhaupt keinen Sinn ergeben“. In einem zweiten Leitartikel loben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des linksliberalen Wochenmagazins die diesjährige Gay-Pride-Parade in Budapest, die sich von allen bisherigen unterschieden habe. Das Besondere: Die Teilnehmenden hätten dieses Mal nicht einfach ihre Unterstützung von LGBTQ-Personen zum Ausdruck gebracht, sondern auch demonstriert, um ihren Widerstand gegen den „Machtrausch“ von Ministerpräsident Viktor Orbán zu bekunden.
In 168 Óra vergleicht der Soziologe Endre Sík die nationale Konsultation zur Sexualerziehung mit dem geplanten Referendum und erkennt sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede. Demnach unterschieden sie sich dadurch, dass der Fragebogen der nationalen Konsultation Antworten in Form von Fragen enthalte, während die fünf Fragen des geplanten Referendums sachbezogener Natur seien. Beide ähnelten sich in dem Sinne, als dass beide die Agenda des öffentlichen Diskurses zu bestimmen suchten. Darüber hinaus würden beide Vorhaben darauf abzielen, Panik zu schüren, um die Anhänger der Regierung zu mobilisieren, glaubt Sík.
Für Róbert Puzsér ist es eigenartig, dass die Regierung Geschlechterfragen als Wahlkampfthema gewählt habe. Immerhin habe sich die Verteufelung von Nicht-Heterosexuellen bei den Präsidentschaftswahlen in Polen im vergangenen Jahr als wenig erfolgreiche Strategie erwiesen, obwohl doch die polnische Gesellschaft viel konservativer sei als die ungarische Bevölkerung, notiert Puzsér in Magyar Hang.
Tatsächlich hätten Umfragen gezeigt, dass eine große Mehrheit der Ungarn Homosexuellen, Lesben, Bisexuellen und sogar Transsexuellen aufgeschlossen gegenüberstehe. Dennoch wittert der Publizist in dieser Angelegenheit eine Falle für die Opposition und warnt sie davor, einfach eine Schlacht zur Unterstützung von LGBTQ-Personen zu führen. Stattdessen sollte sie klarstellen, dass sie keineswegs die Absicht habe, Gender-Probleme in die Schulen von kleinen Kindern zu tragen. Vielmehr sollte sie die Regierung als diejenige anprangern, die dies tue.
In seinem Mandiner-Leitartikel interpretiert István Joó die Referendumsinitiative als Teil des propagandistischen Kräftemessens zwischen Regierung und Opposition. Als die Oppositionsparteien ihre Vorwahlen zur Bestimmung ihres Kandidaten bzw. ihrer Kandidatin für das Amt des Ministerpräsidenten und der Aspiranten für die Sitze im Parlament gestartet hätten, sei es ihnen gelungen, sich ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Mit dem Gesetz zur Sexualerziehung habe die Regierung eine Gegenoffensive gestartet, die Joó als einen Schritt gegen Aufklärungskampagnen von LGBTQ-Organisationen versteht.
Im Zuge des Pegasus-Skandals sei die Regierung beschuldigt worden, sie spioniere ihre Bürger aus. In den Augen Joós hat die Regierung als Antwort auf diese Vorwürfe eine Referendumsinitiative verkündet. Mit der Volksbefragung, so der Autor weiter, bitte der Ministerpräsident um Hilfe, und die Frage laute, ob sich die Menschen in ausreichender Zahl beteiligen würden. Joó geht davon aus, denn wie Umfragen gezeigt hätten, wollten die meisten Ungarn kontroverse Gender-Debatten aus den ungarischen Schulen heraushalten.
(Via: budapost.de, Beitragsbild: Szilárd Koszticsák/MTI)