Die wegen der COVID-19 Pandemie eingeführten strikten Maßnahmen wurden in Ungarn schon letzte Woche gelockert. Viele stellen sich die Frage zu Recht, ob diese Lockerungen zu früh eingeleitet wurden oder nicht? Warum mussten wir die Quarantäne monatelang so strikt einhalten, wenn wir jetzt fast ohne Beschränkung wieder zu unserem “alten” gewöhnlichen Leben zurückkehren dürfen? Müssen wir uns auf eine zweite Welle der Epidemie vorbereiten?
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat in einem, auf seiner Facebook-Seite geposteten Video noch am 19. April angekündigt, dass man den Höhepunkt der Epidemie in Ungarn am 3. Mai erwartet. Auf dessen Grund wurden 36 000 Krankenhausbetten geräumt, hat man sehr viel Geld in die Entwicklung von Beatmungsgeräten investiert, sowie deswegen wurde eine „technische Meisterleistung“ mit dem Bau eines Containerkrankenhauses in Kiskunhalas verwirklicht. Trotz der außerordentlichen Maßnahmen wurden am 4. Mai, einen Tag nach dem vermuteten Höhepunkt der Epidemie, Lockerungsmaßnahmen eingeführt. Ist es, in epidemiologischer Hinsicht, nicht vorzeitig?
Schauen wir uns zuerst die Zahlen an und vergleichen wir sie miteinander. Laut der Meldung des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten werden etwa 84-92% der Infizierten in das System nicht aufgenommen, während der Anteil der positiv getesteten Patienten ca. 7-12% beträgt. 60% der Patienten, die wegen COVID-19 das Krankenhaus besucht haben, hatten nur milde Symptome, während 30% eine stationäre Behandlung brauchten. 2,4% musste maschinell beatmet werden. Vor einer Woche haben die ungarischen Zahlen von den Zahlen der europäischen Ländern abgeweicht. 52% der Erkrankten haben eine stationäre Behandlung gebraucht und 3,1% war von der Krankheit schwer betroffen.
Im pessimistischsten Fall – die meisten wissenschaftlichen Berechnungen sind pessimistisch – sollten in Ungarn 2,5 Millionen Personen infiziert werden, davon hätten mindestens 14 000 eine medizinische Versorgung gebraucht. Gott sei Dank konnten wir diese vorausgesagte Situation bis jetzt vermeiden.
Eine der wichtigsten epidemiologischen Zahlen ist die Reproduktionsrate. Dies zeigt uns wie viele Menschen eine betroffene Person infizieren könnte. Das Ziel der ungarischen Regierung ist, diese Zahl möglichst beim/unter 1 zu halten, damit könnte man theoretisch eine flache Epidemiekurve erreichen. Wenn diese Zahl mehr als 1,2 wäre, wäre die aktuelle Kapazität der Beatmungsgeräte nur bis September ausreichend. Auf dem unteren Bild sieht man den eindeutigen Unterschied zwischen R=1 und R=1,3. Um eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern, muss die Reproduktionsrate längerfristig kleiner als 1 sein. Ein Infizierter darf also weniger als einen anderen Menschen anstecken.
Aus der Abbildung kann man logisch ableiten, dass man die Lockerungen nur schrittweise einführen darf. Verfrühte Lockerungen können sehr viel kosten. Die tatsächlichen Wirkungen der Maßnahem können aber erst ca. 2 Wochen nach der Einführung beobachtet werden.
Wenn man die Personalkontakte reduziert, gibt man weniger Chance für die Verbreitung der Viren.
Aufgrund der Kontaktbeschränkungen sinken die täglich gemeldeten Neuinfektionen. Nach Schätzungen wurden in Ungarn 80-90% der Kontakte reduziert, dank der Disziplin der Bevölkerung. Das heißt aber nicht, dass wir uns ab jetzt komplett disziplinlos benehmen könnten. Nein. Die erste Welle ist schon vorbei aber wir müssten uns auf eine mögliche zweite Welle vorbereiten. „Amat victoria curam“ auf Deutsch: „Siege mag die Vorbereitung“. Mit den bisherigen Erfahrungen haben wir mehr Chance, dass wir eine Katastrophe vermeiden können.
Wir müssen aber im Hinterkopf behalten, dass es in der Geschichte der Epidemiologie bei vielen Krankheiten oft eine zweite eventuell eine dritte Welle gab. Das beste Beispiel dafür ist die Spanische Grippe, wobei die zweite Welle noch schlimmere Konsequenzen als die erste hatte. Siehe Abbildung (2).
Es muss aber betont werden, dass die zwei Seuchen (spanische Grippe, COVID-19) nicht in allen Aspekten miteinander vergleichbar sind.
Viele Länder in Europa glauben, dass sie schon aufatmen können aber wie das Beispiel Deutschlands zeigt, müssen alle vorsichtig sein. Nach der Lockerung der Maßnahmen ist die Reproduktionsrate auf 1,1 gestiegen. Deutschland ist gerade das 7. Land auf der Welt, das am meisten von dem Virus betroffen ist. Es gibt insgesamt 170 000 Erkrankte davon sind 7395 ums Leben gekommen, trotzdem ist Deutschland mit der Letalitätsrate von 4,35% (Ungarn: 12,9%, Welt: 6,7%) unter den Top-Ländern, die die Seuche rechtzeitig kontrollieren konnten.
Vom 3. April bis zum 10. Mai gab es keine Neuinfizierte in Wuhan, kürzlich wurde aber ein Mann erkrankt und ist derzeit in kritischer Lage. Seine Frau ist auch infiziert. In einer anderen chinesischen Stadt, Sulan, sind mehrere Leute infiziert, deswegen hat man die Schulen gesperrt und die öffentlichen Verkehrsmittel kan man auch nur beschränkt benutzen.
Die Schweden waren die ersten, die gar keine Sicherheitsmaßnahmen eingeführt haben. Von Anfang an glaubten sie an Herdenimmunität. In Sweden haben 27 909 Personen erkrankt, davon sind 3 460 verstorben, so ist die Leatlität ähnlich, wie bei uns: 12,4%. In dem nordischen Land war das Gesundheitswesen nicht überfordert, obwohl es schon seit März keine Ausgangsbeschränkungen gibt. Doch hat Schwedens Entscheidung auch negative Konsequenzen. Lena Hallegren, Ministerin für Gesundheitswesen, hat letztlich anerkannt, dass die schwedische Strategie gescheitert hat. Schweden wollte die ältere Bevölkerung vor allem in den Altersheimen schützen, trotzdem sind 90% der Verstorbenen über 65.
Eins ist sicher. Etwa 50 bis 70 Prozent der Bevölkerung müsste die Erkrankung durchmachen, damit eine natürliche Immunität in der Bevölkerung entsteht. Das funktioniert natürlich im Falle, wenn man nicht mehrmals infiziert werden kann. Solange wir über keine wirksame Medikamente verfügen, müssten wir die Reproduktionsrate möglichst unter 1 zu halten und das Virus weiter beobachten sowie die Maßnahmen wechselweise schärfen und lockern.
(Beitragsbild: pixabay)