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Ein Abiturient, der seine Abschlussprüfung nicht besteht, löst ungewollt einen landesweiten politischen Skandal aus – das ist die Grundidee von Gábor Reisz‘ Film, der auf den Filmfestspielen von Venedig ausgezeichnet wurde. Explanation for Everything ist im naturalistischen Stil der rumänischen Neuen Welle gedreht, spart mit seinem bissigen Humor weder das eine noch das andere politische Lager aus, sondern nähert sich beiden mit großer Empathie.
Es gab nur wenige Regiedebüts in Ungarn, die so spektakulär waren wie Aus unerfindlichen Gründen. Die Komödie aus dem Jahr 2014 wurde sofort zum Kultklassiker und Gábor Reisz wurde beinahe zum Rockstar. Der etwas komplexere Falsche Poesie (2018) war ebenfalls ein großer Erfolg bei Publikum und Fachleuten.
Sein jüngster Film, der ohne staatliche Unterstützung gedreht wurde, gewann den Preis für den besten Film in der Sektion Horizonte und bereits vor der Filmpremiere die Sympathie der oppositionellen Medien: Es hieß nämlich, endlich eine einheimische Produktion, die es der Regierung „zeigt“. Allerdings handelt es sich dabei um eine starke Vereinfachung.
Gábor Reisz‘ verständliche Frustrationen und unangenehme Erfahrungen hinsichtlich der Filmfinanzierung haben ihn nicht zu einem regierungsphobischen Filmemacher gemacht. Wie seine jüngsten Interviews zeigen, sind es die politischen Spannungen in unserem Land, die ihn am meisten beunruhigen, und er weiß, dass es nur Öl ins Feuer gießen würde, wenn er sie schürt, weshalb er in seiner Gesellschaftskritik unendlich einfühlsam ist.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein Oberschüler, der die Abiturprüfung in Geschichte nicht besteht. Er traut sich kaum, seinem strengen Vater von dem Vorfall zu erzählen und behauptet schließlich, er habe eine schlechte Note bekommen, weil er eine Kokarde in den Nationalfarben trug, doch damit löst er eine riesige Lawine aus. Der konservative alte Mann hegt aufgrund eines früheren Konflikts einen Groll gegen den liberalen Lehrer und macht dann seinem Ärger Luft, womit er die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zieht. Eine rechtsgerichtete Journalistin aus Siebenbürgen schreibt einen Artikel über den Vorfall. Währenddessen treibt der Junge, dem die Politik gleichgültig ist- wie die Hauptfiguren der früheren Werke des Regisseurs – blindlings mit dem Strom und ist hoffnungslos in seine oppositionelle Mitschülerin verliebt.
Gábor Reisz‘ Steckenpferd ist, dass Politik in Gesprächen mit der Familie, mit Freunden oder auch bei der Arbeit innerhalb weniger Minuten zur Sprache kommt, in ungarischen Filmen aber kaum vorhanden ist. Nun, die Namen fliegen in seinem Film herum, Viktor Orbán, Ferenc Gyurcsány, Péter Szijjártó und Péter Márki-Zay werden erwähnt, aber
gleichzeitig werden beide Seiten mit der gleichen Empathie behandelt, es werden keine typischen Stereotype verwendet.
Gábor Reisz zeigt, dass eine Generation herangewachsen ist, jetzt im mittleren Alter, die von Eltern aufgezogen wurde, die durch den Holocaust und den Kommunismus traumatisiert wurden. Jede Familie klammert sich an das eigene Trauma, was einen Dialog unmöglich macht. All dies wird im Stil der rumänischen Neuen Welle dargestellt, in langen Szenen, mit häufigem Einsatz der Handkamera und mit unendlicher Natürlichkeit. Gábor Reisz hat jedoch seinen Sinn für Humor nicht verloren: Die angespannte Kleinkariertheit der Ausgangssituation wird manchmal zur Parodie.
Und auch wenn der Regisseur entgegen seinem Filmtitel keine Erklärung für die Situation bietet, sondern Verständnis für beide Seiten weckt, so war dies auch sein Ziel. Wie Gábor Reisz in Venedig sagte, ist es das Wichtigste, mit dem Reden anzufangen, solange es jemanden gibt, mit dem man reden kann.
Via Magyar Nemzet Beitragsbild: Cirko Film Facebook