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„Es gibt kein ausschließliches, einheitliches Konzept von Rechtsstaatlichkeit“ – Interview mit Fidesz MdEP László Trócsányi

Ungarn Heute 2021.12.07.

Rechtsstaatlichkeit kann sich von Land zu Land unterscheiden, da es historisch, kulturell, politisch und philosophisch in ein nationales Erbe eingebettet ist, sagte Fidesz MdEP László Trócsányi. In einem Interview gegenüber unserer Schwesternseite Hungary Today sprach der ehemalige Justizminister auch über die „Atmosphäre der Intoleranz“ bezüglich der Kritik der EU über die Rechtsstaatlichkeitssituation in Ungarn; wieso das System der „gegenseitigen Kontrolle“ für „Länder umgeben von Meeren am besten geeignet ist“; wieso es für Fidesz und Ungarn besser war, dass die Regierungspartei die EVP verlassen hat; die geplante neue rechte Parteienfamilie; seine Meinung als MdEP darüber, ob das Europäische Parlament in seiner aktuellen Form abgeschafft werden sollte; Huxit; die Zukunft der EU, die er für wünschenswert hält; und wann Europas Seele „für immer verloren ist“. Die Fragen bekam der Fidesz MdEP per E-mail, das Originalinterview wurde am 1. Dezember auf Englisch veröffentlicht.

Dieser Artikel erschien original auf unserer Schwetsernseite Hungary Today. Übersetzt von Eszter Grifatong.

Laut mehreren Mitgliedern der ungarischen Regierung kann das Konzept der Rechtsstaatlichkeit nicht definiert werden. Können Sie als Rechtswissenschaftler die Bedeutung definieren?

Die Rechtsstaatlichkeit ist ein theoretisches Konzept von politischer Philosophie und Staatstheorie, welches sich auf die komplexe Situation innerhalb eines souveränen Staates, anstatt auf eine einzelne Rechtsvorschrift oder Einrichtung bezieht. Obwohl das Konzept auf antike Denker wie Aristoteles zurückverfolgt werden kann, wurde es in der westlichen Welt erst während der Aufklärung bekannt. Ein gemeinsamer Faden, der durch dieses Konzept verläuft, ist, dass der Staat und seine Verwaltung an das Recht gebunden sind und nicht willkürlich handeln können. Es ist jedoch, auch wenn es sehr viel von theoretischen Denkern erforscht wurde, kein abstraktes Konzept und sollte auch nicht als solches wahrgenommen werden

Der souveräne Nationalstaat ist die Ebene, auf der die Rechtsstaatlichkeit auf konkrete Art und Weise realisiert wird. Somit ist es immer historisch, kulturell, politisch und philosophisch in ein nationales Erbe eingebettet. Es gibt kein ausschließliches, einheitliches Konzept von Rechtsstaatlichkeit, stattdessen gibt es Rechtsstaat, rule of law, Etat de droit und so weiter

Es wird immer auf eine konkrete Art und Weise von verschiedenen politischen Gemeinschaften und Staaten gelebt, die ihr eine besondere Form und Bedeutung verleihen. Wie es in einem bestimmten Land definiert wird, hängt enorm von den Details von dessen Sozial- und Rechtssystem, dessen Strukturen und Traditionen ab, genauso wie wir uns alle das Reale auf unterschiedliche Weise, abhängig von unserem einzigartigen Hintergrund, vorstellen. Ein Verfassungsgericht ist ein integraler Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit in einem bestimmten Land, während es Staaten gibt, die Rechtsstaatlichkeit ohne eine gesonderte Institution zur Überprüfung der Verfassung betrachten. Daher kann dieses Konzept auf verschiedene vernünftige, aber voneinander verschiedene Arten spezifiziert werden, die die freie Selbstbestimmung verschiedener Menschen in der Welt widerspiegeln. Des Weiteren entstehen bei diesem Prozess, bei dem dieses Konzept spezifiziert und auf bestimmte Art realisiert wird, einzigartige Rechtsinstitutionen, Bräuche und Rechtsstaatlichkeit und es erschafft letztendlich eine konstitutionelle Identität.

Können wir den Punkt bestimmen, ab dem ein Staat nicht durch Rechtsstaatlichkeit regiert wird, selbst wenn es Gesetze hat? Können Sie uns Beispiele von Ländern auf der Welt geben, die aktuell nicht als rechtsstaatlich gelten?

Hier würde ich den berühmten Gustav Radbruch zitieren: „wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur „unrichtiges“ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.”

Über das Konzept des Naturrechts hinaus wäre es jedoch, wie ich bereits dargelegt habe, falsch, souveräne Staaten und ihre politischen Gemeinschaften nach abstrakten und externen Konzepten der Rechtsstaatlichkeit zu beurteilen. Dies würde einen ideologischen Angriff auf dieses wertvolle Konzept bedeuten

Rechtsstaatlichkeit muss stattdessen durch die Nationalstaaten anerkannt werden und muss durch die politischen und moralischen Verpflichtungen ihrer jeweiligen politischen Gemeinschaften getrieben sein. Eine Verpflichtung zu einem abstrakten Ideal ist nicht adäquat: ein konkreter und konstanter innerer Kampf das Konzept zu verwirklichen ist notwendig, da niemand geringeres als Martin Luther King Jr. im Fall der Vereinigten Staaten darauf aufmerksam machte: „Ich habe einen Traum, dass sich diese Nation eines Tages erheben wird und die wahre Bedeutung seines Glaubensbekenntnisses leben wird.” Das lässt Raum für eine innerstaatliche demokratische Debatte, ohne die imperialistische Auferlegung bestimmter ideologischer Präferenzen zu akzeptieren.

Denken Sie, die Kritik der EU an Ungarns Rechtsstaatlichkeit ist absolut unbegründet?

Die Geschichte lehrt uns, dass eine Atmosphäre der Intoleranz, die versucht intellektuelle Debatten und pluralistische Anschauungen auszugrenzen, zu zensieren oder zu bestrafen nie gut ausging und zum Scheitern verurteilt ist. Verschiedene Länder sehen die europäische Integration aus verschiedenen Perspektiven. Aufgrund des Horrors der zwei Weltkriege sind westeuropäische Staaten unwillig, ihr Vertrauen in nationale Regierungen zu legen und stehen dem Konzept einer „immer engeren Union“ eher positiv gegenüber. Die Erfahrungen aus der Geschichte von mittel- und osteuropäischen Staaten sind jedoch ziemlich anders. Die Nationalstaaten dort waren die letzten Beschützer der mitteleuropäischen Völker vor einem totalitären Regime nach dem anderen. Daher wird das Erbe ihrer Nationalität und ihrer Souveränität, zusammen mit ihrer Rolle in der europäischen Integration anders wahrgenommen. Dies ist eine philosophische Debatte, die ihre Wurzeln in geschichtlichen Erfahrungen und einer anderen Vision für die Zukunft der europäischen Integration hat, welche mit der pluralistischen Tradition in der europäischen Politik im Einklang ist, aber nichts mit dem Konzept der Rechtsstaatlichkeit zu tun hat.

Unter der Fidesz-Regierung wurden frühere Fidesz Politiker oder Fidesz- und Viktor Orbán-treue Menschen ausgewählt, die meisten der unabhängigen Institutionen in Ungarn zu leiten, wie den Staatlichen Rechnungshof, die Staatsanwaltschaft oder die Medienaufsichtsbehörde. Denken Sie, dass die unabhängige Arbeit dieser Einrichtungen und das System der gegenseitigen Kontrolle unter diesen Umständen gewährleistet werden kann?

Die staatliche Ordnung und der institutionelle Rahmen Ungarns werden durch das Grundgesetz geregelt. Es legt die Kompetenzen jeder großen Einrichtung fest, sorgt für die Gewaltenteilung und garantiert die Unabhängigkeit der Justiz und des Verfassungsgerichts, während die Staatsanwaltschaft autonom handelt. Gemäß Artikel XVI der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (Declaration of the Rights of Man and of the Citizen) von 1789 kann ohne eine Bestimmung über die Gewaltenteilung keine Verfassung oder Konstitutionalismus existieren. Die Institutionen funktionieren und handeln innerhalb der ihnen von der Verfassung beschriebenen Kompetenzen. Selbst der kürzliche Ausnahmezustand, welcher das Verfassungssystem auf die Probe stellte, bewies dessen Funktionsfähigkeit.

Das System der gegenseitigen Kontrolle, auf das Sie sich beziehen, ist Teil der englischen konstitutionellen Tradition und wurde nie in kontinentaleuropäischen Ländern eingeführt. Obwohl es wahr ist, dass unter dem System der gegenseitigen Kontrolle die Regierung als zu schwächen wahrgenommen wird, ist es nicht schwer zu verstehen, dass diese Tradition für Länder umgeben von Meeren am besten geeignet ist

Mit seinen Ansichten ist Fidesz in der EVP in der Minderheit und Viktor Orbáns Versuch, die Parteienfamilie zu erneuern hat zu einer Spaltung geführt. Hat dies der Fähigkeit von Fidesz und der ungarischen Regierung, ihre Interessen in Europa durchzusetzen, nicht bedeutend geschadet?

Ganz im Gegenteil, ich bin sicher, dass es uns gestärkt hat, da wir keine Kompromisse eingehen müssen, wenn wir das vertreten, was wir für gerecht und moralisch richtig halten, um unser Erbe, die Interessen des ungarischen Volkes und die europäische Lebensweise zu schützen. Gleichzeitig beeinflusste die Entscheidung die ungarische Regierung nicht, im Europäischen Rat weiterhin dasselbe zu tun.

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Fidesz hat sich noch keiner Fraktion angeschlossen, während seine Abgeordneten unabhängig von einer europäischen Partei im EP arbeiten. Gleichzeitig scheint die Gründung einer neuen europäischen rechten Partei, organisiert mit der Mitwirkung von Viktor Orbán, immer näher zu rücken. Welche Parteien haben es bisher deutlich gemacht, sich dieser neuen Parteienfamilie anschließen zu wollen? Was denken Sie, wie groß wird Ihre Gruppe im Europäischen Parlament sein?

Da die Europäische Volkspartei sich immer mehr einer linksgerichteten Vision für Europa geöffnet hat und kontinuierlich näher an die Sozialdemokratischen Partei Europas rückt, wurden viele christdemokratischen Wähler in ganz Europa ohne wahre Repräsentation zurückgelassen

Dies lässt reichlich Spielraum für die Bildung eines Bündnisses, das sich für den Erhalt Europas als einer von uns geerbten Zivilisation und für die Entfaltung seiner Nationen in einem Zeitalter der globalen Mächte einsetzt.

Wann können wir die Ankündigung erwarten?

Das bleibt abzuwarten.

Werden so viele rechtsgerichtete Parteien trotz der Tatsache, dass sie sich oft in zentralen Fragen uneinig sind, zusammenarbeiten können?

Im Gegensatz zu den Progressiven sehen wir intellektuelle Debatten nicht als nachteilig für die Zusammenarbeit an. Im Gegenteil, wir sind der Meinung, dass sie für eine blühende Demokratie, die sich auf Gründe und Argumente stützt, die integraler Bestandteil der europäischen Zivilisation sind, unerlässlich ist.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die französische, dänische und ungarische rechte Seite Europa mit anderen Augen sieht. Daher unterscheiden sich die Prioritäten eventuell, aber wir alle erwarten, dass die europäische Integration unsere Nationen stärkt, ihre Wirtschaften wettbewerbsfähiger macht und ihnen global mehr Gewicht verleiht

Wir haben eine klare Vision und wir bringen unsere unterschiedlichen Ansichten durch Dialoge und Vernunft in Einklang, wie es die pluralistische Tradition der europäischen Integration erfordert. Darum geht es bei der Demokratie.

Viele Regierungspolitiker haben eine sehr schlechte Meinung über das Europäische Parlament. Parlamentspräsident László Kövér bezeichnete es als den größten Angriff auf die europäischen Demokratien, Gergely Gulyás, der für das Amt des Ministerpräsidenten zuständige Minister, nannte es eine schädliche, extremistische und sinnlose Organisation, und Viktor Orbán nannte es eine Sackgasse. Teilen Sie als Mitglied des Europäischen Parlaments die gleiche schlechte Meinung über das Europäische Parlament?

Auch wenn das Ziel, das Demokratiedefizit in der europäischen Integration zu verringern, lobenswert ist, ist das Europäische Parlament in seiner jetzigen Form leider weit davon entfernt, diese Erwartung zu erfüllen.

Das Europäische Parlament ist kein Verwahrer der europäischen Souveränität, denn es gibt weder eine solche Souveränität, noch existiert ein europäischer Demos. Die Europäische Union ist selbst keine Nation, da sie kein kollektives Identitätsgefühl entwickelt hat. Dennoch ist das Europäische Parlament nicht bereit, seine in den Gründungsverträgen festgelegten Zuständigkeiten zu beachten

Anstatt nationale und lokale Gemeinschaften zu repräsentieren, fokussiert es sich zunehmend auf ideologische Fragen und seine eigene institutionelle Ausweitung, während es zwischen Brüssel und Straßburg pendelt. Es unterdrückt zunehmend intellektuelle Meinungsverschiedenheiten und pluralistische Sichtweisen, die in der europäischen Kultur verankert sind. Dies hat zu tiefem Misstrauen gegenüber dieser Institution geführt, welches auch zu Brexit beigetragen hat.

Stimmen Sie zu, dass das Europäische Parlament in seiner aktuellen Form abgeschafft werden sollte? Sollten nationale Parlamente anstelle von Wahlen auf europäischer Ebene ihre Vertreter delegieren? Wieso würde es Ihrer Meinung nach dadurch demokratischer oder zumindest besser funktionieren?

Es ist eindeutig, dass das Europäische Parlament in seiner aktuellen Form nicht länger dazu in der Lage ist, die ihm übertragenen Aufgaben zu erfüllen. Deshalb bleibt das Demokratiedefizit des Entscheidungsprozess der Europäischen Union immer noch eine wichtige Herausforderung. Es gibt mehrere Optionen für eine mögliche Reform. Ein Modell der transnationalen Demokratie wäre nicht überlebensfähig, da sie die Pluralität der Sprachen, Kulturen, Traditionen und Geschichte der europäischen Nationen nicht reflektiert und dem Subsidiaritätsprinzip widerspricht. Wir sollten nach institutionellen Reformen suchen, die das Europäische Parlament den Menschen näherbringen und zu einem wahren Repräsentanten der Menschen machen, anstatt dass es entfernte Ideologien vertritt. Ein Weg dieses Ziel zu erreichen ist es, die Rolle der nationalen Parlamente beim Entscheidungsprozess der EU zu verstärken. Eine weitere Möglichkeit wäre die Einrichtung einzelner Wahlkreise für die Wahlen zum Europäischen Parlament. Insofern das Europäische Parlament keinen Weg findet, eine engere Verbindung zu den Bürgern und Gemeinschaften aufzubauen, die es vertreten sollte, riskiert es, sich weiter zu entfremden. Dies hat natürlich eine eindeutige Auswirkung auf die Zukunft der europäischen Integration. Wollen wir eine Integration, die ihren Nationen dient, die Interessen ihrer Bürger beachtet und gleichzeitig von den Menschen geliebt wird? Oder wollen wir eine Integration, die keinen Bezug zu ihren Nationen hat, ständig versucht, ihre Bürger zu indoktrinieren und unfähig ist, auf globale Herausforderungen zu reagieren? Das ist der Scheideweg, an dem wir uns nun befinden.

Neben Ungarn ist Polen das andere Land, welches die meisten Streitigkeiten mit der Europäischen Kommission bezüglich der Rechtsstaatlichkeit hat. Dies heizte sich nach einem Beschluss von Polens Verfassungsgericht noch mehr auf, welches aussagt, dass polnisches Recht Vorrang vor EU-Recht haben kann. Wenn Länder den Grundsatz der rechtlichen Vorrangstellung der EU in Frage stellen, könnte das nicht zum Zerfall der gesamten Union führen?

Die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts erklärte nicht, dass das nationale Recht über dem EU-Recht steht, sondern bestätigte den Vorrang der polnischen Verfassung in den Bereichen, in denen die EU keine ausschließliche Zuständigkeit hat. Darüber hinaus ist diese Entscheidung Teil einer langen Reihe von Fällen in verschiedenen Mitgliedstaaten, die eine Reaktion auf die Auffassung darstellen, dass die EU-Institutionen den in den Gründungsverträgen verankerten Grundsatz der Delegation nicht respektieren. Wir sollten nicht vergessen, dass die nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten die Existenz der Europäischen Union und die Anwendung und den Vorrang des europäischen Rechts in den Bereichen, in denen die EU Zuständigkeiten hat, zulassen.

Eine entscheidende Rolle der Verfassungsgerichte oder anderer hoher Gerichte der Mitgliedstaaten besteht jedoch darin, dass sie die Hüter ihrer nationalen Verfassungen sind, eine verfassungsmäßige Identität und Souveränität besitzen und daher das Recht und die Pflicht haben, zu prüfen, ob die EU-Institutionen die in den Gründungsverträgen festgelegten Zuständigkeiten einhalten. Dieser justizielle Dialog ist ein Grundpfeiler der EU-Rechtsordnung und meines Erachtens auch eine Voraussetzung für ihren Anwendungsvorrang

Die Situation ist also das Gegenteil von dem, was Sie in Ihrer Frage suggerieren: Ohne diesen justiziellen Dialog würde es die EU nicht geben.

EuGH-Vorschlag: "Auszahlung von EU-Mitteln kann an rechtsstaatliche Bedingungen gebunden werden"
EuGH-Vorschlag:

Zuvor haben sich Ungarn und Polen an den EU-Gerichtshof gewandt, um die Rechtswidrigkeit festzustellen.Weiterlesen

Wo denken Sie, ist es legitimiert, den Gemeinschaftsbeschlüssen Vorrang zu geben und was sollte definitiv nationale Kompetenz sein? Ist es immer klar definiert? Ein Gesetz betrifft ja meistens mehrere Bereiche.

Das EU-Recht hat in allen Bereichen, in denen die EU aufgrund der von den Mitgliedstaaten ratifizierten Gründungsverträge zuständig ist, Vorrang bei der Anwendung. Der institutionalisierte justizielle Dialog zwischen dem Gerichtshof der Europäischen Union und den Verfassungsgerichten und Obersten Gerichtshöfen der Mitgliedstaaten dient als Mittel zur Lösung von Konflikten in diesem Bereich.

Eine einjährige Serie an Konferenzen über die Zukunft der Europäischen Union wurde kürzlich gestartet, zum Teil, um die EU den Menschen näher zu bringen, was ein wiederkehrendes Ziel ist. Ist das Problem nicht eher, dass es den Bürgern der Mitgliedsstaaten an europäischer Identität fehlt, dem Gefühl, Teil der europäischen Gemeinschaft zu sein?

Meiner Meinung nach ist das nicht das Problem, es ist die Herausforderung zu verstehen, dass eine blühende europäische Kooperation gebaut und gepflegt werden muss. Die Mitgliedsstaaten strebten nie danach, ein europäisches Volk mit einer eigenen europäischen Identität zu schaffen. Unsere europäische Identität ist zwangsläufig ein integraler Bestandteil unserer nationalen Identität. Es existiert neben und nicht über oder anstatt unserer nationalen Identitäten. Es ergänzt sie, kann sie aber nicht ersetzen.

Brexit ist ein deutliches Beispiel dessen, was passiert, wenn die europäische Identität mit der nationalen Identität kollidiert. Nationale Identität ist so stark und so emotional, dass es mythische Vorstellung davon schafft, wie Menschen in einer Nation miteinander verbunden sind und eine kollektive politische Identität schmieden, die aus gemeinsamen geschichtlichen Erinnerungen stammt, die die Menschen durchgemacht haben

In einem Wettbewerb zwischen nationaler und europäischer Identität hat letztere keine Chance. Also ist die wichtigste Herausforderung zu verstehen, dass eine erfolgreiche europäische Kooperation auf den existierenden europäischen Nationen gebaut werden muss, anstatt dem nicht existenten europäischen Demos. Europa hat keine andere Wahl, als die nationalen Geschichten miteinzubeziehen, aber dies ist umgekehrt nicht unbedingt wahr.

Wie würden Sie Europäismus beschreiben? Was verbindet einen Ungarn, einen Italiener, einen Niederländer oder einen Rumänen auf eine Art und Weise, die für den Durchschnittsbürger verständlich ist?

Wir sollten nicht vergessen, dass die Europäische Union nicht einfach ein interner Markt ist oder eine internationale Organisation. Sie wurde auf eine Zivilisation gegründet, die jede europäische Nation verbindet, unabhängig davon, ob sie ein Mitgliedsstaat der Europäischen Union ist. Die Quelle ihrer Stärke ist die kulturelle und geschichtliche Vielfalt: man kann im Land von Montaigne aufwachen, über eine Brücke spazieren und in ein paar Minuten im Land von Goethe sein. Die Europäische Union entspringt dem Glück der Italiener, der Disziplin der Deutschen, dem Heldentum und der Aufopferung der Polen oder dem Erfindungsreichtum der Ungarn. Wir sollten uns vor Augen halten, dass Europa in der Geschichte und im Geist der europäischen Völker, in den Städten, auf dem Land und in den Dörfern Europas zu finden ist. Aber so divers Europa auch ist, es hat seine gemeinsamen Wurzeln im griechisch-lateinischen Erbe mit jüdischen und christlichen Traditionen. Dies bindet diese diversen nationalen Kulturen und pluralistischen Traditionen zusammen und öffnete einen europäischen Raum für wechselseitigen Dialog, der dann eine außergewöhnliche Zivilisation mit einer einzigartigen europäischen Lebensweise hervorbrachte, die es wert ist, geschätzt und geschützt zu werden. Die Dinge, die sich aus dieser Zivilisation ergeben, wie das Christentum, die Familie, die Nation und die Freiheit, machen das Leben für uns lebenswert.

Was für eine Zukunft, denken Sie, ist für die Europäische Union wünschenswert?

Die Europäische Union wird nur dann eine Zukunft haben, wenn sie es versteht, die geistigen und spirituellen Wurzeln der europäischen Zivilisation sowie die Vielfalt der Kulturen, die Europa geerbt hat, zu erkennen, zu benennen und weiterzugeben.

Europa ist unsere Wiege, die uns Heimat gibt, es ist unsere Schule und unser Tempel, der unsere Kultur bereichert und uns Glauben gibt. Jede Form der europäischen Zusammenarbeit kann nur überleben und erfolgreich sein, wenn sie bereit ist, diese Vision anzunehmen und sich ihr zu stellen. Das ist der Grund, warum ein starkes Europa ohne blühende europäische Nationen nicht existieren kann. Die europäische Integration ist weder eine Ideologie noch ein Endziel an sich. Sie bringt ihren Bürgern zwar viele Vorteile, aber am Anfang und am Ende stehen die Mitgliedstaaten, die auch weiterhin die „Herren der Zusammenarbeit“ sein werden. Die Zukunft der europäischen Integration hängt nicht von der Idee ab, ob wir mehr oder weniger Europa haben sollten. Die Mitgliedstaaten und ihre Bürger sind viel mehr an den Vorteilen interessiert, die der Beitritt zur EU für ihre Sicherheit, ihren wirtschaftlichen Wohlstand, ihre Wettbewerbsfähigkeit und ihr tägliches Leben mit sich bringt.

Die entscheidende Frage von heute lautet: In welchen Bereichen und mit welchen Kompetenzen kann die europäische Integration einen Mehrwert für ihre Mitgliedstaaten erbringen? Es ist die Europäische Union, die begründen muss, in welchen Bereichen sie die Fähigkeiten der europäischen Nationen stärken und somit das Gleichgewicht zwischen Zentralisierung und Subsidiarität anpassen kann

Diese Grundkonzeption würde dann die Voraussetzungen für ein intelligentes Europa schaffen, das den Interessen seiner Mitgliedstaaten am besten dient.

Sie haben es nicht geschafft, die Europäische Volkspartei von innen heraus zu verändern, wonach Fidesz austrat. Was wird passieren, wenn es die Europäische Union ebenfalls nicht schafft, in die Richtung zu gehen, die Sie wollen? Der Austritt?

Ganz im Gegenteil: Ich denke Viktor Orbán hat es richtig gesagt: „Vor dreißig Jahren dachten wir, Europa sei unsere Zukunft. Nun wissen wir, dass wir die Zukunft für Europa sind.“ Wenn Europa jedoch beschließt, ihrer eigenen Zivilisation und der Pluralität ihrer Kulturen und Sprachen und Lebensweise den Rücken zuzuwenden und gleichzeitig die Tür für Philosophien und Systeme offen lässt, in denen es nicht die Regeln bestimmt, bleibt der Kontinent zwar geografisch erhalten, aber seine Seele geht für immer verloren.

(geschrieben von Péter Cseresnyés – Hungary Today, übersetzt von Eszter Grifatong, Fotos: Pressebüro von László Trócsányi)