Am 1. August wird in der Galerie Platán in der Andrássy-Allee eine Ausstellung mit Warschauer Fotografien von Tadeusz Bukowski aus den Jahren 1935 bis 1955 eröffnetWeiterlesen
Das Durchwühlen staubiger Dachböden der Großeltern gehört für die meisten Menschen zu den bleibenden Erinnerungen aus der Kindheit. Vergilbte Fotos werden in Augenschein genommen, man versucht bekannte Gesichtszüge zu entdecken und verschwommene Kritzeleien zu entziffern. Längst Verstorbene schauen uns in jugendlicher Frische entgegen, noch Lebende tollen in kindlicher Unbekümmertheit herum. Etwas Ähnliches widerfährt einer nationalen Gemeinschaft, wenn ihr kollektives Gedächtnis von Flaschenpost aus der Vergangenheit herausgefordert wird: Man meint Vertrautes zu erkennen, Gesichter und Hintergründe, die man so oder ähnlich schon dutzendfach gesehen haben muss und doch: Es ist etwas da, was bei aller Vertrautheit der Umstände ungewöhnlich neu ist.
So auch bei den zufällig in einem schottischen Schuppen entdeckten Fotos, die in den ersten Novembertagen des Ungarn-Aufstands von 1956 entstanden sind. Durch eine glückliche Fügung sind diese Zeitdokumente gerettet und Fortepan übergeben worden.
Peter Isaac, der 24-jährige Fotograf des „The Guardian“ schoss sie damals in Budapest und an der ungarisch-österreichischen Grenze. Die Negative mussten auf abenteuerlichen Wegen außer Landes geschmuggelt werden, wurden aber doch nie veröffentlicht. Diese Fotos sind die einzigen, die mehrere Umzüge und den Tod des Fotografen überdauert haben.
Ein November 1956, wie wir ihn so nie gesehen haben, trotz der vielen wiedererkennbaren Motive, die uns das Einordnen der Fotos erleichtern. Bewaffnete Zivilisten, die dem Betrachter Leichtigkeit vorgaukeln. Die allgegenwärtige Munitionskiste, umfunktioniert zur Spendenbüchse, Symbol der moralischen Reinheit der Revolution. Chaotische Straßenszenen, mit Passanten, die versuchen Alltagsverrichtungen und revolutionäre Aufwallung unter einen Hut zu bringen. Improvisierte Suppenküchen, wo blutjunge Frauen ihre altersbedingte Koketterie vergessen und die Ärmel hochkrempeln. Stoisch Wartende vor den Lebensmittelgeschäften. Die sichtbaren Wunden der Hauptstadt und die unsichtbaren der Stadtbewohner. Scherzende Trümmerfrauen, die sich nicht kaputt machen lassen. Der deftige Humor der politischen Folklore, die Stalin bildhaft zu Grabe trägt. Die Leichen des Aufstands, notdürftig mit Blumen bedeckt. Der mühsame Übergang in die Freiheit, auf der österreichischen Seite des grünen Streifens. Der erschöpfte Blick zurück und die Sorge um die Gebliebenen. Die selbstsichere Pose des Jungen neben der zerstörten Telefonzelle: Kein Teilnehmer unter dieser Nummer, Jahrzehnte lang, bis zum „annus mirabilis“ 1989.
Aus Peter Isaac wurde kein wirklich bekannter Fotoreporter, wenige Jahre nach dem Ungarn-Aufstand hängte er den Journalismus an den Nagel und versuchte einfach Geld zu verdienen. Für den im Jahre 2000 Verstorbenen blieben die in Ungarn eingefangenen Augenblicke zeitlebens sehr wichtig. Den Großteil seiner Fotos ließ er anlässlich eines Umzugs entsorgen. Dass die jetzt von Fortepan veröffentlichten Aufnahmen der Zeit getrotzt haben, darf als Glücksfall für das Langzeitgedächtnis der Nation bezeichnet werden.
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