Das Paneuropäische Picknick gilt als ein wesentlicher Meilenstein der Vorgänge, die zum Ende der DDR und zur deutschen Wiedervereinigung führten. Weiterlesen
Vor fünfunddreißig Jahren, am 10. September 1989, beschloss die ungarische Regierung, die Grenze für DDR-Bürger zu öffnen und ihnen die Ausreise nach Österreich mit ihren DDR-Pässen zu ermöglichen, wie Magyar Nemzet schreibt. Innerhalb von zehn Tagen verließen mehr als sechzehntausend Flüchtlinge das Land. Als zwei Monate später die Berliner Mauer fiel, hatten weitere 50.000 Ostdeutsche die ungarisch-österreichische Grenze überquert.
Die Folgen des Zweiten Weltkrieges traf die Deutsche Demokratische Republik (DDR) besonders hart. In den 1950er Jahren leistete die DDR Reparationszahlungen an die Sowjetunion, hauptsächlich in Form von landwirtschaftlichen und industriellen Erzeugnissen. Erzwungene Produktionsmechanismen und schlechte Wirtschaftspolitik machte die ostdeutsche Wirtschaft mit der Zeit stark abhängig von ausländischen, auch westdeutschen, Krediten. 1989 stand die DDR vor dem totalen finanziellen Zusammenbruch.
Auf der Flucht vor dem erdrückenden politischen Regime suchten DDR-Bürger ab Mai häufig die deutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau auf, um den Flüchtlingsstatus zu beantragen.
Damals wurde die DDR-Bevölkerung vom Westfernsehen darüber informiert, dass Ungarn den Eisernen Vorhang teilweise abgebaut hatte. Sie sahen, wie ungarische Soldaten am 2. Mai 1989 begannen, den Draht aufzurollen, und am 27. Juni sahen sie, wie die Außenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock und Gyula Horn, den Draht in einer symbolischen Geste durchschnitten.
Historikern zufolge war man sich in Budapest von Anfang an einig: Die ungarische Regierung würde niemanden gegen seinen Willen an die DDR ausliefern.
Gleichzeitig musste die Regierung von Miklós Németh ihre Verpflichtungen gegenüber den Staaten des Warschauer Paktes berücksichtigen. Ungarn hatte seit 1969 einen Vertrag mit der DDR, der die ungarische Seite verpflichtete, ostdeutsche Staatsbürger an Reisen in Drittländer zu hindern. In dieser Situation fand am 19. August das Paneuropäische Picknick statt, das den Prozess der Lösungsfindung beschleunigte. In jenem Jahr 1989 wurde Otto Habsburg, Präsident der Paneuropa-Union, von einem Vorsitzenden des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF) auf die Idee gebracht, ein Treffen im Geiste der Paneuropa-Union zu veranstalten.
Otto Habsburg, der gebeten wurde, die Rolle des Schirmherrn zu übernehmen, nahm diese Aufgabe an. Später gelang es den Organisatoren, den Staatssekretär Imre Pozsgay als zweiten Schirmherrn zu gewinnen. Das außergewöhnliche Ereignis, das die Veranstaltung berühmt machte, war zweifellos die Tatsache, dass am 19. August, wenige Minuten vor 15 Uhr – als das Tor des provisorischen Grenzübergangs geöffnet werden sollte – eine Gruppe von etwa 150 DDR-Bürgern im Laufschritt erschien und das Tor auf österreichisches Gebiet durchbrach.
Das paneuropäische Picknick wirkte als Katalysator, ebenso wie die darauf folgenden außenpolitischen Komplikationen, denn die Ostdeutschen, die sich in Ungarn aufhielten, wollten unbedingt in die BRD gelangen. Es war mehr als ein Glücksfall, dass nach dem Picknick weder Moskau noch die Oberbefehlshaber der sowjetischen Besatzungstruppen auf das Ereignis reagierten.
Laut Protokoll des Ministerrats von 1989 sprach sich Außenminister Gyula Horn auf der Kabinettssitzung am 17. August noch gegen die Öffnung der Grenze aus, doch nach dem Picknick am Wochenende vom 19. und 20. August unterstützte auch er die Öffnung der Grenze.
Am 22. August fasste ein enger Kreis von Ministern in Budapest einen Grundsatzbeschluss: Ungarn würde die Grenze für Flüchtlinge öffnen.
Am Sonntagabend, 10. September, verkündete Horn in der Fernsehsendung „A Hét“: „DDR-Bürger, die sich in Ungarn aufhalten, können mit ihrem eigenen Reisedokument, also einem DDR-Reisepass, in das Land ausreisen, das sie aufnimmt. Dies wird ab null Uhr möglich sein.“
Um Mitternacht hatten bereits Tausende von DDR-Bürgern Ungarn über den Grenzübergang Hegyeshalom verlassen. Auch auf internationaler Ebene wurde der Prozess eingeleitet. Am 30. September 1989 durften auch DDR-Bürger, die die deutsche Botschaft in Warschau betreten hatten, in den Westen ausreisen, und am 1. Oktober durften DDR-Bürger, die die westdeutsche Vertretung in Prag betreten hatten, über die DDR ausreisen. Für sie schickte die DDR einen Zug nach Prag, der die Ausreisewilligen über Dresden und Leipzig in die BRD brachte. Tausende von DDR-Bürgern versuchten, in Dresden in den Zug einzusteigen, wurden aber von den Sicherheitskräften daran gehindert, und es kam zu schweren Ausschreitungen rund um den Dresdner Bahnhof.
Am 7. Oktober besuchte der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow anlässlich des 40. Geburtstags der DDR Berlin, wobei sein offener Wagen von einer großen Menschenmenge auf der Straße eskortiert wurde. Gorbatschow, beflügelt von der Begeisterung der Menge, legte seine vorbereitete Rede beiseite und forderte in einer Stegreifrede die politische Führung auf, die notwendigen Reformschritte zu unternehmen.
Am 9. Oktober 1989 demonstrierten 70.000 Menschen in Leipzig für Reformen und am 18. Oktober trat Erich Honecker von allen seinen Ämtern zurück. Egon Krenz wurde zum neuen Staatsoberhaupt der DDR ernannt. Am 4. November demonstrierten eine Million Menschen in Ost-Berlin für Reisefreiheit und eine Reform des DDR-Systems. Am 9. November beschließt die DDR-Parteiführung Reiseerleichterungen. Die Entscheidung wird am Abend in einer Live-Pressekonferenz von Günter Schabowski bekannt gegeben.
Tausende von DDR-Bürgern, die vor ihren Fernsehgeräten sitzen, machen sich auf den Weg zu den Grenzübergängen in Berlin, wo die Menschenmassen innerhalb einer Stunde auf eine riesige Zahl anschwellen. Der Druck wurde so groß, dass um 23.00 Uhr an diesem Tag die Passkontrollen am Grenzübergang Bornholmer Straße aufgehoben, die Schranken geöffnet und die Menschenmassen durchgelassen wurden.
Ungarn, die Deutschen und die Grenze – diese Konstellation wiederholte sich ab 2015 unter ganz anderen Bedingungen“,
schreibt das Onlinemagazin Tichys Einblick. Im September 1989 warf die SED-Führung Ungarn mit seinen Reformen Verrat am Sozialismus vor. Im Jahr 2015, als die Regierung unter Viktor Orbán die Grenzen geschlossen hat und so der Migrantenstrom in den Westen aufgehalten wurde, kam aus Berlin der Vorwurf: Verrat an EU-Europa.
Anlässlich des 35. Jahrestages der Grenzöffnung organisierte das Deutsch-Ungarische Institut für Europäische Zusammenarbeit gemeinsam mit der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland und der Botschaft von Ungarn in Berlin eine Veranstaltung mit dem Titel In Ungarn begann die Freiheit.
Gerhard Papke, ehemals Fraktionschef der FDP in Nordrhein-Westfahlen und Präsident der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft stellte bei seiner Eröffnungsrede fest, dass Ungarn mit der Grenzöffnung Menschenleben gerettet habe, denn die jungen DDR-Bürger wären „an der Mauer erschossen worden“, hätten sie nicht über die Grenze nach Österreich fliehen können.
Wie das Onlinemagazin Tichys Einblick feststellen musste, wurde die Veranstaltung von einem großen Teil der deutschen Medien als auch von der Politik ignoriert. Von der Berliner Presse waren nur Vertreter von Tichys Einblick, der NZZ, Berliner Zeitung und der Jungen Freiheit erschienen. Auch das Adenauer-Haus schickte keinen Vertreter, sowie auch von den Regierungsparteien keine Person anwesend war.
Dabei gehörte der Sommer in Freiheit in Ungarn vor 35 Jahren zur Geschichte der Deutschen Einheit. Und zu den Schlüsselfiguren der Ereignisse zählten ein Unionspolitiker – der schon erwähnte Otto von Habsburg, Mitglied der CSU“,
so der Artikel und schlussfolgert daraus, dass „das historische Ereignis von damals heute wohl nicht mehr ins offizielle deutsche Konzept zu passen scheint.“
Bence Bauer, Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium, hob in seiner Rede während der Veranstaltung hervor, dass ein „offener Dialog“ wichtig sei und nicht auf Vorurteilen beruhen dürfe, wie die Berliner Zeitung schreibt. „Ungarn ist anders, so wie Deutschland anders ist“, sagte der Direktor und fügte hinzu, dass trotz vieler Stimmen, die Deutschland und Ungarn auseinandergehen sehen, das Gegenteil der Fall sei.
Wenn selbst 40 Jahre hinter dem Eisernen Vorhang, den die stählerne Faust des Kommunismus durch Europa zog, keinen Keil zwischen unsere Völker treiben konnten, so bin ich der festen Überzeugung, dass diese Freundschaft auch kleineren tagespolitischen Disparitäten standhalten wird“,
so Bence Bauer abschließend.
via magyarnemzet.hu, tichyseinblick.de, berliner-zeitung.de, Beitragsbild: wikipedia