Linksliberale Wochenzeitungen äußern sich empört über eine Stellungnahme von Ministerpräsident Viktor Orbán, wonach „etwas gegen ein Gerichtsurteil unternommen werden sollte“, das den Gemeinderat von Gyöngyöspata zu Entschädigungszahlungen an Roma-Familien zwingt. Deren Kinder hatten zwischen 2004 und 2012 getrennte Klassen besuchen müssen. Konservative Kommentatoren argwöhnen, dass das Urteil mehr Schaden anrichten als nutzen werde.
In ihrem Wochenleitartikel weist Magyar Narancs die Darstellung des Regierungschefs zurück, wonach das Urteil den Gerechtigkeitssinn der ortsansässigen Bevölkerung verletze. Die Verfasser des Editorials verweisen darauf, dass das Gerichtsurteil bereits im September 2019 gefällt worden und bei den Regierenden seinerzeit nicht sauer aufgestoßen sei. Die liberale Wochenzeitung charakterisiert die Erklärung Orbáns daher als Teil eines bewussten politischen Manövers, das darauf abziele, antiziganistische Wähler an sich zu binden – Wähler also, die nach dem in den vergangenen fünf Jahren vollzogenen Schwenk der Rechtspartei Jobbik Richtung Mitte heimatlos geworden seien. Tatsächlich hätten 2011 in Gyöngyöspata Jobbik samt ihrer paramilitärischen Verbündeten ethnisch motivierte Spannungen geschürt. Da das Urteil vom Obersten Gerichtshof (Kurie) noch überprüft wird, wirft Magyar Narancs Orbán zudem vor, sich in ein noch nicht rechtskräftig abgeschlossenes juristisches Verfahren eingemischt zu haben.
In seinem für Élet és Irodalom verfassten Leitartikel macht István Váncsa darauf aufmerksam, dass der Rückgriff auf die Roma-Problematik im Rahmen parteipolitischer Propaganda massiv nach hinten losgehen könnte, denn der Anteil von Zigeunern an der Gesamtbevölkerung nehme zu und damit könnte aus der aktuellen Minderheit eines Tages die Mehrheit in Ungarn erwachsen. Eine Verschärfung der Spannungen zwischen Zigeunern und Nicht-Zigeunern, so der liberale Autor, könnte künftig selbstmörderische Wirkungen zeitigen. Váncsa wirft der Regierung nicht vor, allein für die Blockade der Integration der ungarischen Zigeuner in die Mehrheitsgesellschaft verantwortlich zu sein. Im Gegenteil, lobenswerte Reformen der österreichischen Kaiser seien bereits Anfang des 19. Jahrhunderts gescheitert. Inzwischen präsentiere sich das Roma-Problem in anderen Ländern der Region, darunter Tschechien, Rumänien, Serbien, der Slowakei und Bulgarien, teilweise sogar noch gravierender als in Ungarn. Und eine Besserung sei nicht absehbar.
Der sozialistische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány habe etwa zeitgleich mit dem Beginn der Segregation in Gyöngyöspata ein Programm namens „Jahrzehnt der Roma-Integration“ ins Leben gerufen, erinnert Sándor Szilágyi in Hetek. Dabei seien Hunderte von Milliarden Forint ausgegeben, aber keine greifbaren Ergebnisse erzielt worden. Auch Bemühungen zur Durchsetzung eines integrierten Unterrichts hätten keine positiven Ergebnisse gebracht, zumindest nicht in Schulen mit einem hohen Anteil an unterprivilegierten Roma-Kindern, erinnert Szilágyi. Derlei Bestrebungen hätten nur zu wachsenden Spannungen innerhalb der Schulen und der Allgemeinheit insgesamt geführt. Wächter-Organisationen würden Schulen verurteilen und verklagen, die Roma-Kinder segregierten, hingegen niemals gegen Schulen protestieren, die von Roma-Verbänden für ethnische Minderheiten eingerichtet worden seien, notiert der Autor und gibt zu bedenken, dass die Segregation nicht die Ursache, sondern das Ergebnis der unterprivilegierten Position von Roma-Familien sei. Daher werde die Integration der Roma und ihre Stellung auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt nicht verbessert, wenn man sich allein auf dieses Problem fokussiere, so Szilágyi.
In einer Reportage aus Gyöngyöspata lässt István Joó den Vorsitzenden des Elternbeirats an der örtlichen Schule mit der Versicherung zu Wort kommen: „Die Schüler sind nicht nach Rassen getrennt worden.“ Zumindest habe es in den mehrheitlich von Zigeunern besuchten Klassen auch Nicht-Zigeuner gegeben, erklärt der Elternvertreter, der selbst kein Roma ist, gegenüber dem Mandiner-Redakteur. Mit Blick auf die Kritik, Zigeunerkinder dürften nicht am Schwimmunterricht teilnehmen, bekräftigt er, dass niemand aus rassischen Gründen abgewiesen worden sei. Das Problem bestehe vielmehr darin, dass für den Besuch des Schwimmbades Badeanzüge erforderlich seien. In dieser Gemeinde mit ihren insgesamt knapp 3.000 Einwohnern lebten gut 400 Roma, aber fast 90 Prozent der Schüler der örtlichen Schule seien Roma, rechnet Joó vor. Der Grund: Mehr und mehr Nicht-Roma-Eltern hätten ihre Kinder in Schulen an anderen Orten angemeldet, um ihnen die Konflikte in der Schule von Gyöngyöspata und um sie herum zu ersparen.